07.03.2019

Die Mörder von Banja Luka

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Die Mörder von Banja Luka

von Sead Husic

Trotz Verbot: Gedenken an den ermordeten David Dragičević in Banja Luka RADIVOJE PAVICIC/ap
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Es sind diese Szenen, die sich ins Gedächtnis brennen. Szenen, die die Machtlosigkeit zeigen, die Verzweiflung, die Hoffnungslosigkeit eines Mannes. Sein Name ist Davor Dragičević. Er steht mit heruntergelassenen Hosen vor einem Kordon von Polizisten in schwerer Schutzkleidung und zeigt die langen, leuchtend weißen Narben an seinen Beinen. Er zeigt den Polizisten, dass er als Soldat schwere Verwundungen erlitten hat im Kampf für diesen Staat, den sie nun schützen. Vor ihm. Einen Staat, der ihm alles genommen hat, was ihm im Leben wichtig war: seinen einzigen Sohn David, der gerade 21 Jahre alt war.

David verschwand am 18. März 2018 in Banja Luka, Bosnien-Herzegowina. Sein Vater gab eine Vermisstenanzeige auf. Am 24. März fand man die Leiche in einem Abwasserkanal. Nur zwei Tage später inszenierten die Behörden eine Pressekonferenz, auf der der Pathologe Željko Karan auftrat und behauptete, dass David Drogen genommen habe und infolgedessen in den Fluss Vrbas gestürzt und ertrunken sei. Der Fluss habe die Leiche abwärts in den Abwasserkanal getrieben. Ein Unglück. Fall geschlossen.

Aber der Vater des jungen Mannes, Davor Dragičević, glaubt das nicht. Er lässt die Leiche ein zweites Mal obduzieren. Österreichische Mediziner stellen in ihrem toxikologischen Befund fest, dass der junge Mann mit den Rasta­zöpfen keine Drogen im Organismus hatte. Darüber hinaus stellt sich heraus, dass David gefoltert und schließlich erwürgt wurde. Sein Vater veröffentlicht die Bilder von dem mit Blutergüssen übersäten Körper im Internet. Davor will, dass die Mörder seines Kindes gefasst werden. Jeden Tag stellt er sich auf den Krajina-Platz und fordert Gerechtigkeit für seinen Sohn. Mittlerweile haben sich ihm hunderttausende Unterstützer angeschlossen – allein auf der Facebook-Seite „Gerechtigkeit für David“ hat er über 300 000 Follower. Seit über einem Jahr demonstrieren jeden Tag tausende Menschen für eine Aufklärung des Falls und bringen dabei ein ganzes politisches System ins Wanken. Es ist der Kampf von Bürgern gegen einen korrupten Staat. Es ist der Kampf Davor gegen Goliath.

Dieser Kampf spielt sich in Banja Luka ab, Hauptstadt der serbischen Teilrepublik Srpska (RS) von Bosnien-Herzegowina. Einem Land, in dem von 1992 bis 1995 Krieg herrschte. Seither stehen sich Serben, Muslime und Kroa­ten wenn nicht feindlich, so doch überwiegend misstrauisch gegenüber. Tausende Verbrecher, die an Massenmorden, Vergewaltigungen, Vertreibungen beteiligt waren, laufen frei herum, arbeiten bei der Polizei, sind Politiker. Das Ende des Kriegs führte nicht zur Versöhnung.

Davor Dragičević kämpfte in dem Krieg aus seiner Sicht dafür, nicht von einer anderen Ethnie unterdrückt zu werden. Aber nun sind seine Feinde nicht mehr Muslime oder Kroaten, sondern serbische Politiker, die, davon ist er fest überzeugt, Verantwortung für die Ermordung seines Sohns tragen. Dra­gičević ist ein einfacher Mann. Er arbeitete als Kellner in einem Restaurant und erzählt in der bosnischen Fernsehsendung „Pressing“,1 dass er genau diese Kaste von Männern bedient hat.

