07.03.2019

Bleierne Zeit in Xinjiang

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Bleierne Zeit in Xinjiang

Folter, Umerziehungslager, digitale Kontrolle: Die muslimische Minderheit der Uiguren in China wird brutal unterdrückt

von Rémi Castets

Die restaurierte Altstadt von Kaschgar unter Beobachtung THOMAS PETER/reuters
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Was geht in Xinjiang im äußersten Nordwesten Chinas vor? Im September 2018 wies Human Rights Watch eindringlich auf Menschenrechtsverletzungen hin, die vor allem die turksprachige, muslimische Bevölkerungsgruppe der Uiguren treffen, aber auch Kasachen, Usbeken und andere Ethnien.1 Die chinesische Obrigkeit dementiert. Sie bekämpft angeblich nur den Radikalismus und Terrorismus, hinter dem Oppositionelle der Diaspora oder ausländische Mächte stehen. Die muslimischen Länder halten sich in dieser Frage komplett bedeckt.

Eines steht fest: China praktiziert den „Wandel durch Erziehung“, der in den 1990er Jahren auf die Anhänger der Falun-Gong-Sekte angewandt wurde, in abgewandelter Form und in noch größerem Stil jetzt in Xinjiang. Weil es keine offiziellen Zahlen gibt, weiß niemand genau, wie viele Menschen betroffen sind.

Der Soziologe Adrien Zenz hat anhand der öffentlichen Aufträge für den Neu- und Ausbau von Internierungslagern errechnet, dass mehr als ein Zehntel der uigurischen Bevölkerung – also rund 1 Million Menschen – in Haft sind oder waren.2 Anders als in den Lao­gai-Arbeitslagern (Laogai bedeutet „Umerziehung durch Arbeit“) können die Verdächtigen in diesen Internierungslagern ohne Prozess auf unbestimmte Zeit weggesperrt werden.

Nach der Darstellung von Adrien Zenz und Berichten von Menschenrechtsorganisationen reicht das Spektrum des Repressionsapparats von offenen Umerziehungskursen bis hin zu geschlossenen Lagern. Oppositionelles Denken wird pathologisiert: Das System ist explizit darauf angelegt, „die ideologischen Viren abzutöten“, wobei jeder „Patient“ individuell nach dem Grad seiner Renitenz behandelt wird.

Das UN-Hochkommissariat für Menschenrechte hat offiziell Zugang zur Region Xinjiang gefordert. Inzwischen räumen die chinesischen Behörden die Existenz der Lager ein, sprechen allerdings entweder von „Orten der patriotischen Erziehung“ oder von Fortbildungsstätten zur beruflichen Integration von Minderheiten.

Tatsächlich finden neben Verhören, patriotischer Erziehung und Lektionen in Selbstkritik auch Sprachkurse in Mandarin statt. Dagegen berichten Betroffene, die es nach ihrer Freilassung ins Ausland geschafft haben, von teils sehr harten Haftbedingungen, von massivem Druck bis hin zu psychischer und körperlicher Folter. Am 10. Februar hat die türkische Regierung, die lange zwischen machtpolitischen Überlegungen und der Solidarität mit den Uiguren schwankte, erstmals gegen „Folter und Gehirnwäsche“ in den Lagern protestiert.

Die aktuelle Welle der Repression markiert einen neuen Höhepunkt in einer langen Geschichte von Gewalt. Die von hohen Gebirgsketten umgrenzte Region war lange ein wichtiger Knotenpunkt auf der Seidenstraße. Im ersten nachchristlichen Jahrtausend, zu Zeiten der Han-, Sui- und Tang-Dynastien, stand Xinjiang zwischenzeitlich immer wieder unter chinesischer Herrschaft. Die Chinesen wollten verhindern, dass die Steppenvölker, die die Nordflanke des Reichs bedrohten, bei der Kontrolle der Handelswege mitmischten.

