11.04.2019

Wer entscheidet in Algerien?

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Wer entscheidet in Algerien?

Nach wochenlangen Protesten haben die Demonstranten in Algerien ihr erstes Ziel erreicht. Doch nach dem Rücktritt von Präsident Abdelaziz Bouteflika befürchten nun viele Algerier, dass Armee und Geheimdienste die Macht unter sich aufteilen.

von Akram Belkaïd und Lakhdar Benchiba

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Seit dem 22. Februar kommt es in Algerien immer wieder zu großen Demonstrationen gegen das Regime. Die Proteste sind von historischem Ausmaß: Seit der Unabhängigkeit von Frankreich 1962 hat das Land keine solche Bewegung mehr erlebt. Die Demonstrationen sind friedlich, und sie erstrecken sich über das ganze Land inklusive der Städte im Süden.

Jeden Freitag, am ersten Tag des algerischen Wochenendes, gehen Hunderttausende auf die Straße. Unter den Demonstranten sind alle Altersstufen vertreten, aber vor allem die Jugend ist aktiv, die sich bis jetzt nicht besonders für Politik interessiert hat. Auch an den restlichen Tagen reißen die Aktionen nicht ab, es gibt Sit-ins und Protestmärsche von einzelnen Berufsständen (zum Beispiel Anwälten, Hochschullehrern oder Jour­na­lis­ten) und Pen­sio­nä­ren.

Ihre vordringlichste gemeinsame Forderung – ein Ende der Herrschaft des schwer kranken 82-jährigen Präsidenten Abdelaziz Bouteflika – haben sie durchgesetzt: Am späten Abend des 2. April überreichte Bouteflika dem Präsidenten des algerischen Verfassungsrats seine Rücktrittserklärung.

Aber die Demonstranten, die mit dem Ruf „Silmiya!“ („Friedlich!“) durch die Straßen ziehen, protestieren auch gegen die Entourage des Präsidenten, vor allem seine beiden Brüder Said und Nacer Bouteflika. Sie fordern das Ende des Regimes und die Gründung einer zweiten Republik; manche wollen eine verfassunggebende Versammlung. Die Ordnungskräfte haben sich in den ersten Wochen der Proteste weitgehend zurückgehalten; einige Polizisten und Gendarmen haben sich sogar mit den Demonstrierenden solidarisiert.

Nach seiner Rückkehr aus der Schweiz, wohin Bouteflika Anfang Februar zu einem „regelmäßigen Gesundheitscheck“ gereist war, hatte sich der Ex-Präsident in mehreren Briefen an die Algerier gewandt. Darin teilte er mit, er strebe keine fünfte Amtszeit mehr an, und sagte die für den 18. April geplante Präsidentschaftswahl ab.

Hunderttausende gehen jeden Freitag auf die Straße

Angesichts des schlechten Gesundheitszustands Bouteflikas fragen sich die Algerier allerdings schon seit Längerem, wer hinter den Kulissen für ihn entscheidet. Wer schrieb seine Briefe an das Volk? Wer ernennt oder entlässt den Premierminister? Und wer hat Bouteflika dazu gedrängt, nun doch seinen Hut zu nehmen?

Es geht dabei um die Identität derjenigen, die man in Algerien als „die Entscheider“ bezeichnet (les décideurs). Der Begriff wurde zum ersten Mal von Muhammad Boudiaf, dem legendäre Mitbegründer der Nationalen Befreiungsfront (FLN), gebraucht, als er im Januar 1992 aus dem Exil zurückkehrte. Damals durchlebte Algerien eine schwere politische Krise. Präsident Chadli Bendjedid war von der Armee zum Rücktritt gezwungen worden, und der Hohe Sicherheitsrat (HCS) hatte die zweite Runde der Parlamentswahlen abgesagt, um einen Sieg der Islamischen Heilsfront (FIS) zu verhindern, die den ersten Durchgang gewonnen hatte.1

„Ich habe mit den décideurs gesprochen und mich entschieden, dem Ruf Algeriens zu folgen“, verkündete Boudiaf damals und rechtfertigte damit seine Ernennung zum Vorsitzenden des Hohen Staatsrats (HCE) – einer Übergangsinstitution, die das konsti­tu­tio­nelle Vakuum nach der Abdankung Benjedids füllen sollte.

