Politik der vollendeten Tatsachen in Kinshasa
Mit zwei Jahren Verspätung hat die DR Kongo einen neuen Präsidenten
von François Misser
Kaum hatte die Unabhängige Nationale Wahlkommission (Ceni) am 10. Januar 2019 die vorläufigen Ergebnisse der kongolesischen Präsidentschaftswahlen vom 30. Dezember 2018 veröffentlicht, hagelte es Proteste. Die Afrikanische Union (AU) forderte eine Neuauszählung der Stimmen, musste sich dann aber dem Urteil des Verfassungsgerichts beugen. Entgegen den Tatsachen wurde Félix Tshisekedi, der Kandidat des Bündnisses Cap pour le changement (CACH), mit 38,57 Prozent zum Sieger erklärt. Martin Fayulu, der Kandidat des zweiten Oppositionsbündnisses Lamuka („Wacht auf“), folgte mit 34,83 Prozent, Emmanuel Ramazani Shadary, der Wunschkandidat des bisherigen Präsidenten Joseph Kabila, erhielt 23,84 Prozent.
Dabei sind Zweifel mehr als angebracht. Die repräsentative Umfrage der angesehenen Nationalen Konferenz der kongolesischen Bischöfe (Cenco)1 unter 13,1 Millionen Wählerinnen und Wählern, die am 18. Januar veröffentlicht wurde, ergab nämlich ein ganz anderes Bild: Mit Fayulu an der Spitze (62,11 Prozent), gefolgt von Tshisekedi (16,93 Prozent) und Ramazani Shadary (16,88 Prozent). Die Auszählungsmethode hatte sich bereits in Ghana (2011 und 2016), Nigeria (2011 und 2015), Tunesien (2014), Burkina Faso und der Elfenbeinküste (beide 2015) bewährt.
Das offizielle Ergebnis wurde im letzten Moment zwischen Kabila und Tshisekedi ausgehandelt. Angesichts des Misserfolgs seines Kronprinzen Shadary wollte sich Kabila lieber mit dem Zweitplatzierten einigen und ihm seinen Stuhl überlassen. Die gleichzeitig stattfindenden Parlamentswahlen, deren Ergebnis ebenfalls von der Wahlkommission bestätigt wurde, verschafften den Anhängern des scheidenden Präsidenten eine komfortable Mehrheit von mehr als 300 von 500 Abgeordnetensitzen.
Félix Tshisekedi fehlt das Charisma seines verstorbenen Vaters Étienne Tshisekedi, des großen Gegenspielers von Diktator Mobutu und Joseph Kabilas Vater Laurent Kabila. Bis zu seinem Tod 2017 war Étienne Tshisekedi Chef der von ihm 1982 gegründeten Union für Demokratie und sozialen Fortschritt (UDPS). In den 1990er Jahren bekleidete er mehrfach, aber immer nur für kurze Zeit das Amt des Ministerpräsidenten. Sein Sohn Félix gilt eher als angepasst und hat sich immer wieder um eine Annäherung an das Kabila-Lager bemüht. Im Gegensatz zu seinem erfolgreichen Konkurrenten Fayulu ist er weder vermögend noch kann er ein abgeschlossenes Studium vorweisen.
Fayulu, der bei ExxonMobil einen Leitungsposten innehatte, geht der Ruf voraus, unkontrollierbar zu sein. In seiner politischen Karriere machte er keine Zugeständnisse – weder an das Mobutu-Regime (1965–1997) noch an die Kabila-Dynastie. Und dass er von zwei einflussreichen Persönlichkeiten, dem früheren Gouverneur von Katanga, Moise Katumbi, und Exvizepräsident Jean-Pierre Bemba unterstützt wurde, machte ihn noch gefährlicher. So fiel Kabilas Wahl auf Tshisekedi.
Das ganze Prozedere wurde nicht nur auf nationaler Ebene aufmerksam verfolgt. Zwischen den kongolesischen Behörden, überstaatlichen Organisationen und Regionalmächten wie Südafrika entspann sich eine Diskussion, wie man auf die Manipulationsvorwürfe reagieren sollte. Nur die Kritik des französischen Außenministers Jean-Yves Le Drian geriet in diesem interafrikanischen Dialog schnell in den Hintergrund.
Nach der Veröffentlichung der vorläufigen Ergebnisse am 10. Januar äußerte der sambische Staatspräsident Edgar Lungu als Vorsitzender der Entwicklungsgemeinschaft des südlichen Afrika (SADC) – zu der die Demokratische Republik Kongo gehört – öffentlich „ernsthafte Zweifel“. Er erklärte, „dass eine nochmalige Auszählung zugleich Sieger und Verlierer beruhigen könnte“. Auch Denis Sassou Nguesso, Präsident der benachbarten Republik Kongo und derzeit Vorsitzender der Internationalen Konferenz der Region der Großen Seen (ICGLR) – deren Mitglied die DR Kongo ebenfalls ist – empfahl Kinshasa „die Neuauszählung der Stimmen zu erwägen, um transparente Ergebnisse zu gewährleisten“. Und die Afrikanische Union verkündete, sie werde unter Führung ihres Präsidenten, des Ruanders Paul Kagamé, am 21. Januar eine Delegation nach Kinshasa entsenden.