Die Landverbindung nach Europa verlor jedoch an Bedeutung, nachdem die Portugiesen den Seeweg um Afrika entdeckt hatten. Als Mitte des 18. Jahrhunderts die Gebiete, die zwischen dem 10. und 17. Jahrhundert islamisiert worden waren, von der Qing-Dynastie (1644–1912) erobert wurden, hatte Xinjiang seine Schlüsselfunk­tion bereits eingebüßt. Die Abschottung Chinas und der spätere sowjetisch-chinesische Konflikt machten die isoliert gelegene Region aus Sicht Pekings vollends zur strategischen Sackgasse.

Einen erneuten Aufschwung erlebte Chinas ärmste Provinz erst, als sie im regionalen und internationalen Kontext wieder an Bedeutung gewann. Nachdem Maos Volksbefreiungsarmee 1949 eingerückt war, sorgten staatlichen Investitionen dafür, dass Xinjiang den Anschluss an den Rest des Landes schaffte. Nach 2000 floss im Rahmen der „großen Erschließung Westchinas“ noch mehr Geld in die Region. Seit den 1950er und 1960er Jahren siedelten sich viele Han-Chinesen an. Sie gründeten eigene Städte im Norden der Provinz und veränderten auch den Charakter der alten Oasenstädte des Südens.

Eine Million Menschen in Lagern

Heute ist Xinjiang durch ein gut ausgebautes Autobahn- und Eisenbahnnetz (inklusive Hochgeschwindigkeitsstrecken) an den Rest des Landes angeschlossen. Entscheidend für die wirtschaftliche Entwicklung waren die Staatsunternehmen und die von den Produktions- und Konstruktions-Corps (XPCC) errichteten Produktionsbetriebe. Diese militärisch organisierten Brigaden, 1954 auf Anordnung Maos gegründet, haben sich auf Bergbau- und Landwirtschaftsprojekte (Baumwolle, Tomaten, Obst) spezialisiert.

Die Provinz ist dreimal so groß wie Frankreich. Heute ist sie ein strategisch wichtiges Zentrum für die Energieversorgung, denn hier lagert ein Viertel der Öl- und 38 Prozent der Kohlereserven des Landes, das sich von Importen unabhängiger machen will. Damit deckt Xinjiang beim Erdöl ein Sechstel und beim Erdgas fast ein Viertel des chinesischen Bedarfs.

In den 1990er und 2000er Jahren wurden im Rekordtempo Öl- und Gaspipelines nach Zentralchina und in die Küstengebiete verlegt, um die riesigen Mengen an Energieträgern herbeizuschaffen, die das chinesische Wirtschaftswachstum antrieben. Heute investiert der Staat vor allem in die Kohleverflüssigung und in erneuerbare Energien (Wind, Sonne, Wasserkraft).

Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und im Zuge der Belt and Road Initiative (BRI) wurde Xinjiang zu einer strategischen Trumpfkarte bei dem Bemühen, die chinesische Machtposition in Asien zu festigen.

Xinjiang grenzt an Pakistan, Afghanistan und mehrere ehemalige Sowjetrepubliken. Hier laufen wichtige Eisenbahnlinien, Fernstraßen und Energietrassen zusammen, auf die Peking angewiesen ist, um seine eigene Versorgung zu sichern und seinen wirtschaftlichen Aktionsradius Richtung Europa zu erweitern. Zudem hat China ein großes Interesse an der Stabilität der Nachbarregionen, in denen sonst islamistische Bewegungen an Einfluss gewinnen könnten – oder auch die USA.

Zwar hat der chinesische Staat seine Herrschaft in Xinjiang nach und nach festigen können, aber in Peking bleibt man beunruhigt. Die Aufstände und kurzen Unabhängigkeitsphasen der Provinz sind nicht vergessen, und gerade in jüngster Zeit kommt es wieder vermehrt zu gewaltsamen Ausschreitungen und Terroranschlägen.

