07.03.2019

New Deal für Europa

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New Deal für Europa

von Yanis Varoufakis

Hans-Christian Schink, Win Sein Taw (2), Mudon; Serie Burma, 2016, C-Print, 178 x 211 cm
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Das Jahr 2008 war gewissermaßen das 1929 unserer Generation. Es markierte den Beginn der globalen Finanzkrise, die in ganz Europa eine fatale Kettenreaktion auslöste. 2010 hatte sie das Fundament der Eurozone bereits irreparabel beschädigt, und das politische Establishment sah sich gezwungen – gegen seine eigenen Regeln und wider alle Logik –, die Banken zu retten. 2013 lag dann die neoliberale Ideologie, bis dahin Legitimationsbasis der EU-technokratischen Oligarchie, endgültig in Trümmern. Sehr viele Menschen in Europa landeten im Elend, weil der von Konservativen wie von Sozialdemokraten praktizierte Sozialismus für die Financiers eine Kehrseite hatte: die gnadenlose Sparpolitik zulasten der übrigen Bevölkerung.

Vor dieser Politik kapitulierte im Juli 2015 die Syriza-Regierung von Ministerpräsident Alexis Tsipras. Die Folge war nicht nur eine Spaltung der Linken, sondern auch das Ende der kurzlebigen Hoffnung, dass die progressiven Kräfte überall auf die Straße gehen und die Kräfteverhältnisse in Europa nachhaltig verändern würden.

Wut und Hoffnungslosigkeit hinterließen ein politisches Vakuum, in dem sich die organisierte Misanthropie einer nationalistischen Internationale verbreiten konnte, die alsbald in ganz Europa triumphierte. Was jenseits des Atlantiks Donald Trump sehr erfreute.

Angesichts einer politischen Klasse, deren Agieren zunehmend an die unglückselige Weimarer Republik erinnert, und eines hartnäckigen Rassismus, den die Deflationskrise ausgebrütet hat, droht die Europäischen ­Union auseinanderzubrechen. Da Angela Merkel ihren politischen Abschied eingeleitet und sich Emmanuel Macrons EU-Agenda als Totgeburt erwiesen hat, könnten die Europawahlen im Mai für die progressiven Kräfte eine letzte Chance sein, auf gesamteuropäischer Ebene etwas zu bewegen.

Diese Chance will das 2016 gegründete Democracy in Europe Movement 2025 (DiEM25) nutzen. Als ersten Schritt haben wir das Programm „Europäischer New Deal“ ausgearbeitet.1 Dann haben wir andere Bewegungen und Parteien eingeladen, mit uns gemeinsam den Europäischen Frühling ins Leben zu rufen. „European Spring“ ist die erste transnationale Liste, die für die gesamte EU eine gemeinsame politische Agenda vorschlägt.

Es gibt allerdings zwei vordringliche Probleme, die die Linke spalten und so alle progressiven Kräfte in Europa schwächen: das Thema Grenzen und die Zukunft der Europäischen Union.

Hinsichtlich des ersten Themas ist etwas Seltsames geschehen: Viele Linke neigen seit einiger Zeit zu der Ansicht, offene Grenzen seien schlecht für die Arbeiterklasse. „Ich war noch nie für Freizügigkeit“, erklärt in Frankreich Jean-Luc Mélenchon, Kandidat der Linken bei den letzten Präsidentschaftswahlen, und führt als Begründung an, die Migranten würden „den einheimischen Arbeitern das Brot stehlen“.2

Diese Debatte ist keineswegs neu. Bereits 1907 hatte der Gründer der Socialist Party of America Morris Hillquit gefordert, die „vorsätzliche Einfuhr billiger ausländischer Arbeitskräfte“ zu beenden, weil Migranten ein „Reservoir von unbewussten Streikbrechern“ darstellten. Damals hat Lenin auf Hillquits Forderung nach einer Beschränkung der Migration mit einem Argument reagiert, das viele Linke offenbar vergessen haben: „Wir denken, daß niemand Internationalist sein und zugleich für solche Einschränkungen eintreten kann.“ Für Lenin waren So­zia­listen wie Hillquit nichts anderes als „jingos“: Chauvinisten.3

DiEM25 ist hier auf der Seite Lenins: Mauern, die den freien Personen- und Warenverkehr einschränken, sind eine reaktionäre Antwort auf den Kapitalismus. Die sozialistische Antwort besteht darin, die Mauern niederzureißen und dem Kapitalismus zu erlauben, dass er sich selbst untergräbt, und zugleich den grenzüberschreitenden Widerstand gegen die kapitalistische Ausbeutung in allen Ländern zu organisieren. Es sind nicht die Migranten, die den einheimischen Arbeitern die Arbeitsplätze wegnehmen, sondern es ist die Sparpolitik unserer Regierungen, die Teil und Instrument eines Klassenkriegs zugunsten der heimischen Bourgeoisie ist.