Boudiaf, der nur knapp sechs Monate später von einem seiner Leibwächter ermordet wurde, hütete sich allerdings, die „Entscheider“ beim Namen zu nennen. Mit ihm hatte man sich ­einen langjährigen Oppositionellen ins Boot geholt, der das Regime stets geschmäht hatte2 und ihm nun historische Legitimation verleihen sollte.

Die Algerier waren schon damals überzeugt, dass Boudiaf und der HCE nur als Fassade dienen sollten. Im April 1992 gab Boudiaf gegenüber Journalisten zu, dass er „nicht alle Entscheider“ kenne. Später fielen oft die Namen der Generäle Larbi Belkheir, Khaled Nezzar, Mohamed Mediène – genannt „Tou­fik“ – und Mohamed Lamari. Aber bis heute weiß niemand ganz genau, wie und mit welchen internen Absprachen die „Jan­vie­ris­tes“3 seinerzeit entschieden, den „Alge­rischen Frühling“ zu beenden, den demokratischen Übergangs­prozess also,

der nach den blutigen Unruhen vom Oktober 1988 begonnen hatte.

Damals hatte das Regime auf hunderte junge Demonstranten schießen lassen – Schätzungen gehen von etwa 600 Toten aus –, setzte in der Folge jedoch einige Reformen in Gang, darunter die Einführung eines Mehrparteiensystems und die Liberalisierung der Presse.

Das Wesen der aktuellen Proteste unterscheidet sich zwar von den Unruhen Ende der 1980er Jahre, aber auch in der aktuellen Krise geht es um die Undurchsichtigkeit „der Macht“. „Wer sind die Strippenzieher, die Boute­flika tanzen lassen?“, stand auf einem Spruchband der Demonstration in Algier am 15. März. „Warum verstecken sich die Entscheider?“, war auf einem anderen zu lesen. Diese Fragen sind nicht neu. Um sie zu beantworten, muss man nachverfolgen, wie Präsident Boute­flika im Verlauf seiner vier Amtszeiten (1999–2019) seine persönliche Macht innerhalb des Regimes immer weiter ausgebaut hat.

1965 stürzte Houari Boumediene, der den Großteil der Macht auf sich und seine Gefolgsleute im Revolutionsrat (Conseil de la Revolution) vereinigt hatte, den ersten Staatspräsidenten Ben Bella und fungierte dann selbst bis 1978 als Präsident. Unter Chadli Benjedid (1979–1992) entwickelten sich innerhalb des Regimes drei Macht­zen­tren: der Generalstab der Nationalen Volksarmee (ANP), die Geheimdienste – darunter der Militärgeheimdienst (SM) – und der Präsident mit seinen Sicherheits- und Wirtschaftsberatern.

Bei Entscheidungen in sensiblen Bereichen übermittelten alle drei Lager ihre jeweiligen Einschätzungen und Empfehlungen. Dabei rivalisierten sie untereinander, allerdings stets in dem Bewusstsein, dass die Stabilität des Regimes oberste Priorität hätte.

Die verbreitete Vorstellung, die Einheitspartei FLN habe Algerien seit der Unabhängigkeit geführt, ist falsch. Zusammen mit der Armee konnte die Partei sich zwar auf ihre im Unabhängigkeitskampf erlangte historische Legitimität stützen, doch sie stellte kein viertes Machtzentrum dar: Die FLN-Kader hatten kaum Einfluss auf die Geheimdienste oder den Generalstab, und das Politbüro der FLN wurde vom Präsidentenbüro kontrolliert.