Der mächtigste unter ihnen ist Mi­lo­rad Dodik, der seit fast 20 Jahren über die kleine Serbenrepublik mit knapp einer Million Einwohnern herrscht. Er war Ministerpräsident und Präsident der RS und ist seit Oktober 2018 Vorsitzender des dreiköpfigen Staatspräsidiums von Bosnien-Herzegowina. Es ist ein offenes Geheimnis, dass Dodik ein hochkorruptes System aufgebaut hat und sich mit einer Schar von treu ergebenen Gefolgsleuten umgibt. Sie alle gelangten in den vergangenen Jahrzehnten zu enormen Vermögen. So ist weithin bekannt, dass Dodiks Sohn Igor hinter der IT-Firma „Prointer“ mit Sitz in Banja Luka steht und regelmäßig staatliche Ausschreibungen gewinnt – allein in den vergangenen vier Monaten im Wert von mehr als 1,5 Millionen Euro.2 Natürlich besitzt Dodiks Familienclan Wohnungen und Häuser im ganzen Land und darüber hinaus in Serbiens Hauptstadt Belgrad. Dodik gilt als skrupellos. Kritiker bekämpft er mit allen Mitteln. Journalisten, die über ihn und seine Getreuen berichten, müssen um ihre Gesundheit und ihr Leben fürchten.3

Für diese Dinge hat sich Davor Dragičević nie interessiert. Er tat seine Arbeit und lebte sein Leben. Sein Sohn David dagegen war politisch und prangerte die Zustände in seinem Land öffentlich an. Er ging zum Beispiel auf die Demos „Gerechtigkeit für Nikola und Jovan“. Nikola Djurević und Jovan Arbutina kamen auch unter ungeklärten Umständen ums Leben. Auch hier vermutet man, dass die Behörden hinter der Vertuschung der beiden Todesfälle stecken.

Der 21-jährige Nikola Djurević starb im August 2011. Er fuhr in einem kleinen Fiat Tipo gerade über eine Kreuzung, als ein Audi A4 mit 150 Stundenkilometern in ihn hineinraste. Stanislav Čađo, ehemals Innenminister der RS, soll hinter dem Steuer gesessen haben, doch angeklagt wurde ein arbeitsloser Bäckermeister. Das Gericht in Banja Luka verurteilte ihn zu vier Jahren Haft. Auch der 19-jährige Jovan Arbutina wurde am 17. November 2015 von einem Raser in Banja Luka überfahren. Der Täter kam auf Bewährung frei. Auch hier vermutet man, dass korrupte Beamte und Politiker ihre Finger im Spiel hatten.

„Die Menschen, die Gerechtigkeit für die Opfer fordern, haben längst verstanden, dass die Mächtigen in diesem Land tun und lassen können, was sie wollen“, meint Slobodan Vasković, freier Journalist und einer der bekanntesten Blogger der Region. Er zählt zu den am besten vernetzten Investigativreportern der RS und ist seit Jahren ein scharfer Kritiker von Milorad Dodik.4 „Dodik hat seine privaten Schlägertrupps, die die Drecksarbeit für ihn erledigen“, sagte Vasković beim bosnischen Fernsehsender Face TV.5

Zu Dodiks Schlägern gehören aktive Polizisten und Kriminelle. Ein solcher Trupp soll David Dragičević ermordet haben. Vasković behauptet in seinem Blog, dass der Abteilungsleiter für organisierte Kriminalität, Darko Ilić, die Ermordung von David Dragičević persönlich befohlen hat. Seine rechte Hand, Dubravko Kremenović, habe die Ak­tion dann mit einer Gruppe von 15 Polizisten und Kriminellen aus dem Drogenmilieu in die Tat umgesetzt. Und Innenminister Dragan Lukać hält über alle seine schützende Hand.

