11.04.2019

Kims neues Reich

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Kims neues Reich

Ein Besuch in Nordkorea

von Richard Lloyd Parry

Rudy Cremonini, Tropical Plants, 2016, Öl auf Leinwand, 90 x 110 cm
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Als ich auf einer meiner ersten Nordkoreareisen vor 15 Jahren nach Pjöngjang kam, stand auch ein Besuch des „Turms der Juche-Ideologie“ auf dem Programm. Das propagandistische Monument ragt am südlichen Ufer des Taedong-Flusses in den Himmel. Als ich aus 150 Meter Höhe ängstlich über die Brüstung nach unten spähte, fragte ich eine Fremdenführerin, ob hier schon mal ein Selbstmörder runtergesprungen sei.

Die junge Frau sprach lupenreines Englisch, aber obwohl ich ein zweites Mal fragte, schien sie nicht zu verstehen. Ich machte einen dritten Versuch: „Ist schon mal jemand hier runtergesprungen? Um sich zu töten?“ Sie blickte mich an, als sei ich ein Kind, das sich dumm stellt. „Aber warum sollte sich jemand umbringen wollen?“, fragte sie. „Dann wäre doch das Leben vorbei – man wäre tot.“

Das war typisch für das damalige Nordkorea: Ausnahmslos alles, was die politische Führung tat, war ganz toll; ausnahmslos alle Menschen lebten so gut, dass es besser nicht ginge; und persönliches Leid – nein, so etwas gab es nicht.

Dabei war ich sicher, dass meine junge Begleiterin in Wahrheit sehr wohl verzweifelte Menschen kannte und vermutlich auch Leute, die Selbstmord begangen hatten. Nur wenige Jahre zuvor, zwischen 1994 und 1999, hatte es eine schreckliche Hungersnot gegeben, die mindestens eine halbe Million Todesopfer forderte.1 Aber in der offiziellen Darstellung gegenüber ausländischen Besuchern gab es keine Schlangen im Paradies. In Nordkorea war nicht nur der Hunger überwunden, sondern auch Konflikte, Zwietracht, persönliches Leid, ja sogar der Tod.

Nordkoreas Gründervater Kim Il Sung war zwar 1994 verstorben, aber er regierte als Präsident in Ewigkeit weiter. Als ich damals fragte, wie es weitergehen würde, wenn dessen Sohn und Nachfolger Kim Jong Il einmal sterben sollte, weigerten sich meine Betreuer, dessen Tod auch nur in Erwägung zu ziehen.

Im Herbst letzten Jahres reiste ich wieder für eine Woche in das Land von Kim Jong Un. Mein letzter Besuch lag schon acht Jahre zurück. Seitdem hat sich vieles verändert, und vor allem eines ist augenfällig: die Bereitschaft einzuräumen, dass nicht alles perfekt ist, dass selbst im Paradies etliche Schlangen und andere unangenehme Kreaturen herumkreuchen.

Wenn man früher nach Pjöngjang kam, war das stets wie eine Zeitreise in eine fremde Welt, in der viele gewohnte Annahmen nicht mehr gelten. Nord­korea ist auch heute noch eine einzigartige Erfahrung, die gemischte Gefühle und widersprüchliche Reaktio­nen auslösen kann. Und doch hat sich das Land in den letzten acht Jahren

verändert. Es handelt sich um einzelne und eher kleine Neuerungen, die das Regime alle rasch und problemlos wieder zurückdrehen kann. Aber insgesamt addieren sie sich zu einem bemerkenswerten Wandel.

Der neue Flughafen von Pjöngjang ist ein hell erleuchtetes Gebäude, das in nichts mehr an das gruftartige Gewölbe des alten Terminals erinnert. Hier kann der ausländische Besucher eine SIM-Karte erwerben, die ihm einen freieren Zugang zum Internet ermöglicht als im Nachbarland China (wo Google blockiert ist). Die Einheimischen hingegen sind auf ein streng überwachtes „Intranet“ beschränkt, das nur aus offiziellen Websites besteht, aber immerhin besitzen heute mehrere Millionen Nordkoreaner ein Mobiltelefon, das sie ganz ähnlich nutzen wie die Menschen anderswo auf der Welt.