In dieser zentralasiatische Region waren die Partikularinteressen schon immer besonders ausgeprägt. Als die Herrscher der Qing-Dynastie das Gebiet zu ihrer „neuen Grenze“ (genau das bedeutet das Wort Xinjiang) machen wollten, riefen die alten Anhänger eines sufistischen Gottesstaats zum Widerstand gegen die chinesisch-mandschurische Staatsgewalt auf.

Ethnisch gesehen dominierten um 1900 im Norden Xinjiangs und im Pamir-Gebirge kasachische und kirgisische Nomaden, während in den Oasenstädten im Süden und Westen sesshafte Uiguren lebten.

Nach dem Zusammenbruch des Kaiserreichs 1912 mussten sich die chinesischen Kriegsherren einer erstarkenden Opposition erwehren, die immer entschiedener für Autonomie oder Unabhängigkeit kämpfte. Diese Opposition hatte einen pantürkisch orientierten rechten Flügel und einen linken kommunistischen Flügel, der bis Ende der 1940er Jahre von der Sow­jet­union unterstützt wurde. Der Sieg Maos 1949 und die Repression vor und während der Kulturrevolution setzten diesen Bestrebungen ein Ende.

Terrorbekämpfung als Vorwand

Als in den 1980er Jahren der Reformflügel der Kommunistischen Partei Chinas (KPC) die Macht übernahm, stellten Partei und Verwaltung gezielt Angehörige der Minderheiten ein, um sie in den Staatsapparat einzubinden. Das schuf aber auch kulturelle und religiöse Freiräume: In Xinjiang wuchs eine militante nationalistische und „antikoloniale“ Bewegung heran, die sich aus uigurischen Studierenden und Intellektuellen rekrutierte.

Der während der Kulturrevolution geächtete Islam setzte sich in Teilen der Gesellschaft wieder durch. An den neu eröffneten Koranschulen im Süden entstanden Zirkel von talips (Religionsstudenten), von denen etliche eine islamische Gesellschaftsordnung oder gar die Errichtung eines unabhängigen islamischen Staats anstrebten. So kam es 1990 im Bezirk Baren zur bewaffneten Revolte der erst wenige Monate zuvor gegründeten Islamischen Partei Ostturkestans.

Schon 1985, 1988 und 1989 war es in Ürümqi und anderen Oasenstädten zu Demonstrationen gekommen, bei denen gegen die demografische Kolonisierung, Diskriminierung und ethnische Ungleichbehandlung protestiert, aber auch politische Autonomie gefordert wurde.

Angeführt wurden die Proteste von Studentenorganisationen, aber zuweilen mischten auch religiöse Kreise mit. Im Mai 1989 endete eine Demo mit einen Steinhagel auf ein Regierungsgebäude.

Nachdem es schon im März 1989 gewaltsame Unruhen in Tibet gegeben hatte, wurde Peking im Juni 1989 von den blutigen Ereignissen auf dem Platz des Himmlischen Friedens erschüttert. Damals befürchtete die Partei, dass die Situation in Xinjiang außer Kontrolle geraten gönnte. Diese Angst nahm noch zu, als der Zusammenbruch der UdSSR den turksprachigen Brudervölkern der Uiguren den Weg in die Unabhängigkeit ermöglichte.

Da in der KP der konservative Flügel erneut ans Ruder kam, schwand bei den Separatisten jede Hoffnung, dass ein Politikwechsel durch Verhandlungen mit Peking erreichen sei. Die regionale Parteiorganisation, die Islamische Vereinigung Xin­jiangs, die Regionalverwaltung, die religiösen Bildungseinrichtungen, Schulen und Universitäten wurden nach und nach wieder auf Linie gebracht. Führungskader, die sich nicht bereitwillig fügten, allzu religiös waren oder mit der Unabhängigkeit zu sympathisieren schien, wurden ausgemustert oder sogar bestraft.