Die Brutalität, mit der gegen Kritiker vorgegangen wird, kommt nicht aus dem Nichts. Dragan Lukać beispielsweise gehörte im Jugoslawienkrieg zu einer Spezialeinheit der Polizei, die gerade im Raum Banja Luka für zahlreiche Gräueltaten verantwortlich gemacht wird. Gerade hier vertrieb gleich zu Beginn des Krieges im Mai 1992 die serbische Armee zehntausende kroatische und muslimische Bewohner aus der Stadt, zerstörte alle Moscheen und katholischen Kirchen, tötete massenhaft Einwohner und deportierte allein 8000 Kroaten und Muslime in das Lager Manjača,6 das ganz in der Nähe der Stadt liegt. Zeugen berichteten vor dem Den Haager Kriegsverbrechertribunal für das ehemalige Jugoslawien von schrecklichen Folterungen und Tötungen.7

Es gibt kurze Sequenzen auf You­Tube, auf denen Dragan Lukać in Uniform zu sehen ist. Ein gefangener Muslim steht vor ihm. Er sieht genauso jung aus wie die Mordopfer David, Jovan und Nikola. Die serbischen Soldaten haben ihm einen Fez auf den Kopf gesetzt, um ihn zu erniedrigen. Dann befiehlt Lukać, dass sie den jungen Mann wegbringen sollen.8 Der Junge wird erschossen.

Heute tritt Lukać als Verteidiger der Serbischen Republik auf. Immer wieder sagt er, dass die Proteste „Gerechtigkeit für David“ von Gegnern des serbischen Volks, von „George-Soros-Aktivisten“ und aus Sarajevo gesteuerten Banden benutzt werden, um die Serbische Republik zu destabilisieren und schließlich zu stürzen. Vor allem wirft er das dem Anwalt von Davor Dragičević, Ifet Feraget, vor. Im Jugoslawienkrieg wurde der Muslim Feraget mit seiner Familie aus Banja Luka vertrieben.

„Das sind alles Ablenkungen, wir haben Beweise, dass David Dragičević gefoltert und ermordet wurde, und ich fordere die Staatsanwaltschaft auf, ihre Arbeit zu tun“, erwidert Feraget auf einer Pressekonferenz. Davor Dragičević steht neben ihm. Die beiden sind Freunde geworden. Der serbische Exsoldat und sein muslimischer Anwalt.

Jeden Tag berichten sämtliche Kanäle in Bosnien über die Demonstrationen in Banja Luka. Auf den Bildern sieht man, dass sie den Krajina-Platz in „David-Dragičević-Platz“ umbenannt haben. Sie zeigen Menschen, die mit hochgereckten Fäusten den Polizisten entgegenrufen: „Gerechtigkeit für David!“ Künstler haben die Skulptur einer mannshohen Faust auf den Platz gestellt, davor liegt ein großes Herz aus Blumen. Und dann singen sie alle das Lied „Kind im Ghetto“, das David geschrieben hat: „Es scheint, ich werde nicht weit kommen, denn ich bin nur die Figur einer Geschichte, ich geh nirgendwo hin, jemand hat meinetwegen Schaden genommen, ich bin nur ein Kind im Ghetto.“

Am Weihnachtsabend räumt die Polizei den Platz. Sie geht mit äußerster Härte vor, knüppelt Leute nieder, räumt die Gedenkstätte für David und verhaftet Davor Dragičević mit der Begründung, er gefährde die nationale Sicherheit. Unter den Polizisten bewegen sich auch eine ganze Menge Männer ohne Uniform. Niemand weiß, wer sie sind. Man sieht nur, dass sie wahllos auf die Demonstranten einschlagen. Es soll endlich wieder Ruhe einkehren.

Als Davor Dragičević am nächsten Tag wieder freigelassen wird, stellt er sich sogleich an die Spitze der erneuten Proteste. Das macht die Leute um Dodik mehr als nervös, besonders als kurz darauf ein Telefonat zwischen dem Pathologen Željko Karan und Dodik auf verschiedenen sozialen Netzwerken veröffentlicht wird. Karan fragt unter anderem: „Herr Präsident, kann ich davon ausgehen, dass das Ganze endlich beendet ist, vielleicht können wir uns treffen und das weitere Vorgehen besprechen?“

Nur Tage später taucht Davor Dra­gi­čević unter, weil er sich nicht mehr sicher fühlt. Ab und an meldet er sich jetzt über Facebook und sagt, dass es ihm gutgeht. Sie würden weiterkämpfen, sagt er, bis zum Ende. Niemand weiß, wo sich Davor aufhält. Nicht einmal sein Anwalt Feraget, wie er in einem Telefonat versichert.