Unser Betreuer Mister Ri zeigt uns eine Website für Onlineshopping (manmulsang.com.kp) mit einem bescheidenen Angebot an Kleidern, Lebensmitteln, Büchern und CDs. Bezahlt wird mit einer Prepaid-Kreditkarte – noch so eine neue Errungenschaft. Und in der U-Bahn von Pjöngjang, deren Bahnhöfe mit ihren realsozialistischen Wandmosaiken das wunderbare Leben unter den Kims abbilden, bietet sich ein völlig unerwarteter Anblick: nordkoreanische Menschen mit Smartphones, tief versunken in ihr „Candy Crush“-Spiel.

Pjöngjang bei Nacht war früher so finster wie bei einem Stromausfall. Heute sind die Straßen hell erleuchtet, wofür auch die vielen neuen ­Restaurants sorgen, die Pizza, Burger und Brathähnchen anbieten. Außerdem gibt es viel mehr Autos, vorwiegend chinesische Kopien ausländischer Modelle, aber auch echte Toyotas. Und unter den Fahrrädern sieht man sogar teure japanische E-Bike-Modelle.

Auch in der Skyline von Pjöngjang gibt es ein paar neue Zacken: hochmoderne zylindrische Wohnhochhäuser, die für Lehrerfamilien errichtet wurden. Am Südufer des Flusses hat man die schäbigen Fassaden der Hochhäuser aus den 1950er Jahren repariert und mit einem pastellfarbenen Anstrich versehen. Und an der 105 Stockwerke hohen Pyramide des Ryugyong-Hotels, das aufgrund mysteriöser statischer Mängel nie den Betrieb aufnehmen konnte, hat man eine Seite mit LED-Modulen gepflastert, von der patriotische Parolen und gigantische Computeranimationen flimmern.

Offensichtlich ist das Regime heute bereit, ausländischen Besuchern vorzuführen, was man früher vor ihren Blicken verborgen hielt. Zum Beispiel den Kaeson-Jugendpark, ein 100 Hektar großes Gelände mit Achterbahn und Riesenrad, den es seit 1984 gibt. Dort sah ich junge Frauen mit hochhackigen Schuhen und schicken Mänteln sowie gleichaltrige Männer in engen Jeans, die mit ihnen flirteten. Vermutlich gibt es diese Jugendsubkultur schon länger, aber meine früheren Betreuer hätten es nie gewagt, einem ausländischen Journalisten so direkte und unbefangene Eindrücke zu ermöglichen. Diese jungen Leute benahmen sich in keiner Weise rebellisch, aber niemals hätte ich erwartet, in Nordkorea den Anblick von kichernden und flirtenden Jugendlichen geboten zu bekommen.

Die größte Veränderung beobachtete ich unter den Reisebetreuern selbst. Wenn man Nordkorea besucht, sind diese „Aufpasser“ die einzigen Menschen, mit denen man direkten Kontakt hat. Ihre Hauptaufgabe besteht darin, die Besucher des weitaus repressivsten Landes der Welt an der Nase herumzuführen. Es steht in ihrer Macht, Verbote durchzusetzen – aber auch, ein Auge zuzudrücken.

Zum Beispiel kann der Aufpasser sagen: Okay, ich frage diese Studenten, ob sie sich fotografieren lassen. Aber auch: Nein, der Souvenir­einkauf im Kaufhaus Nummer 1 ist gestrichen. Bei früheren Reisen war mein Verhältnis zu den Aufpassern immer ein schwieriger Balanceakt: Mal versuchte ich, mich einzuschmeicheln, mal machte ich mich über ihr absurdes Verhalten lustig, das ihr Job ihnen abverlangte; und des Öfteren umging ich heimlich ihre Anweisungen, um eigene Beobachtungen anzustellen.

Aber im Herbst 2018 habe ich in Nordkorea eine Atmosphäre erlebt, die entspannter und angenehmer war als je zuvor. Früher war das Fotografieren verboten, es sei denn, es war explizit erlaubt. Einmal war ich mit einem BBC-Team unterwegs, das beim Filmen aus dem Bus heraus erwischt wurde; prompt drohte der Chefaufpasser, das gesamte Material zu beschlagnahmen, und wollte jede einzelne Einstellung sehen.

Diesmal war lediglich das Fotografieren von Soldaten verboten. Und ich bekam nur einen einzigen Verweis, als ich neben einem Denkmal von Kim Il Sung ein unbotmäßiges Grinsen aufsetzte. Aber ansonsten waren Mister Ri und sein Vorgesetzter Mister Kim die angenehmsten Aufpasser, die mir jemals in Nordkorea zugeteilt wurden.