Deshalb werden wir von DiEM25 es niemals zulassen, dass unser Programm durch Xenophobie light – eine, wie Slavoj Žižek sagt, unbarmherzige und sinnlose Antwort auf den Nationalsozialismus – vergiftet wird. Deshalb ist die Haltung von DiEM25 zu dieser Frage eine zweifache: Wir weigern uns, zwischen Migranten und Flüchtlingen zu unterscheiden. Und wir rufen Europa auf, sie hereinzulassen (to #LetThem­in).

Was unsere Haltung zur EU betrifft, so halten uns Genossen aus ganz Europa für Utopisten. Sie behaupten, diese EU lasse sich nicht reformieren. Vielleicht haben sie ja recht. Aber selbst wenn, müssen wir zurückfragen: Wäre die beste Antwort der Progressiven etwa eine „Lexit“-Strategie, eine linke Kampagne für eine kontrollierte Auflösung der EU?

Im Sommer 2015, kurz nach der Kapitulation der Syriza-Regierung vor Merkel und der Troika,4 habe ich in Deutschland mehrfach vor einem großen Auditorium gesprochen. Es gehört zu meinen besten Erinnerungen, dass mir damals viele Zuhörer unbedingt mitteilen wollten, dass das, was man Griechenland angetan hatte, nicht in ihrem Namen, im Namen „der Deutschen“ geschehen sei.

Erobern wir die Institutionen

An diese Menschen, nicht nur in Deutschland, ist der Aufruf von DiEM25 gerichtet, eine einheitliche transnationale Bewegung zu bilden, sich zusammenzuschließen, gemeinsam zu kämpfen und die Kontrolle über die Institutionen der EU wie die Europäische Investitionsbank (EIB) oder die Europäische Zentralbank (EZB) zu übernehmen und so umzustrukturieren, dass sie im Interesse aller Europäer funktionieren.

Die deutschen Genossen freuten sich besonders über unsere Idee, griechische Kandidaten in Deutschland und deutsche Kandidaten in Griechenland aufzustellen. Das soll zeigen, dass unsere Bewegung transnational ist, dass sie überall die Institutionen des neoliberalen Systems selbst erobern will – nicht, um sie zu zerstören, sondern um dafür zu sorgen, dass sie künftig für die Mehrheit der Menschen in Brüssel, in Berlin, in Athen, in Paris und anderswo arbeiten.

Man stelle sich vor, ich hätte stattdessen erklärt: Die EU ist nicht reformierbar und muss aufgelöst werden. Wir Griechen müssen uns in unseren Nationalstaat zurückziehen und am Aufbau des Sozialismus arbeiten. Und dasselbe macht ihr hier in Deutschland. Wenn wir das geschafft haben, können sich unsere Delegationen treffen, um die Zusammenarbeit zwischen unseren ach so souveränen progressiven Staaten zu besprechen. Zweifellos wären die deutschen Genossen enttäuscht. Und deprimiert bei der Vorstellung, dass sie es mit dem deutschen Establishment allein aufnehmen müssen statt als Teil einer transnationalen Bewegung.

Im Grunde ist nicht entscheidend, ob die EU reformierbar ist oder nicht. Entscheidend ist, dass wir konkret vorschlagen, was wir mit den Institutionen der EU anstellen wollen. Keine versponnenen, utopischen Vorschläge, sondern konkrete Ansagen darüber, was wir diese Woche, nächsten Monat, nächstes Jahr gemäß der gegebenen Regeln und mit den bestehenden Instrumenten tun würden.

Zum Beispiel, wie wir die Rolle des unsäglichen Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) umdefinieren würden; oder wie wir das Quantita­tive-Easing-Programm (QE) der Europäischen Zentralbank5 ausrichten würden; oder wie wir schnell und ohne neue Steuern den ökologischen Umbau der Wirtschaft und ein Programm zur Armutsbekämpfung finanzieren könnten.