Vor der ersten Wahl Bouteflikas 1999 hatten die Armee und die Geheimdienste schon seit langer Zeit die Oberhand über die Präsidentschaft gewonnen. 1992 hatten sie Präsident Benjedid entfernt und sorgten auch für den Rücktritt von Präsident Liamine Zé­roual (1995–1999), weil dieser sich weigerte, ein 1997 zwischen den Geheimdiensten und der AIS, dem bewaffneten Arm der Islamischen Heilsfront (FIS) geschlossenes Abkommen aufzukündigen. Nachdem Bouteflika den Präsidentenpalast El Mouradia hoch über Algier bezogen hatte, machte er sich sehr schnell daran, dem Amt des Präsidenten wieder mehr Gewicht zu verleihen. Er werde niemals nur ein „Dreiviertelpräsident“ sein, verkündete er.

Dieser Ausspruch ließ zwei zentrale Absichten Bouteflikas erkennen: Erstens wollte er keinesfalls einem neuen Algerischen Frühling den Weg bereiten. Sein Ziel war es, die ursprüngliche „Reinheit“ des Systems wiederherzustellen, also die Bündelung der Macht von Armee und Geheimdiensten unter der Kontrolle eines mächtigen Präsidenten, wie es unter dem 1978 verstorbenen Houari Boumediene der Fall gewesen war.

Dass Bouteflika seinerzeit die Nachfolge seines Ziehvaters Boumediene verwehrt worden war, hat auch mit der Frage der politischen Kultur zu tun. Bouteflika, der zwischen 1963 und 1979 Bous Außenminister gewesen war, gehört zu einer Generation, die keinerlei Einschränkungen in der Ausübung der politischen Macht akzeptiert. Seine seltenen Reden über die Demokratie konnten nie überzeugen, auch nicht, als er am 8. Mai 2012 in ­Setif verkündete, dass die Genera­tion der Revolution „am Ende“ und für ihn die Zeit gekommen sei, die Verantwortung aus der Hand zu geben. Trotz dieser Ankündigungen trat er kurze Zeit später seine vierte Amtszeit an und sorgte dafür, dass die Politik der Hinterzimmer weitergeführt wurde.

Zweitens wollte Bouteflika keine bloße Marionette der Armee sein. Trotz der Allmacht, die man der Nationalen Volksarmee zuschreibt, erwies sich dieses Vorhaben nicht als komplett aussichtslos. Die Militärs, auch die in den Geheimdiensten, waren stets bereit, ein Minimum an formalem Legalismus zu respektieren. Und in dieser Hinsicht war die Unterschrift des Präsidenten – mit der hohe Funktionäre oder Militärs ernannt, entlassen oder in den Ruhestand versetzt werden können – eine starke Waffe, von der Bouteflika im Verlauf der vergangenen 20 Jahre ausgiebig Gebrauch gemacht hat.

Seine ersten drei Amtszeiten (1999–2014) waren geprägt vom Umbau und der Stärkung des präsidentiellen Machtzentrums – auf Kosten der beiden anderen. Dabei profitierte Bouteflika auch von seinem Prestige als ­geschickter Diplomat: Den Generälen und Geheimdienstlern versprach er, das Bild Algeriens im Ausland zu verbessern und das Schreckgespenst der internationalen Strafverfolgung zu vertreiben. Denn viele Militärs waren während des „schwarzen Jahrzehnts“ (1991–2000) daran beteiligt gewesen, Menschen massenhaft verschwinden zu lassen und zu ermorden.

Nach innen wie nach außen machte sich Bouteflika sein Image als Mann, „der den Frieden zurückgebracht hat“, zunutze – obwohl der Frieden bereits vor seinem Amtsantritt ausgehandelt worden war. Und er erinnerte die Generäle stets daran, was sie ihm schuldeten und was sie durch seine Absetzung verlieren würden. Wenn er diesen oder jenen General in den Ruhestand versetzte oder, wie 2004, auf den Rücktritt eines „Janvieristen“ vom Kaliber Mohamed Lamaris drängte – langjähriger Generalstabschef und Architekt des Anti­terrorkampfs gegen die bewaffneten islamistischen Gruppen –, widersetzten sich die anderen „Entscheider“ unter den Generälen nicht.