Bezeichnend war ein Vorfall, der in jedem anderen Land belanglos gewesen wäre: Während eines Besuchs der Internationalen Messe von Pjöngjang versuchte Mister Ri, ein Mann Mitte dreißig, unsere Fragen zu übersetzen. Aber die Leute, mit denen wir sprechen wollten, waren ziemlich unhöflich, und das Ganze geriet zu einem scharfen Disput mit dem Inhaber eines Stands für Fitnessdrinks auf Kartoffelbasis.

Am Ende rollte Mister Ri verzweifelt mit den Augen und ließ den Mann stehen. Meine Mitreisenden, die Nordkorea zum ersten Mal besuchten, waren vor allem erschrocken ob der aufgeladenen Atmosphäre. Aber für mich war es eine ganz neue und aufregende Erfahrung, dass da zwei Nordkoreaner ganz offen herumstritten.

Während der langen Busfahrten redete Mister Ri ausführlich über überraschend persönliche Angelegenheiten. Zum Beispiel über seine Frau, die er erst nach und nach und nur dank der Ratschläge seines Schwiegervaters unter Kontrolle gebracht hatte.

Er erzählte auch von einer jungen Frau, die sich mit ihren Eltern wegen des Mannes, den sie heiraten wollte, zerstritten hatte. Nach einem bitteren Streit ging sie in ihr Zimmer und legte sich aufs Bett, neben sich eine geöffnete Pillendose. Als die Eltern nach ihr sehen wollten, dachten sie, sie hätte sich umgebracht. Sie fingen an zu jammern, erzählte Mister Ri amüsiert, „aber sie hatte nur so getan! Schließlich haben sich die Eltern beruhigt, und heute ist sie mit dem Mann glücklich verheiratet.“ Das Thema Selbstmord ist also in der Demokratischen Volksrepublik Korea durchaus gegenwärtig.

Mister Ri erzählte auch Herrenwitze, die nicht besonders witzig waren. Aber für ein Land, das nicht gerade für seinen Humor berühmt ist, war allein das schon bemerkenswert. Woher rührt dieser überraschende atmosphärische Wandel? Ganz sicher liegt es nicht einfach am Charakter unserer Aufpasser, denn die haben in ihrer Tätigkeit kaum Spielraum; sie reden auf der Basis eines auswendig gelernten Scripts, das eine zentrale Autorität verfasst.

Die an diesem Skript orientierten Dialoge haben sich seit meinem letzten Besuch vor acht Jahren nicht nur im Ton, sondern auch inhaltlich verändert. Zwar dominiert noch immer der alte trotzige Stolz, aber zugleich ist ein neues und fröhliches Selbstvertrauen zu spüren. Das äußert sich auch in dem bislang unterdrückten Sinn für Humor, der sogar das Eingeständnis der Unvollkommenheit erlaubt. Für all das gibt es eine offensichtliche Erklärung. Sie liegt in der Person von Kim Jong Un, der 2011 seinen Vater Kim Jong Il beerbt hat.

Nordkorea wird üblicherweise als ein Land betrachtet, das sich jeder rationalen Erklärung entzieht: als Reich des absurden Wahnsinns. Aber wenn man dieses Land nüchtern betrachtet, ist die Handlungslogik des Regimes recht pro­blem­los zu entziffern.

Kim Jong Un hat ein vorrangiges Ziel: Er will möglichst alt werden und dann eines natürlichen Todes sterben wie schon sein Vater und sein Großvater. Kims traditionelle Feinde, die USA und Südkorea, stehen Gewehr bei Fuß, und das vor seiner Haustür. China und Russland, die er noch am ehesten als „Freunde“ sehen kann, behandeln ihn mit irritierender Geringschätzung. Und der relative militärische Vorteil, den ihm die schiere Größe seiner Armee verschafft, wird durch den technischen Vorsprung seiner Gegner aufgezehrt.

Mister Ri erzählt Herrenwitze

Bei den Atomwaffen, die Kim besitzt, handelt es sich um wenige Sprengköpfe und Interkontinentalraketen. Mit diesem kleinen Arsenal kann er die gigantischen US-Streitkräfte niemals besiegen. Aber damit verfügt er über eine einzigartige Versicherungspolice. Mit der Fähigkeit, eine US-amerikanische Großstadt auszulöschen – und sei es nur eine einzige –, kann er die Kosten eines Angriffs auf Nordkorea in eine kaum berechenbare Höhe treiben.

