Die Wut der Straße
In vielen Staaten des Westbalkans haben die Bürger ihre korrupten Regierungen satt
von Jean-Arnault Dérens und Simon Rico
Serbien leistet sich einen neuen Frühling im Winter. Er erinnert an die Jahreswende von 1996/97, als zehntausende Bürger gegen das Milošević-Regime demonstrierten. Die aktuelle Protestbewegung gegen Aleksandar Vučić und seine autoritäre unsoziale Regierungspolitik begann am 8. Dezember 2018 erst in Belgrad, doch inzwischen gehen auch in allen anderen Städten des Landes jeden Samstag die Massen auf die Straße.
In Belgrad endet der Demonstrationszug immer vor dem Gebäude des Serbischen Rundfunks (Radio-Televizija Srbije, RTS), dem medialen Symbol des staatlichen Kontrollapparats, und fordert „fünf Minuten Sendezeit“. Sie verlangen die Aufklärung des Mords an Oliver Ivanović, den serbischen Oppositionellen aus dem Kosovo, der am 16. Januar 2018 erschossen wurde, oder gleich den Rücktritt des Innenministers.
„Seit 30 Jahren müssen die serbischen Bürger für Freiheit und Gerechtigkeit auf die Straße gehen“, klagt der Schauspieler Branislav Trifunović, der zu Beginn jeder Demonstration den Volkstribun gibt. „Die Bewegung ist unsere letzte Chance, wenn nichts passiert, geht es mit dem Land endgültig bergab.“ Trifunović richtet sich mit scharfen Worten an die Führer der Parteien, die gegenwärtig die – zersplitterte – Opposition im Parlament repräsentieren und sich im Übrigen selten bei den Protesten blicken lassen. Borko Stefanović, Gründer und Vorsitzender der Bewegungspartei Die Linke Serbiens (Levica Srbije), ergänzt: „Die Menschen lehnen alle Parteien ab, die an der Macht gewesen sind, weil sie alle in Korruptionsaffären verstrickt sind.“ Stefanović wurde am 23. November 2018 mit einer Eisenstange angegriffen, was den Anstoß zu den Demonstrationen gab.
Kritik ruft auch Vučić’ neoliberale Wirtschaftspolitik hervor, die die Demonstranten an die Maßnahmen der verschiedenen Regierungen erinnert, die nach 2000 das Ruder übernommen hatten. Vučić, der ursprünglich aus der rassistischen, extrem rechten Ecke kommt – er war von 1993 bis 2008 Mitglied in der Serbischen Radikalen Partei –, wirbt seit nunmehr zehn Jahren mit der rechtskonservativen Serbischen Fortschrittspartei für die europäische Integration. Vučić kontrolliert das Land mit einem engen Zirkel von Günstlingen. Frei von ideologischen Überzeugungen verfolgen seine Handlanger nur das Ziel, sich so schnell wie möglich zu bereichern. Dafür schröpfen sie systematisch das Land, mittels Repressionen und Klientelwirtschaft.
Die Journalistin Jovana Gligorijević von der Wochenzeitung Vreme, einem der letzten oppositionellen Organe, meint zu den Protesten: „Die Bewegung nimmt den Leuten die Angst.“ Bei der Arbeit zum Beispiel würden sich viele nicht trauen, das Regime zu kritisieren, weil sie fürchten, ihren Job zu verlieren: „Diese bleierne Weste bekommt langsam Risse.“ Und dass Brüssel stillhält, obwohl man doch wisse, wie Vučić Serbien regiert, habe wohl damit zu tun, dass man ihm als Einzigen zutraut, für Stabilität zu sorgen. Serbiens neue Opposition habe begriffen, dass sie vonseiten der EU nicht auf Unterstützung zählen könne.
Studierende gegen Edi Rama
Aus dieser Sicht ist die Lage nicht viel anders als 1996: Damals, direkt nach der Unterzeichnung des Friedensabkommens von Dayton im Dezember 1995, mit dem nach dreieinhalb Jahren der Krieg in Bosnien und Herzegowina beendet wurde, genoss Slobodan Milošević ebenfalls die Unterstützung der westlichen Politiker. Von Aleksandar Vučić erwarten sie nun, dass er die Kosovo-Frage löst, indem er ein „historisches“ Abkommen mit Präsident Hashim Thaçi in Prishtina schließt. Der serbische Staatschef ist ein Meister in der Kunst, die EU unter Druck zu setzen, indem er seine Nähe zu Putin demonstriert, den er Mitte Januar mit großem Zeremoniell empfangen hat. Vor allem hat er die neoliberale Wende der serbischen Wirtschaft beschleunigt, als er gleich nach seinem Amtsantritt als Vizeregierungschef 2012 das Arbeitsrecht gelockert hat.