Als scharfsinniger Manipulator verstand es Bouteflika auch, die Rivalität zwischen dem Generalstab – den „Militärs in Uniform“ – und den Geheimdiensten – den „Militärs in Zivil“ – auszunutzen. Durch den Krieg in den 1990er Jahren hatte der Geheimdienst DRS (Département du ren­seigne­ment et de la sécurité, Nachfolger der SM) immer mehr Einfluss auf die Politik gewonnen. Folglich schmiedete Bouteflika 2002 ein Bündnis mit General Ah­med Gaid Salah, der seit 2004 Generalstabschef und seit 2013 Vizeverteidigungsminister ist.

„Der älteste aktive Soldat der Welt“, wie der heute 79 Jahre alte Salah in Algerien ironisch genannt wird, verkörpert seither die Rache der „Militärs in Uniform“ an den Kollegen von den Diensten. Zahlreiche Entlassungen in den höchsten Rängen der Armee haben Salahs Position gefestigt und ihn zu einem Stützpfeiler des Bouteflika-Systems gemacht. „General Ahmed Gaid Salah hat Bouteflika viel zu verdanken“, sagt ein hoher Offizier. Kein Wunder also, dass der Generalstabschef eine fünfte Amtszeit Bouteflikas zunächst unterstützte.

Die Einhegung der algerischen Geheimdienste durch den Präsidenten war allerdings kein leichtes Unterfangen. Nach einer Phase des Rückzugs erlangte der DRS ab 2010 wieder mehr Einfluss. Dabei machte er sich diverse Korruptionsaffären zunutze, in die Vertraute des Präsidenten verstrickt waren. So brachten die Geheimdienstler einen großen Teil des Managements von ­Sonatrach, dem staatlichen Mineralölunternehmen, zu Fall und zwangen den damaligen Energieminister Chakib Khelil, einen engen Vertrauten Bouteflikas, zum Rücktritt.

Der Angriff auf die Erdgasförderanlage in In Aménas im Januar 2013 durch die ­Dschihadistengruppe al-Muwaqqi’un bil-Dima („Die mit Blut unterzeichnen“), der mit einer Geiselnahme einherging, gab Bouteflika und den Militärs in Uniform Gelegenheit, den Schwung des DRS zu stoppen. Der Fall In Aménas offenbarte schwere Versäumnisse des Geheimdienstes und öffnete so den Weg für dessen Restrukturierung. Im September 2015 wurde schließlich der langjährige DRS-Chef General „Tou­fik“ ­Mediène entmachtet.

Der DRS wurde durch die Direction des services de sécurité (DSS) abgelöst, die nun direkt dem Präsidenten unterstand. Auch der Generalstab übernahm einen Teil der Aufgaben, die zuvor dem DRS oblagen. Im Frühjahr 2013 stand Bouteflika kurz vor seinem Ziel, ein Vierviertelpräsident zu sein. Doch dann machte ihm seine Gesundheit einen Strich durch die Rechnung: Nach einem Schlaganfall am 27. April 2013 war er nicht mehr in der Lage, den Wahlkampf für seine vierte Amtszeit selbst zu bestreiten.

Seit diesem Zeitpunkt wurde das algerische Regime noch undurchsichtiger. Allerdings ließen sich bestimmte Veränderungen innerhalb der Präsidentschaft beobachten. Seit seiner ersten Amtszeit hatte Bouteflika im Bemühen, den Einfluss der Militärs zurückzudrängen, die Füh­rungs­po­si­tio­nen ziviler Institutionen (Verfassungsgericht, Rechnungshof etc.) mit Vertrauten besetzt, die oft aus dem Westen Algeriens stammten.

Er sorgte dafür, dass das Parlament, die Gewerkschaften und Arbeitnehmerverbände ihm vollständig ergeben waren; deren Lobeshymnen und Liebeserklärungen erinnerten bisweilen an die Zustände in einer Golfmonarchie. Resultat war ein Personenkult, der in der Geschichte der Unabhängigkeit Algeriens einmalig ist. Der Präsident, dessen Konterfei allgegenwärtig ist, wird als fakhamatouhou (Seine Exzellenz, Seine Hoheit) angeredet.