Diesem Kalkül halten die Regierungen des Westens entgegen, dass Kims Atomwaffen gerade keinen Schutz böten, sondern die Gefahr eines Angriffs auf Nordkorea verstärkten. Zudem winke ihm bei einem Verzicht auf die Abschreckungswaffen eine satte Belohnung. Doch Kim hat gute Gründe, diesen Argumenten zu misstrauen, zumal wenn man das Schicksal der Staatsführer betrachtet, die sich zur Revision ihrer nuklearen Pläne überreden ließen.

Das prominenteste Beispiel ist natürlich Libyens Staatschef Gaddafi, der im Oktober 2011 gelyncht wurde. Und das jüngste Nuklearabkommen – der mühsam ausgehandelte Vertrag mit Iran – wurde von der Trump-Administration wieder aufgekündigt. Es bedeutet keine moralische Rechtfertigung des Kim-Regimes, wenn man feststellt: Ein Diktator, der in dieser Situation seine Atomwaffen aufgeben würde, wäre nachgerade verrückt.

Aber warum hat dann Kim Jong Un die di­plo­ma­ti­sche Initiative ergriffen, die im Juni 2018 zum Gipfeltreffen mit Trump in Singapur führte? Der US-Präsident und seine Anhänger glauben den Grund zu kennen: Kim wurde durch die harte Haltung Washingtons weichgekocht, und zwar nicht nur durch die nach dem ersten Atomtest 2006 verhängten Sanktionen, sondern auch durch Trumps militärische Drohungen.

Diese Erklärung beruht wie so viele Ansichten über Nordkorea auf Wunschdenken und falschen Hoffnungen. Die internationalen Sanktionen, die 2017 noch verschärft wurden, sind zumindest auf dem Papier die härtesten, die je verhängt wurden. Aber die einzigen Beweise für die Wirksamkeit dieser Sanktionen sind anekdotischer Art und häufig manipuliert von Regierungen, die ihre eigene Politik in einem guten Licht erscheinen lassen wollen.

Mal behaupten Trump und seine (wechselnden) Außenminister, die Sanktionen seien ein voller Erfolg, dann aber wieder beklagt man, Russland und China setzten sie nicht richtig durch. Zwar hat Peking, das die Öl- und Gaspipelines wie auch die Handelsströme nach Nordkorea kon­trol­liert, seit 2017 ein Embargo für Eisenerz und Kohle verhängt, aber das wurde mit der Zeit immer laxer gehandhabt.

Es ist ja auch keineswegs ausgemacht, dass Wirtschaftssanktionen automatisch politischen Druck erzeugen – zumal gegenüber einem Regime, für das das Leid der eigenen Bevölkerung ohnehin zweitrangig ist. Wenn weder der Kollaps der nordkoreanischen Wirtschaft nach dem Kalten Krieg noch die Hungerkatastrophe der 1990er Jahre2 einen politischen Wandel bewirkt oder die Bevölkerung zur Rebellion angestachelt haben, dann wird auch ein halbherziges, von außen auferlegtes Strafembargo keine nennenswerten Folgen zeitigen.

Man kann deshalb den Kurswechsel von Kim Jong Un auch völlig anders interpretieren, nämlich einfach ernst nehmen, was der Mann selber sagt. In seiner Neujahrsansprache von 2017 hat er verkündet, sein Land sei im „letzten Stadium“ der Herstellung einer Interkontinentalrakete (ICBM), die die Westküste der USA werde erreichen können. Im September 2017 meldete Pjöngjang die unterirdische Explosion einer Wasserstoffbombe. Nach Tests von Raketen mit immer größerer Reichweite folgte drei Monate später der erfolgreiche Start der Hwasong-15. Diese ICBM mit einer geschätzten Reichweite von 13 000 Kilometern könnte jede Stadt in Nordamerika oder Europa erreichen. In seiner Neujahrsansprache 2018 meldete Kim triumphierend, man habe „den großen historischer Auftrag erfüllt, die nationalen Atomwaffen zu perfektionieren“.

Er sprach aber auch über seine Hoffnung auf verbesserte Beziehungen der beiden Koreas. Nur sechs Wochen später nahmen Sportler und hohe Repräsentanten Nordkoreas an den Olympischen Winterspielen in Südkorea teil. Im April und im Mai 2018 kam es zu den ersten innerkoreanischen Gipfeltreffen zwischen Kim und Süd­ko­reas Präsident Moon Jae In. Und am 12. Juni folgte die erste Begegnung mit Trump in Singapur.