Die Regierung zog die Zügel immer straffer. Die engagiertesten Nationalisten gingen ins Exil, um einer Verhaftung zu entgehen. In Zentralasien, der Türkei oder im Westen schlossen sie sich der ehemals prokommunistischen oder pantürkischen uigurischen Diaspora an, um nach tibetischem Vorbild für die Menschenrechte zu kämpfen. Dabei setzte sich in den lokalen Gruppen eine gewaltfreie Strategie durch. Als Dachverband der einzelnen Gruppierungen wurde 2004 in Washington der Uigurische Weltkongress gegründet.

Währenddessen nahmen in Xinjiang mit den Repressionen auch die Spannungen zu. Die Uiguren trugen ihre Wut auf die Straße, 1995 in Hotan und 1997 in Gulja kam es zu Massendemonstrationen. Einige islamisch-­na­tio­na­listische Zirkel sahen in der Schließung der Koranschulen im Süden der Provinz eine Kriegserklärung der KP gegen den Islam. Religionsstudenten und einige nationalistische Splittergruppen gingen in den Untergrund und begannen den bewaffneten Kampf und sogar terroristische Aktivitäten: Nach chinesischen Angaben kamen zwischen 1990 und 2001 bei 200 Terroranschlägen 162 Menschen ums Leben.3 Doch diese oppositionellen Kleingruppen wurden im Laufe der Zeit zerschlagen.

Ab März 1996 erließ die KP, um weitere subversive Aktivitäten zu verhindern, eine Liste strenger Direktiven.4 Im Rahmen mehrerer Kampagnen der „harten Schläge“ (1997, 1999, 2001) wurde „patriotischen Erziehung“ als Unterrichtsfach eingeführt, der Bau von Moscheen stark eingeschränkt, die Leitung der existierenden Moscheen „echten Patrioten“ übertragen. Und die Absolventen nicht lizensierter religiöser Schulen wurden registriert.

Mit diesen und anderen „massiven Maßnahmen“ sollte die Einmischung der Religion in gesellschaftliche und politische Belange verhindert werden.5 Nach Schätzungen von Amnesty International wurden zwischen Januar 1997 und April 1999 mindestens 190 Hinrichtungen vollstreckt.6

In dieser Periode knüpften einige islamische Nationalisten, die ins afghanisch-pakistanische Grenzgebiet abgewandert waren, Kontakte zum Netzwerk des Taliban-Anführers Dschalaluddin Haqqani. Diese von Peking als Islamische Bewegung Ostturkestan (Etim) bezeichnete Gruppierung war zu schwach, um in Xinjiang Fuß zu fassen, nachdem die dortigen Schläferzellen weitgehend zerschlagen waren.

Im Gefolge von 9/11 wurde die Etim von den USA 2002 auf die Liste terroristischer Organisationen gesetzt. Das spielte den chinesischen Behörden in die Hände, die ihre Rhetorik verschärften. Seitdem sprechen sie von den „drei Plagen“ (sangu shili): Terrorismus, (ethnischer) Separatismus und religiöser Extremismus.

Auf diese Weise können sie die gewaltlosen und demokratisch gesinnten Nationalisten und Autonomieverfechter, die den Werten des Islam gesellschaftliche und politische Geltung verschaffen wollen, mit den Dschihadisten der Etim in einen Topf werfen.

Gegen Ende der 2010er Jahre zogen sich die übrig gebliebenen Etim-Kämpfer nach Wasiristan zurück. wo sie sich mit al-Qaida zusammentaten und in Islamische Partei Turkestans umbenannten. Diese IPT ruft in sozialen Netzwerken zu Gewalttaten auf.

Diese Aufrufe drangen zwar wegen der intensiven Internetüberwachung in China kaum durch, aber nach einer langen Phase der Beruhigung wurden der Süden der Provinz und die Hauptstadt Ürümqi von einer Anschlagsserie erschüttert, die im Vorfeld der Olympischen Spiele von 2008 einsetzte.

Die Gewalt erreichte 2009 eine neue Dimension, als bei gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Uiguren und Han-Chinesen in Ürümqi7 nach offiziellen Angaben 197 Menschen ums Leben kamen – drei von vier waren Han-Chinesen. In der Region breitete sich eine bleierne Stimmung aus. Obwohl das Internet mehrere Monate blockiert war, häuften sich die Anschläge.