Die einzige abweichende, jedoch gewichtige Stimme in diesem Konzert der Skeptiker kam aus Südafrika. Präsident Cyril Ramaphosa beglückwünschte die kongolesischen Parteien, dafür gesorgt zu haben, dass die Wahlen friedlich und ohne Einmischung verlaufen seien. Am 14. Januar rief die südafrikanische Ministerin für internationale Beziehungen und Zusammenarbeit Lindiwe Sisulu die internationale Gemeinschaft auf, „die legalen inneren Prozesse zu respektieren“. Am 20. Januar, einen Tag vor dem angekündigten Besuch einer AU-Delegation, blies das kongolesische Verfassungsgericht das Treffen ab und verkündete Tshisekedis Wahlsieg. Nach Südafrika haben inzwischen auch alle anderen afrikanischen Länder den neuen kongolesischen Staatschef anerkannt.
Seit Patrice Lumumba, der erste Ministerpräsident des unabhängigen Kongo, im Auftrag des belgischen Geheimdienstes 1961 umgebracht wurde, hat das Land keinen demokratischen Machtwechsel erlebt. Joseph Kabila war seit 2001 an der Macht und hätte im Dezember 2016 abtreten müssen. Zwei Jahre lang hat er die Präsidentschaftswahlen immer wieder verschoben und das mit diversen logistischen Problemen begründet.2 Von daher könnte man es schon als Erfolg verbuchen, dass überhaupt Wahlen stattgefunden haben.
Am Ende überwog die Sorge um die Stabilität des Landes, das wegen seiner Größe (81 Millionen Einwohner), seiner zentralen Lage und seiner reichen Rohstoffvorkommen für ganz Afrika wichtig ist. Der wasserreichste Fluss des Kontinents fließt durch den Kongo. Der weltweit größte Lieferant von Kobalt und große Kupferproduzent wird sogar schon als „das Saudi-Arabien des Lithiums“ bezeichnet, das unter anderem zur Herstellung von Batterien für Elektrofahrzeuge benötigt wird.
Doch die DR Kongo ist immer noch vom „Afrikanischen Weltkrieg“ (1996–2002) gezeichnet, an dem Ruanda, Uganda, Angola, Namibia, Tschad und Simbabwe beteiligt waren. Die Nachbarländer fürchten, dass eine humanitäre Krise in der DR Kongo einen Flüchtlingsstrom auslösen könnte. Die Befürchtungen sind nicht unbegründet. In der Region Kivu haben diverse in- und ausländische bewaffnete Gruppen, aber auch Marodeure der kongolesischen Armee (FARDC) die Wahlen behindert. In den Wahlkreisen Beni und Butembo in Nord-Kivu gab es gar keine Abstimmung.
In Süd-Kivu liefern sich die burundischen Rebellen der Nationalen Befreiungskräfte (FNL) immer wieder Scharmützel mit der burundischen Armee. Humanitäre Organisationen schätzen die Zahl der Binnenflüchtlinge auf mehr als 4,5 Millionen, davon 1,3 Millionen allein in der Zentralregion Grand Kasai, wo seit 2016 bei Zusammenstößen der FARDC mit Rebellengruppen 3000 Menschen getötet worden sein sollen.
Einige hunderttausend Bewohner Kasais sind nach Angola geflohen, wo kongolesische Garimpeiros (illegale Edelsteinsucher) die Diamantenminen der Provinzen Lunda Norte und Lunda Sud stürmten. Unter Berufung auf das Recht, seine Bodenschätze zu schützen, hat Angola zwischen September und Dezember 2018 im Rahmen der Operation „Transparência“ über 400 000 Personen ausgewiesen, die meisten waren Kongolesen.
Tshisekedi, der der Ethnie der Luba in Kasai angehört, weckt immerhin die Hoffnung auf eine friedliche Lösung. Ende Januar, weniger als eine Woche nach seinem Amtseid, haben 600 Milizionäre ihre Waffen niedergelegt: Kalaschnikows, Jagdgewehre, Macheten, Stöcke und Pfeile; sogar Fetische und Amulette wurden abgegeben.