Man kann diese Hinwendung zur Diplomatie als Unterwerfungsgeste gegenüber der Sanktionsmacht USA interpretieren. Man kann sie aber auch als selbstbewusste Entscheidung sehen – und zwar aus einer Position der Stärke heraus. Kim Jong Un verfolgt seit Jahren ein sehr präzises Ziel: Er will Atomraketen, die auch die USA bedrohen können. Mit dieser Versicherung im Rücken hat er durch die Aufnahme von Gesprächen nichts zu verlieren – wohl aber etwas zu gewinnen, nämlich womöglich wertvolle Zugeständnisse. Warum sollte Kim dann sein strategisches Faustpfand aufgeben, das den US-Präsidenten überhaupt erst an den Verhandlungstisch brachte?

Es gibt also zwei entgegengesetzte Interpretationen: Nach der einen hat Kim eine schmachvolle Niederlage erlitten, nach der anderen einen brillanten, wenn auch hochriskanten strategischen Coup gelandet. Diese Interpretationen geben mehr oder weniger die Lehrmeinungen der beiden Denkschulen wieder, die seit den 1990er Jahren die Debatten über Nordkorea dominieren. Nach der einen ist dieses verstockte Regime nur durch Härte, Gewaltandrohung und Konfrontation in die Knie zu zwingen, nach der anderen sind die Nordkoreaner viel zäher und klüger, als so mancher es ihnen zutraut, weshalb man sich irgendwie auf sie einlassen müsse, um eine langfristige Lösung zu erreichen.

Aber vielleicht gibt es noch eine dritte Möglichkeit: dass Nordkorea einen tief greifenden Wandel durchläuft. Das würde voraussetzen, dass Kim Jong Un eine historische Figur und ganz anders als sein Vater und sein Großvater ist: ein Herrscher, der sein Land in eine neue, noch nicht recht erkennbare Zukunft steuern will.

Bei dieser Zukunft geht es natürlich nicht um Smartphones, Vergnügungsparks oder Pizza­läden. All das kann man über Nacht wieder abschaffen. Die gravierenden Veränderungen, die nicht ohne Weiteres wieder rückgängig zu machen sind, vollziehen sich in der nord­korea­ni­schen Wirtschaft. Auf meiner letzten Reise konnte ich eine Fischfarm in Pjöngjang und ein Agrarkollektiv in der Nähe von Wonsan besichtigen. Beide Betriebe haben – wie viele Staatsunternehmen – in den letzten zwei Jahren einen neuen Modus Operandi eingeführt. Die Regierung gibt ihnen immer noch konkrete Liefermengen vor, aber über die Produktion jenseits dieses Quantums kann das Management frei entscheiden.

Der Diktator ließ seinen Schwager hinrichten

Die Fischzüchter verkaufen ihre Überschüsse und investieren einen Teil ihrer Erlöse in höherwertiges Fischfutter, damit sie im Folgejahr bessere Erträge erzielen. Die Manager beider Betriebe lobten, dass sie ihrer Belegschaft nun je nach Leistung Boni – in Geld- oder in Warenform – auszahlen können.

Das bedeutet die Aufgabe der offiziellen Position, wonach die nordkoreanische Bevölkerung in ihrem ganzen Tun inspiriert werde durch pa­trio­ti­sche Gefühle, ihre Hingabe an die sozialistischen Ideale und ihre grenzenlose Liebe für die Familie Kim. Heute werden die Leute nach unterschiedlichen Tarifen bezahlt, die davon abhängen, wie hart und gut sie arbeiten. Im Rahmen des „Sozialistischen Managementsystems unternehmerischer Verantwortlichkeit“ haben die Betriebe das Recht, ihre Produktion selbst zu planen, Leitungsteams einzusetzen und selbstständig über Arbeitsbedingungen, intellektuelles Eigentum und Finanzierungsfragen zu entscheiden.