Offenbar gingen manche der Terrorakte, etwa die Anschläge in Kaschgar 2011, auf das Konto IPT-naher Gruppierungen. Aber andere wie die Messerattacken auf Polizisten und Zivilisten wirkten wie dilettantische Nachahmeraktionen von Jugendlichen, die Videos der IPT oder anderer Dschihadisten gesehen hatten.

Einige Terrorakte – inner- wie außerhalb der Provinz Xinjiang – schockierten die chinesische Öffentlichkeit besonders: der Anschlag mit einem Geländewagen auf dem Tiananmen-Platz im Oktober 2013 mit 5 Toten (zwei Touristen und drei Attentäter), die Messerattacke am Bahnhof von Kunming im März 2014 mit 31 Toten und 143 Verletzten und der Anschlag auf einen Markt in Ürümqi im Mai 2014 mit 43 Toten und mehr als 90 Verletzten.

Seitdem hat sich die IPT neu aufgestellt. In Afghanistan verbündete sie sich mit den Taliban, und aufgrund ihrer Beteiligung am Syrienkonflikt konnte sie neue Mitglieder und Unterstützer rekrutieren. Im Nordwesten Syriens kämpfte sie an der Seite der Al-Nusra-Front und ihrer Nachfolgeorganisation Hayat Tahrir al-Scham.

Heute verfügt die IPT über schwere Waffen und kann mehrere hundert Kämpfer mobilisieren. Ihre Aktionen bedrohen die chinesischen Interessen auch in anderen Weltregionen, etwa in Pakistan, in Afghanistan und im Nahen Osten. Und zwar stärker als in Xinjiang, wo die uigurische Gesellschaft wenig Neigung zeigt, die strenge Islam-Auslegung der IPT zu befolgen. Und durch die von Präsident Xi propagierte „große Mauer aus Stahl“ ist der Handlungsspielraum für die Islamisten in China ohnehin stark eingeschränkt.

Kolonisierung durch die Han-Chinesen

Für die Uiguren bedeutete die Flut von Verhaftungen und Verurteilungen (auch von Todesurteilen) nach den Unruhen von 2009 einen gewaltigen Einschnitt. Damit war das goldene Zeitalter der 1980er Jahre, als die Konflikte zwischen den Bevölkerungsgruppen noch von Vermittlern moderiert wurden, weitgehend zu Ende. Seitdem entwickelt sich die Wut der Uiguren auf Peking immer stärker zur Wut auf die einheimischen Han-Chinesen, die man als arrogante Kolonialherren wahrnimmt, von denen man sich als Bürger zweiter Klasse behandelt fühlt.

Was der Regierung in Peking als Zusammenleben vorschwebt, ist eine demografische und kulturelle Homogenisierung unter chinesischen Vorzeichen und eine strenge Kontrolle der Institutionen der autonomen Region durch han-chinesische Kader. Im Schulsystem muss die uigurische Sprache dem Mandarin weichen; in der Verwaltung und bei der Polizei haben die Han das Regiment übernommen. So haben die Uiguren zunehmend das Gefühl, von den Chinesen überrollt zu werden.9

Anfang der 2010er Jahre machten die Han-Chinesen 40 Prozent der 22 Millionen Einwohner der Region aus, die Uiguren etwas mehr als 45 Prozent. 50 Jahre zuvor (1949) war das Verhältnis noch 6 zu 75 Prozent. Die Dominanz der Han-Chinesen in Verwaltung und Wirtschaft – verstärkt durch das Misstrauen gegenüber der angestammten Bevölkerung – hat zur Folge, dass einem Großteil der Uiguren der soziale Aufstieg verwehrt bleibt.

Zwar subventioniert der chinesische Staat den Haushalt der Region zur Hälfte und sorgte lange Zeit durch massive Investitionen für zweistellige Wachstumsraten. Aber von diesem Wachstum profitieren viele Uiguren kaum, weil sie schlecht ausgebildet sind oder trotz ihrer Qualifikationen und Abschlüsse diskriminiert werden.