In der benachbarten Republik Kongo, die nur 5 Millionen Einwohner hat, beobachtet man die Situation am anderen Ufer des Kongoflusses besonders aufmerksam. Bei der Operation „Mbata ya bakolo“ („Die Ohrfeige der Älteren“) wurden schon 2014 mehr als 179 000 Staatsangehörige der DR Kongo ohne Aufenthaltsstatus brutal ausgewiesen.3
Mitte Dezember 2018 kam es in Yumbi in der Provinz Mai-Ndombe, wo die Wahl ebenfalls ausgesetzt wurde, zu Zusammenstößen. Dabei sollen mindestens 890 Einwohner getötet worden sein, 16 000 Personen sind nach UN-Angaben in die Republik Kongo geflüchtet. Die Angst vor einem Exodus aus der DR Kongo kennt man auch in Ruanda, wo Ende Dezember 2018 mehr als 79 000 kongolesische Flüchtlinge gezählt wurden, die in mehreren Etappen ins Land gekommen waren.4
Südafrika wiederum hat mit der Anerkennung der kongolesischen Wahlen seine Sonderrolle bestätigt. Unter Berufung auf das Prinzip der staatlichen Souveränität hat das Land, das von 2019 bis 2020 als nichtständiges Mitglied im UN-Sicherheitsrat sitzt, die am 4. Januar von Frankreich einberufene Sitzung zu den Wahlen in der DR Kongo sabotiert und die Annahme eines gemeinsamen Kommuniqués verhindert. Unterstützung erhielt Pretoria von den anderen beiden afrikanischen Mitgliedern des Sicherheitsrats, der Elfenbeinküste und Äquatorialguinea.
Diese Haltung entbehrt nicht eines gewissen Zynismus. Durch die Vereinbarung mit Tshisekedi wahrt Kabila seinen Einfluss. Achtzehn Jahre war der frühere kongolesische Präsident für Südafrika ein bereitwilliger Partner. 2013 unterschrieb er einen internationalen Vertrag, der der südafrikanischen Elektrizitätsgesellschaft Eskom mehr als 2500 Megawatt der Strommenge des geplanten Wasserkraftwerks Inga III am Kongo garantiert.5
Außerdem hat Kabila mehreren südafrikanischen Firmen ohne Ausschreibung Ölförderlizenzen erteilt. Eine erhielt Förderrechte im Kongobecken, einschließlich des Salonga-Nationalparks. Nach China ist Südafrika zweitgrößter Handelspartner der DR Kongo. Trotz der wachsenden Konkurrenz durch die Häfen von Benguela (Angola) und Walvis Bay (Namibia) wird fast die gesamte Exportmenge an kongolesischem Kupfer und Kobalt über südafrikanische Häfen verschifft.
Für die Afrikanische Union war der Ausgang der kongolesischen Wahlen zweifellos eine Demütigung. Als sie 2002 die Nachfolge der 1963 gegründeten Organisation der Afrikanischen Einheit (OAU) antrat, verkündete sie, dass „transparente und glaubwürdige Wahlen ein Schlüsselelement darstellen, um das grundlegende und universelle Recht auf Mitbestimmung und demokratische Regierungsführung zu gewährleisten“.6 Sie plante die Entsendung von eigenen Wahlbeobachtern. In der Praxis überlässt sie diese Aufgabe meistens jedoch regionalen Unterorganisationen.
Die Einmischung der Afrikanischen Union in die kongolesischen Wahlen war der einmalige (aber missglückte) Versuch, eine Krise zu lösen. Dahinter stand wohl vor allem Präsident Kagamé. Der scheidende ruandische Staatschef hegt keine große Sympathie für Kabila, dem er vor allem vorwirft, Hutu-Rebellen auf seinem Territorium aufzunehmen. Um seine Gunst zu gewinnen, hat Kabila Oberst Ignace Nkaka, Sprecher der Demokratischen Kräfte zur Befreiung Ruandas (FDLR), und den Geheimdienstchef der Rebellenorganisation, Oberstleutnant Théophile Abega, an Ruanda ausgeliefert. Beide waren am 15. Dezember von der kongolesischen Armee in Bunagana (Nord-Kivu) verhaftet worden.
Am Ende scheinen sich alle Staatschefs mit dem Sieg eines Kandidaten abgefunden zu haben, der wahrscheinlich nicht mehr als 17 Prozent der Stimmen bekommen hat. Aber wird sich auch die kongolesische Bevölkerung mit dem „Wahlputsch“ abfinden, von dem Martin Fayulu spricht?
1 Siehe François Misser, „Katholiken gegen Kabila“, LMd, April 2018.
2 Siehe Sabine Cessou, „Countdown in Kinshasa“, LMd, Dezember 2016.
4 „Refugees and asylum seekers from DRC“, United Nations High Commissioner for Refugees (UNHCR).
Aus dem Französischen von Claudia Steinitz
François Misser ist Journalist.