Überall im Land haben staatliche Farmen, Fabriken, Bergwerke und Fischereikollektive solche Elemente der Marktkonkurrenz integriert. Wenn man die Leute auf diese Entwicklungen anspricht, behaupten sie, das sei gar nichts Neues, und verweisen auf Verordnungen, die angeblich bereits unter Kim Il Sung verkündet worden wären. Aber die hatten bis zur Hungerkatastrophe der 1990er Jahre keinerlei Bedeutung. Erst als das staatliche Verteilungssystem zusammengebrochen war, entstanden im ganzen Land informelle Märkte – damals eine reine Überlebensnotwendigkeit. Seitdem haben diejenigen, die über knappe Güter verfügen, diese lieber zu Marktpreisen verkauft oder eingetauscht, statt sie bei den staatlichen Stellen abzuliefern.

Kim Jong Il agierte allerdings noch zaghaft und halbherzig, indem er solche unternehmerischen Aktivitäten mal tolerierte und mal unterdrückte. Unter seinem Sohn dagegen wurde dieses System weiter ausgebaut und in begrenztem Maße sogar gesetzlich institutionalisiert. Die so gestärkten Unternehmen bemühen sich heute sogar um Investitionen aus dem Ausland.

Auf der Internationalen Messe von Pjöngjang wurde eine englischsprachige Broschüre verteilt, die speziell für die an der Ostküste gelegene „Wonsan-Mount Kumgang International Tourist Zone“ diverse Investitionsmöglichkeiten vorstellt: von einer Kläranlage mit einer Investi­tions­summe von 20 Millionen Dollar über ein Unfallkrankenhaus (7,6 Millionen) und eine Taxistation (4,2 Millionen) bis zu einem bescheidenen Andenkenladen für 310 000 Dollar.3

Zu meiner Reisegruppe gehörten Geschäftsleute, die man einlud, 600 000 Euro in den Bau und Betrieb einer Pension in der „Unjong High-Tech Development Zone“ zu investieren. Wie bei den meisten angebotenen Projekten handelt es sich nicht um Joint Ventures (wie in China für alle internationalen Investitionen vorgeschrieben), sondern um rein ausländische Unternehmen. Allerdings bleiben wichtige praktische Fragen unbeantwortet, zum Beispiel ob und wie ein solches Projekt rechtlich mit dem Wirtschafts­embargo vereinbar sein würde und ob es kommerziell überhaupt aussichtsreich wäre. Das Problem liegt darin, dass es solche Investitionen noch nie gegeben hat – denn bis vor Kurzem waren sie unvorstellbar.

Es gibt allerdings das Vorbild China. Auch hier hatten die enormen Veränderungen, die seit der Ära Deng Xiaoping in den 1980er Jahren vonstattengingen, mit verstärkter Eigenständigkeit der staatseigenen Unternehmen begonnen. Viel war die Rede von einer „Liberalisierung“ und „Reformen“. Allerdings hat die Entwicklung Chinas – von der Unterdrückung der Demokratiebewegungen bis zur neomaoistischen Wende unter Xi Jinping – klar aufgezeigt, wie unangemessen diese Begriffe sind.

Es wäre also mehr als voreilig, Kim Jong Un als „Reformer“ zu kennzeichnen. Aber mit seinem Streben nach dem Status einer Atommacht hat der aktuelle Kim demonstriert, dass er anders als sein ängstlich opportunistischer Vater ein kühner und furchtloser Stratege ist, der sich nicht an die etablierten Konventionen und Handlungsweisen seiner Vorgänger gebunden fühlt.

Das demonstrierte er schon 2012 mit dem Besuch eines Konzerts in Pjöngjang, wo die Musiker als Walt-Disney-Figuren kostümiert herumtanzten. Erstaunlich war auch der Auftritt an der Seite seiner Ehefrau, während die zahlreichen Frauen im Leben der beiden früheren Kims fast nie gezeigt oder auch nur erwähnt worden waren. Als Kim Jong Un am 27. April 2018 die Grenze nach Südkorea überschritt und Präsident Moon Jae In umarmte und als er Wochen später zum Treffen mit Trump nach Singapur flog, war das Unerhörte bereits zur Normalität geworden.

Doch ungeachtet solcher Veränderungen ist das Leben in Nordkorea weiterhin von Mangelwirtschaft, Unterdrückung und Angst geprägt. Da dieses ganze System auf der Androhung von Gewalt beruht, ist die Rede von einem „Frühling in Pjöngjang“ pure Fantasie – inspiriert von denkfaulen Vergleichen mit früheren Diktaturen, mit denen Nordkorea nichts gemein hat. Selbst wenn Kim Jong Un gewillt wäre, seinem Volk politische Freiheiten zu gewähren und die Wirtschaft zu „öffnen“, käme das angesichts der gesellschaftlichen Spannungen einem Selbstmord gleich.