Um seine Macht zu festigen, umgab sich Bouteflika auch mit Verwandten, etwa seinem Bruder Said, ein 61-jähriger Hochschullehrer. Diese Leute übernahmen die Rolle von Beratern ohne präzise definierten Aufgabenbereich, aber mit dem blinden Vertrauen des Rais. Im Namen des Präsidenten wurden sie direkt bei Ministern vorstellig, aber auch bei Walis (Regionalpräfekten) und sogar bei westlichen Diplomaten in Algier.

General Gaid Salah hat die Seiten gewechselt

Der Premierminister fungierte entweder als treuer Vollstrecker der Anweisungen des Präsidentenclans oder, wie der am 12. März zurückgetretene ­Ahmed Ouyahia, als eine Art Mittler zwischen den verschiedenen Machtzentren des Regimes. Eines aber hatten alle Premiers der Ära Bouteflika gemeinsam: Sie hatten keinerlei Handlungsfreiheit gegenüber dem Präsidenten oder, seit 2013, gegenüber seinem Clan.

Innerhalb von Bouteflikas innerstem Zirkel hatte sich in den vergangenen Jahren ein neues Machtzentrum gebildet. Es bestand aus Geschäftsleuten, die Said Bouteflika nahestanden, darunter auch solche, die bis Anfang der 2000er Jahre noch kleine Unternehmer waren und mit zahlreichen Infrastrukturaufträgen des Staats reich geworden sind. Mit Öl- und Gasexporten hat Algerien zwischen 2000 und 2015 mehr als eine Billionen US-Dollar an Devisen eingenommen. Diese Rente hielt den auf Korruption basierenden algerischen Kapitalismus am Leben (siehe Text auf Seite 6).

Niemand symbolisierte den Aufstieg der politisch einflussreichen Oligarchen deutlicher als Ali Haddad, der langjährige Präsident des mit Abstand wichtigsten Unternehmerverbands (FCE). Dem FCE gelang es zum Beispiel im Sommer 2017, den gerade erst ernannten Premierminister Abdel­madjid Tebboune gleich wieder abzu­sägen, weil dieser plante, den Bezug von Devisen für private Importeure zu beschneiden.

Als Haddad Ende März von seinem Amt als FCE-Präsident zurücktrat und in der Nacht auf den 31. März an einem algerisch-tunesischen Grenzübergang wegen Devisenvergehen festgenommen wurde, war das ein klares Zeichen dafür, dass es mit der Präsidentschaft Bouteflikas zu Ende ging. Mittlerweile dürfen zahlreiche dem Bouteflika-Clan nahestehende Geschäftsleute Algerien nicht mehr verlassen, Privatflugzeuge haben auf den Flughäfen des Landes Startverbot.

Schon in den Wochen vor Haddads Verhaftung war deutlich geworden, dass sich der Generalstab angesichts der anhaltenden Proteste immer stärker von Bouteflika distanzierte. Nachdem Gaid Salah am 6. März noch behauptet hatte, die Proteste seien „das Werk bestimmter Kräfte, die Algerien in die Jahre der Hölle zurückwerfen wollen“, änderte der General den Ton und verkündete am 10. März: „Alge­rien kann sich seines Volkes glücklich schätzen, und die Armee kann sich ihres Volkes glücklich schätzen.“

Zehn Tage später begrüßte er das „tiefe Volksbewusstsein der Demons­tranten“ und versicherte, dass es für jedes Problem eine, wenn nicht gar mehrere Lösungen gebe. Am 26. März forderte Gaid Salah schließlich öffentlich die Anwendung des Artikels 102 der algerischen Verfassung, sprich die Absetzung des Präsidenten aus gesundheitlichen Gründen.