Präsident Xi hat versprochen, die terroristische Bedrohung mit Stumpf und Stiel zu beseitigen. Im Rahmen einer neuen Sicherheitspolitik werden die Antiterroreinheiten umstrukturiert und strenger beaufsichtigt. Und für die Kontrolle über Minderheiten und religiöse Angelegenheiten, die auf verschiedene Behörden verteilt war, ist neuerdings die Abteilung Vereinigte Arbeitsfront der KP zuständig.10

Auch der Justizapparat wurde umgekrempelt. Im November 2014 verabschiedete das Parlament der autonomen Region Xinjiang eine Neufassung der religiösen Richtlinien von 1994. In 18 neuen Gesetzesartikeln wurde das ohnehin restriktive System für die Zulassung von Imamen und die Kontrolle über die Moscheen und die noch verbliebenen religiösen Bildungseinrichtungen modernisiert.11

2017 folgte dann im Namen des Kampfes gegen den „religiösen Extremismus“ ein neuer Maßnahmenkatalog, der massiv in das Leben vieler Muslime eingreift. Seitdem sind „anormale“ Bärte ebenso verboten wie die Verschleierung in der Öffentlichkeit.

2016 spitzte sich die Lage weiter zu. Chen Quanguo wurde als KP-Chef der Region Xinjiang eingesetzt, nachdem er zuvor den Posten des Parteisekretärs der autonomen Region Tibet bekleidet hatte. Nach seinem Amtsantritt schossen die Ausgaben für den Sicherheitsapparat in die Höhe.12 Spezialeinheiten der Polizei und Spezialtruppen für Aufstandsbekämpfung wurden aufgestockt. Um auch noch im letzten Dorf präsent zu sein, wurden von Mitte 2016 bis Mitte 2017 rund 90 000 Polizisten eingestellt – zwölfmal so viele wie 2009.

Chen Quanguo hat auch das Programm mit dem harmlosen Namen „Familienzeit“ ausgebaut, das regelmäßige und mehrtägige Hausbesuche durch Amtspersonen vorsieht. Die sollen subversives Verhalten aufspüren und zur Anzeige bringen, können aber auch Lektionen in patriotischer Erziehung anordnen. Für die Aktion „Fami­lien­zeit“ sind 1 Million Beamte ­abgestellt – konzentriert auf die ländlichen Gebieten im Süden der Provinz.

Experimentierfeld für Überwachungstechniken

Xinjiang wurde auch zum Experimentierfeld für die digitale Überwachung und den sicherheitstechnischen Einsatz von Big Data.13 Smartphones können jederzeit von mobilen Polizeikontrollen, aber auch an den vielen Checkpoints überprüft werden. Zudem wurde das umfassende System von Videoüberwachung und Gesichtserkennung optimiert.14 Die meisten Uiguren mussten ihren Pass abgeben. Mit der Hoffnung auf Ausreise ist es damit vorbei.

Für Peking geht es nicht nur darum, die Gesellschaft zu überwachen und Fehlverhalten zu ahnden. Die Datenerhebung über die ­„Integrated Joint Operations Platform“ (Ijop) soll in Kombination mit der Untersuchung „ungewöhnlichen“ Verhaltens die Loyalität jeder Einzelperson bemessen, um sie als mehr oder minder großes „Sicherheitsrisiko“ einzustufen.

Ein Kriterium unter vielen ist dabei der Aufenthalt in einem von 26 „Risikoländern“.15 Weitere Verdachtsmomente sind: Kontakt mit Ausländern oder mit Personen, die sich im Ausland aufgehalten haben; Download von WhatsApp; ein Bart; Alkohol- und Nikotin­abstinenz; Fasten im Ramadan; muslimische Vornamen der Kinder.