Slobodan Vasković, der Investigativreporter, schreibt in seinem Blog die Geschichte weiter. Er erklärt, dass Dodik und seine Leute eine Menge zu verlieren haben und nie im Leben ihre Macht aufgeben werden. Dodik unterhält enge geschäftliche Beziehungen zu Serbiens Präsident Alexander Vučić, auch ein Ultranationalist aus Kriegstagen. Während des Kriegs schoss er von den Anhöhen über Sarajevo auf die Stadt. Die beiden, so schreibt Vasković, stützen einander, um aus dem geschundenen Volk noch mehr Geld herauszupressen.

Derweil zieht die Geschichte über den mutigen Davor Dragičević ihre Kreise in der Weltpresse. Häufig ist zu lesen, wie der Mord an David die Menschen aller Ethnien zusammenbringt. Wie sich Serben, Muslime und Kroaten gegen die Nationalisten auf allen Seiten stellen. Das ist die Seite der Story, die besonders zieht, weil sie den Leserinnen und Lesern trotz allem ein gutes Gefühl gibt.

Und dann sieht man auf YouTube ein Video über Slobodan Vasković, den Reporter, der für die Wahrheit kämpft. Vasković wird nicht gern auf dieses Video angesprochen. Erst als es vor einigen Jahren publik wurde, gab er zu, dass das ein schrecklicher Fehler war, was er getan hat. Aber er habe sich geändert. In dem Video ist zu sehen, wie er in jenem Juli 1995 in Srebrenica den muslimischen Gefangenen Abdullah Pur­ković interviewt oder vielmehr für sein Interview benutzt. Hinter Purković sieht man serbische Soldaten stehen, der Mann hat Angst. Vasković fragt: „Wie fühlst du dich, jetzt, wo die serbische Armee hier ist?“ Als Abdullah beginnt, ihm seine Angst zu schildern, schlägt er ihm mit der flachen Hand auf die Schulter und sagt: „Hey, was redest du, Mann, das Volk ist glücklich, weil die serbische Armee sie befreit hat von den islamischen Terroristen!“ Der Mann zuckt zusammen. „Natürlich, gut, gut.“9

Während Vasković dieses Interview führte, wurden die ersten Männer in Srebrenica abgeführt und später erschossen. Vasković aber sagt, er selbst habe davon nichts mitbekommen.

1 Siehe https://www.youtube.com/watch?v=Tjh6-fHtOuA.

2 Siehe den Blog http://slobodanvaskovic.blogspot.com/2016/08/igor-dodik-stoji-iza-firme-prointer.html.

3 Siehe den Blog http://slobodanvaskovic.blogspot.com/.

4 Siehe Jean-Arnault Dérens, „Ein schwarzes Loch in Europa“, LMd, September 2008.

5 Siehe https://www.youtube.com/watch?v=KGz_vDEqS3g.

6 Siehe: Final report of the United Nations Commis­sion of Experts, established pursuant to security council resolution 780 (1992), Annex VIII - Prison camps; Under the Direction of: M. Cherif Bassiouni; S/1994/674/Add. 2 (Vol. IV), 27 May 1994, Annex VIII: Prison camps (part 1/10), (paragraf 1-273).

7 Siehe die Anklageschrift des Den Haager Kriegsverbrechertribunals für das ehemalige Jugoslawien gegen Slobodan Miloševic: www.icty.org/x/cases/slobodan_milosevic/ind/en/mil-ii011122e.htm.

8 Siehe https://www.youtube.com/watch?v=qhESEKUqo3s.

9 Siehe https://www.youtube.com/watch?v=qhESEKUqo3s.

Sead Husic lebt als freier Autor und Schriftsteller in Berlin, zuletzt erschien von ihm der Roman „Gegen die Träume“, Berlin (Divan) 2018.

© LMd, Berlin

Le Monde diplomatique vom 07.03.2019, von Sead Husic