Noch im vergangenen Herbst hatte Bouteflikas Entourage versucht, dem Generalstab und den Geheimdiensten die Idee einer Verlängerung der vierten Amtszeit zu verkaufen. Aus fünf Jahren sollten sieben werden, an deren Ende Bouteflika abtreten würde. Damit blieb man der alten Strategie des Regimes treu: Zeit gewinnen um jeden Preis. Die Option einer auf sieben Jahre verlängerten Amtszeit wurde allerdings Ende 2018 aufgegeben. Es gab einfach keine vernünftigen Gründe, die man als Rechtfertigung hätte vorbringen können, zudem wäre eine Verfassungsänderung erforderlich gewesen.

Ende März unternahm der Präsidentenclan offenbar einen letzten Versuch, zumindest mittelbar die Kontrolle über die politischen Geschicke des Landes zu behalten: Am 2. April – dem Tag von Bouteflikas Rücktritt – verschickte Ex-Präsident Liamine Zéroual eine Mitteilung an algerische Medienhäuser, in der er erklärte, er habe einige Tage zuvor von Ex-DRS-Chef „Toufik“ Mediène den Vorschlag erhalten, den Vorsitz einer „Instanz zur Organisation einer Übergangsperiode“ zu übernehmen.4 Mediène habe ihm bestätigt, so Zéroual, dass der Vorschlag mit Said Bouteflika abgestimmt sei.

Nach dem Rücktritt Bouteflikas ist nun völlig offen, wie es politisch in Algerien weitergeht. Laut algerischer Verfassung übernimmt bei einem Rücktritt des Staatsoberhaupts der Präsident des Oberhauses des algerischen Parlaments den Präsidentenposten – um in einer Interimsperiode von 90 Tagen Neuwahlen zu organisieren. Gleichzeitig bleibt die amtierende Regierung im Amt. Das Problem ist allerdings, dass sowohl Parlamentspräsident Abdelkader Bensalah als auch der amtierende Regierungschef Noureddine Bedoui und der Präsident des algerischen Verfassungsrates Tayeb Belaïz als Männer des Regimes gelten und von den Demonstranten auf der Straße nicht als Köpfe eines glaubhaften demokratischen Übergangs akzeptiert werden.

Die Protestbewegung fordert mittlerweile lautstark einen Regimewechsel, der über die Abdankung des Präsidentenclans hinausgehen soll. Die Parole „Yatnahawga’“ („Sie sollen alle abhauen“) macht die Runde. Am Freitag, den 5. April, gingen erneut Hunderttausende auf die Straße.

Vieles wird nun davon abhängen, wie sich die Armee und die Ge­heimdienste verhalten. Werden die ­Militärs, ob in Uniform oder in ­Zivil, ­einen grundlegenden politischen ­Wandel akzeptieren und auf ihren ­Einfluss verzichten? „Die Armee hat Angst davor, Rechenschaft ­ablegen zu müssen und ihre finanziellen ­Vorteile zu verlieren“, sagt der bereits zitierte Offizier. „Und sie fürchtet, unter die Kontrolle von Zivilisten zu geraten.“

Während die algerische Bevölkerung, der viele bis vor Kurzem völlige Resignation nachsagten, eine beeindruckende Reife beweist, ist es jetzt an der Armee, die Revolution zu Ende zu bringen. Sie muss das politische Feld räumen.

1 Siehe Abed Charef, „Algérie. Le grand dérapage“, La Tour-d’Aigues (L’Aube) 1994.

2 Mohamed Boudiaf, „Où va l’Algérie ? Notre révolution“, Paris (Éditions Librairie de l’Étoile), 1964.

3 Wörtlich: „Januaristen“, nach dem Zeitpunkt der Aussetzung des Wahlprozesses im Januar 1992.

4 Siehe „Liamine Zéroual enfonce le général Toufik et Said Bouteflika“, TSA Algerie, 2. April 2019.

Aus dem Französischen von Jakob Farah

Lakhdar Benchiba ist Journalist in Algier.

Le Monde diplomatique vom 11.04.2019, von Akram Belkaïd und Lakhdar Benchiba