„Wir wollen in einem normalen Land leben“, erklärt uns in Belgrad ein Student mit gelber Weste, die ihn als Helfer des Ordnungsdienstes ausweist. „Heute gehen alle ins Exil, weil es unmöglich ist, hier Arbeit zu finden oder sich selbstständig zu machen, wenn man nicht Mitglied der Fortschrittspartei ist.“ Wie alle Länder auf dem Balkan leidet Serbien unter einer neuen Auswanderungswelle, die beinahe schon einem Exodus gleichkommt.1 Die Regierung von Ministerpräsidentin Ana Brnabić lobt derweil unermüdlich das Wirtschaftswachstum und spricht davon, dass unterm Strich mehr Arbeitsplätze geschaffen worden seien.
Aber dies ist das Ergebnis großzügiger Staatshilfen für ausländische Unternehmen, die diese Prämien erst einstreichen und sich dann aus dem Staub machen. Jüngstes Beispiel ist der südkoreanische Kabelhersteller Yura, der einen Teil seiner Produktion nach Albanien verlagerte, nachdem er für jeden neu geschaffenen Arbeitsplatz in seiner serbischen Fabrik in Leskovac 7000 Euro Direkthilfe bekommen hatte.2 In den vielen neuen Betrieben auf dem Balkan spielt das Arbeitsrecht generell keine Rolle, flexible Arbeitsverhältnisse sind die Regel, und die Realeinkommen liegen selten über 200 bis 300 Euro im Monat.
Im Dezember erlebte Albanien die größten Studentenproteste seit Ende des Kommunismus. Auslöser war eine Erhöhung der Studiengebühren, die wiederum die Folge eines Gesetzes ist, das die sozialdemokratische Regierung von Edi Rama ein Jahr zuvor verabschiedet und die EU begrüßt hatte. Dieses Gesetz sieht vor, die Universitäten für den Markt zu öffnen und den Wettbewerb unter den Hochschulen zu fördern. Edi Rama, der seit 2013 regiert, kennt nur ein Rezept für die „Modernisierung“ Albaniens: öffentlich-private Partnerschaften, die es Unternehmern mit besonderer Nähe zur Sozialistischen Partei ermöglichen, schnell reich zu werden.
Der Zorn der Studierenden richtet sich explizit gegen diese Entwicklung. Zugleich lehnen sie die beiden Parteien ab, die sich seit dem Sturz des kommunistischen Regimes und den ersten freien Wahlen von 1991 an der Macht ablösen: die Sozialistische Partei (PS) und ihr „feindlicher Bruder“ von rechts, die Demokratische Partei (PD). Nachdem ein Vierteljahrhundert lang alles verunglimpft wurde, was öffentlich kontrolliert wurde, während Privatbesitz als Allheilmittel galt, sehen viele Beobachter in dem studentischen Protest den Aufstieg einer neuen „Nachwende“-Generation. Edi Rama musste zurückrudern, etlichen Forderungen nachgeben und am 28. Dezember 2018 die Hälfte seines Kabinetts entlassen. Während immer noch viele Albaner das Land verlassen, wollen die rebellierenden Studentinnen und Studenten bleiben – wenn sich die Verhältnisse ändern.
In der Republika Srpska, der serbischen Teilrepublik in der Föderation Bosnien und Herzegowina, protestierten monatelang tausende Menschen gegen das Regime von Milorad Dodik.3 Sie fordern Gerechtigkeit und die Wahrheit über den Tod von David Dragičević, der unter ungeklärten Umständen in der Nacht vom 17. auf den 18. März 2018 ermordet wurde (siehe den Artikel auf Seite 11). Ende Dezember untersagten die Behörden alle Versammlungen, nahmen Dutzende Personen fest und entsandten Spezialeinheiten der Polizei, um alle zu vertreiben, die Kerzen im Schnee aufstellen wollten. Der Westen hat Milorad Dodik lange unterstützt. Und Dodik selbst weist hartnäckig jegliche Beschwerde zurück und unterstellt seinen Kritikern, sie wollten Srpska „destabilisieren“.
Die Bürgerinnen und Bürger der Westbalkanländer haben genug von der nationalistischen martialischen Rhetorik. Von der basisdemokratischen Protestbewegung im Frühjahr 2014 in Bosnien und Herzegowina bis zu der unvollendeten „bunten Revolution“ in Mazedonien 2016 – immer geht es um die gleichen Themen: das Ende wirtschaftlicher und sozialer Ausgrenzung in Europa und die Möglichkeit, im eigenen Land ein würdevolles Leben führen zu können.