Früher konnten sich Despoten ins sichere Exil absetzen wie einst der iranische Schah Reza Pahlavi oder der südkoreanische Diktator Rhee Syng Man. Aber diese Zeiten sind vorbei. Selbst wenn Kim heute versuchen würde, einen Gorbatschow oder auch nur einen Deng Xiaoping zu geben, würde er eher als Gaddafi oder Ceaușescu enden. Darüber ist sich auch Kim im Klaren. Würde er aufhören, seine Widersacher einzusperren, wäre das aus seiner Sicht genauso verrückt wie die Aufgabe seines nuklearen Arsenals.

In Sachen Unterdrückung ist Kim nach wie vor einsame Spitze. Das unglaublichste Beispiel dafür war die Hinrichtung von Jang Song Thaek im Dezember 2013. Der Ehemann von Kim Jong Ils Schwester hatte sein Leben lang zum innersten Machtzirkel von Pjöngjang gehört und war zweimal in Ungnade gefallen.

Die Ermordung politischer Gegner war unter der Kim-Dynastie schon immer üblich. Allerdings wurde das früher stets diskret erledigt und erst bekannt, wenn eine wichtige Parteigröße nicht mehr in der offiziellen Hierarchieliste auftauchte oder bei einer Militärparade fehlte. Dagegen wurde der Sturz von Jang in aller Öffentlichkeit inszeniert. Die Nachricht war Aufmacher in den Zeitungen und Topmeldung in Rundfunk und Fernsehen, wo er als gefesselter Häftling gezeigt wurde.

Jang wurde unmittelbar nach dem Prozess hingerichtet. Vor Gericht hatte er eine ganze Liste von Verbrechen „gestanden“: Er habe einen Staatsstreich geplant, pornografisches Mate­rial verbreitet und nicht begeistert genug applaudiert. Auch habe er dafür gesorgt, dass ein Denkmal für Kim „in einer schattigen Ecke“ platziert worden sei. Die staatliche Nachrichtenagentur beschimpfte Jang als „verachtenswerten menschlichen Abschaum, schlimmer als ein Hund“, der „das tiefe Vertrauen und die wärmste väterliche Liebe missbraucht hat, die ihm die Partei und der oberste Führer entgegengebracht haben“. Mit seiner „konterrevolutionären spalterischen Tätigkeit“ sei Jang zum „Verräter der Nation auf alle Zeiten“ geworden.

Diese Anschuldigungen wurden auf eine Weise präsentiert, die selbst für dieses Regime einen Tabubruch darstellte. Vergessen wir für einen Moment, dass Jang zur Kim-Familie gehörte und dass er von Kim senior wie von Kim junior als würdig erachtet wurde, in der Machthierarchie aufzusteigen. Bereits das Eingeständnis, dass es da so etwas wie eine Verschwörung gegeben haben könnte, dass also ein Nordkoreaner – und einer, dem man vertraut hatte – überhaupt verräterische Gedanken habe hegen können, allein dies verletzt einen zentralen Grundsatz, auf dem das Lügengebäude Nordkorea errichtet ist.

Auch in seiner gnadenlosen Brutalität ist Kim Jong Un mit keinem seiner Vorgänger vergleichbar. Unter seiner Ägide sind aus dem Schlangenei neue Kreaturen gekrochen. Wie viele es sind und wie sie als ausgewachsene Reptilien aussehen werden, kann heute allerdings noch niemand wissen.

1 Die differenzierteste Schätzung geht von 500 000 bis 600 000 Hungertoten aus; die oft genannte Zahl von 3 Millionen Toten gilt heute als zu hoch. Siehe: Daniel Goodkind, Loraine West und Peter Johnson, „A Reassessment of Mortality in North Korea 1993–2008, Washington, D. C., 28. März 2011, www.paa2011.princeton.edu/papers/111030.

2 Das Regime hat für diese Hungersnot den Begriff „Der Schwere Marsch“ erfunden. Siehe Anm. 1.

3 Eine ähnliche Broschüre unter: www.gpic.nl/investment-projects-in-North-Korea.pdf.

Aus dem Englischen von Niels Kadritzke

Richard Lloyd Parry ist Asienkorrespondent der Times.

© London Review of Books; für die deutsche Übersetzung LMd, Berlin

Le Monde diplomatique vom 11.04.2019, von Richard Lloyd Parry