Namhafte Wissenschaftler, Künstler und sogar prominente Sportler verschwinden von einem Tag auf den anderen – vermutlich in Umerziehungslagern – oder unterliegen Hausarrest. Und die Gerichte fällen extrem harte Urteile. Kürzlich wurde bekannt, dass der frühere Chef des Büros für die Bildungsaufsicht in Xinjiang und ein ehemaliger Präsident der Universität Xin­jiang wegen „separatistischer Umtriebe“ zum Tode verurteilt wurden. Der 2014 verhaftete Wirtschaftswissenschaftler und Schriftsteller Ilham Tohti, ein kritischer Intellektueller, wurde zu lebenslanger Haft verurteilt.

Der harte Kurs zeigt offenbar Wirkung. Nach offiziellen Zahlen sind die Gewalttaten stark zurückgegangen. Die Regierung in Peking preist das neue technologiegestützte Sicherheitskonzept, das mit seinen harten Zwangsmitteln und Unterdrückungsmaßnahmen an die Zeiten der Kulturrevolution erinnert.

Lokale Parteikader und Imame oder Intellektuelle, die vor einigen Jahrzehnten im Konflikt zwischen Bevölkerung und Zentralregierung noch ausgleichend wirken konnten, sind heute zum Schweigen verurteilt. Dieses erzwungene Verstummen ist gefährlich. Denn es trägt dazu bei, dass die Frus­tra­tion der muslimischen Bevölkerung von Xinjiang nur noch weiter anwächst.

1 „,Eradicating ideological viruses’. China’s campaign of repression against Xinjiang’s Muslims“, Human Rights Watch, New York, 9. September 2018.

2 Adrian Zenz, „ ‚Thoroughly reforming them towards a healthy heart attitude‘: China’s political re-education campaign in Xinjiang“, Central Asian Survey, Abingdon-on-Thames, September 2018.

3 „East Turkistan forces cannot get away with impunity“, People’s Daily, Information Office of State Council, Peking, 21. Januar 2002.

4 Siehe „China: State control of religion, update number 1“, Human Rights Watch, März 1998.

5 „Devastating blows: Religious repression of Uighurs in Xinjiang“, Human Rights Watch, 11. April 2005.

6 „China: Gross violations of human rights in the Xinjiang Uighur autonomous region“, Amnesty Interna­tio­nal, 31. März 1999.

7 Siehe Martine Bulard, „Der Wilde Westen von China“, LMd, August 2009.

8 Siehe Tom Phillips, „China: Xi Jinping wants Great Wall of Steel in violence-hit Xinjiang“, The Guardian, London, 11. März 2017.

9 Gardner Bovingdon, „The Uyghurs: Strangers in Their Own Land“, New York (Columbia University Press) 2010.

10 Jérôme Doyon, „Actively guiding religionunder Xi Jinping“, Asia Dialogue, 21. Juni 2018, www.theasiadialogue.com.

11 „The modern Chinese State and strategies of control over Uyghur Islam“, Central Asian Affairs, Band 2, Nr. 3, Washington, D. C., 2015.

12 Adrian Zenz, siehe Anmerkung 2.

13 Josh Chin und Clément Bürge, „Twelve days in Xinjiang: How China’s surveillance State overwhelms daily life“, The Wall Street Journal, 19. Dezember 2018.

14 Siehe René Raphaël und Ling Xi, „Der dressierte Mensch“, LMd, Januar 2019.

15 Ägypten, Afghanistan, Algerien, Aserbaidschan, Indonesien, Iran, Irak, Jemen, Libyen, Malaysia, Nigeria, Pakistan, Russland, Saudi-Arabien, Somalia, Südsudan, Syrien, Tadschikistan, Thailand, Türkei, Turkmenistan, Usbekistan, Vereinigte Arabische Emirate.

Aus dem Französischen von Andreas Bredenfeld

Rémi Castets ist Politikwissenschaftler am Institut d’études politiques (IEP) in Paris und leitet die Fakultät für Chinastudien an der Universität Bordeaux Montaigne.

Le Monde diplomatique vom 07.03.2019, von Rémi Castets