Denn der Exodus geht weiter. Viele träumen davon, nach Westeuropa zu gelangen, bleiben aber in Ungarn, der Slowakei oder in Tschechien stecken, die sich seit der Wende in Werkbänke an der Peripherie verwandelt haben, weil dort immer mehr Fabriken als Subunternehmer westliche Firmen mit Billiglöhnen und sehr „flexiblen“ Arbeitsbedingungen locken.4 Die Rebellion gegen diese Art der Politik könnte die ganze Region erfassen. Denn die Menschen wollen sich nicht länger als Europäer zweiter Klasse behandeln lassen.
1 Siehe Jean-Arnault Dérens und Laurent Geslin, „Kein Bleiben in Banja Luka“, LMd, Juni 2018.
4 Siehe Pierre Rimbert, „Die ökonomische Osterweiterung“, LMd, Februar 2018.
Aus dem Französischen von Ursel Schäfer
Jean-Arnault Dérens und Simon Rico sind Journalisten beim Courrier des Balkans.
Unzufriedene Ungarn
Am 1. Januar trat in Ungarn ein neues Arbeitsgesetz in Kraft. Die Protestbewegung, die sich danach formierte, wird von den Gewerkschaften getragen, die bislang einen schlechten Ruf hatten, weil sie mit der Einparteienherrschaft vor 1989 assoziiert wurden. Nur 9 Prozent der ungarischen Arbeitnehmer sind Mitglied in einer Gewerkschaft. Nun hat es eine neue Generation von Gewerkschaftsführern geschafft, tausende Menschen gegen Viktor Orbáns autoritäres „Sklavengesetz“ zu mobilisieren.
Nach dem neuen Gesetz sollen bei einer 40-Stunden-Woche bis zu 400 Überstunden pro Jahr verlangt werden können – bisher waren es 250 und zu Beginn der 1990er Jahre noch 144. Der Magyar Szakszervezeti Szövetség (MaSZSZ), die größte Arbeitnehmerorganisation des Landes, fürchtet, dass sich die Arbeitsbedingungen deutlich verschlechtern werden.
Viktor Orbán, der behauptet, er verteidige das Volk gegen den „Neoliberalismus“, und der gern gegen die Europäische Union, den Internationalen Währungsfonds und die Weltbank wettert, hatte es auf einmal sehr eilig, die Arbeitnehmerrechte auszuhöhlen. Er sagt, er wolle „unsinnige administrative Hindernisse“ beseitigen, damit alle, die es wollten, „mehr arbeiten können, um mehr zu verdienen“. Das hat der französische Präsident Nicolas Sarkozy früher auch immer gepredigt, der übrigens am 15. Dezember 2018, drei Tage nach Verabschiedung des Gesetzes, bei Orbán zu Besuch war. Worum es bei den Treffen der beiden ging, ist jedoch nicht bekannt.
Mit dem Gesetz reagiert die Fidesz-Partei auf den Arbeitskräftemangel in Ungarn. Nach Schätzungen von Demografen haben seit Beginn der 2010er Jahre mehr als 600 000 Menschen (bei einer Gesamtbevölkerung von 9,8 Millionen) das Land verlassen, 350 000 davon arbeiten im Vereinigten Königreich, in Deutschland und in Österreich. Zudem sind Länder wie Polen, Tschechien und Deutschland, das seinen Arbeitsmarkt für Menschen aus der Ukraine öffnen will, besser auf die Aufnahme von Arbeitskräften aus dem Osten vorbereitet. Wegen dieser Konkurrenz gelingt es Ungarn nicht, genügend „kulturell integrierbare Arbeitnehmer“ aus Nachbarländern anzuziehen, wie es der Wirtschaftsminister gern hätte.
Für die Forderungen der Arbeitnehmer und Gewerkschaften ist diese Situation günstig. Nach einer historischen Streikwoche bekamen 13 000 Audi-Beschäftigte am 31. Januar eine Lohnerhöhung von 18 Prozent. Kurz zuvor mussten die 4000 Beschäftigten von Mercedes-Benz nicht einmal die Fließbänder anhalten, um eine Gehaltserhöhung von 20 Prozent zu erreichen. Und die Verhandlungen mit den 7000 Beschäftigten von Bosch dauerten nur sechs Stunden, bis die Firmenleitung fast alle ihre Forderungen erfüllt hat.
Im öffentlichen Dienst, wo viele Überstunden anfallen und die Beschäftigten fürchten, dass sie von dem neuen Gesetz stark betroffen sein werden, beobachtet man diese Entwicklungen sehr genau und träumt zugleich von einem Generalstreik. Mehrere Lehrer- und Polizeigewerkschaften haben schon Streikkomitees eingerichtet.
⇥Corentin Léotard