Mit einer derart detaillierten Agenda wollen wir den Wählern zeigen, dass es sehr wohl Alternativen gibt – selbst innerhalb des Regelwerks, das im Interesse des reichsten Hundertstels der Bevölkerung entworfen wurde. Natürlich erwarten wir nicht, dass die EU-Organe unsere Vorschläge einfach übernehmen. Aber die Wähler sollen erkennen, was alles getan werden könnte, im Gegensatz zu dem, was getan wird. Damit können sie die etablierte Politik durchschauen, ohne der fremdenfeindlichen Rechten auf den Leim zu gehen. Nur so kann die Linke aus ihren üblichen Kreisen ausbrechen und ein großes, progressives Bündnis zustande bringen.

Genau das ist das Ziel, das DiEM25 mit seinem Europäischen New Deal anstrebt: Denn der zeigt erstens auf, wie sich das Leben der Bevölkerungsmehrheit innerhalb kürzester Zeit und im Rahmen der bestehenden Regeln und Institutionen massiv verbessern lässt. Er enthält zweitens einen Plan zur Transformation der EU-Institutionen: Einberufung einer verfassungsgebenden Versammlung mit dem mittelfristigen Ziel einer demokratischen europäischen Verfassung, die alle bestehenden Verträge ersetzt. Drittens zeigt der New Deal auf, wie neue Mechanismen, die wir umgehend einführen werden, bei der Bewältigung der Probleme helfen könnten, falls die EU trotz aller Bemühungen zerfallen sollte.

Greifen wir ein Beispiel heraus. Alle sprechen davon, wie wichtig der ökologische Umbau der Wirtschaft ist. Was sie nicht sagen, ist, woher das Geld kommen soll und wer die Planung übernimmt. Wir haben darauf eine klare Antwort: Zwischen 2019 und 2023 braucht Europa 2 Billionen Euro für Investitionen in grüne Technolo­gien, grüne Energie und so weiter. Unser Vorschlag lautet: Die Europäische In­ves­ti­tions­bank gibt vier Jahre lang zusätzliche Anleihen im Wert von 500 Milliarden Euro pro Jahr heraus.

Basisdividende für alle

Zugleich erklärt die EZB, dass sie diese Wertpapiere, sollte ihr Wert sinken, auf dem Sekundärmarkt für Anleihen aufkaufen und so die Kurse stützen wird. Dank dieser Garantie und angesichts der gigantischen globalen Geldvermögen, die nach Anlagemöglichkeiten suchen, wird die EZB keinen einzigen Euro ausgeben müssen, da die EIB-Anleihen sehr begehrt sein dürften. Die mit den grünen Anleihen aufgenommenen Gelder wird eine Europäische Agentur für die Ökologisierung der Wirtschaft, die noch zu gründen ist, für Umweltprojekte auf dem ganzen Kontinent bereitstellen.

Dieser Plan erfordert wohlgemerkt keine zusätzlichen Steuern, baut auf dem existierenden europäischen Anleiheprogramm der EIB auf und ist vollkommen vereinbar mit den heutigen Richtlinien. Dasselbe gilt für die anderen kurzfristigen Maßnahmen, die der New Deal vorsieht. Zum Beispiel schlagen wir vor, den Fonds zur Armutsbekämpfung aus den Milliardengewinnen des Europäischen Systems der Zentralbanken zu finanzieren (etwa mit EZB-Gewinnen aus dem Ankauf von Anleihen im Rahmen des QE-Programms). Aus diesem Fonds wäre jeder Mensch in der EU, der unter der Armutsgrenze lebt, mit Nahrung, Unterkunft und Energie zu versorgen.

Ein weiteres Beispiel ist unser Plan zur Refinanzierung der öffentlichen Verschuldung in der Eurozone: Um die Schuldenlast der Einzelstaaten zu reduzieren, soll die EZB zwischen diesen und den Geldmärkten vermitteln, und zwar ohne neues Geld zu drucken oder Deutschland für die Schulden der am höchsten verschuldeten Länder bezahlen oder garantieren zu lassen.

Wie die genannten Beispiele zeigen, beinhaltet unser New Deal zum einen technisch fundierte, im Rahmen des bestehenden EU-Regelwerks umsetzbare Pläne und zum anderen einen radikalen Bruch mit der Sparpolitik und den Rettungsmaßnahmen der Troika. Der New Deal geht aber noch darüber hinaus, denn er sieht neue Institutionen vor, die bereits in eine postkapitalistische europäische Zukunft weisen.

Ein Beispiel für diese postkapitalistische Perspektive ist der Vorschlag einer Teilvergesellschaftung von Kapitalerträgen, die der Automatisierung entspringen: Für die Erlaubnis, in der EU tätig zu sein, müssen die großen Konzerne künftig einen bestimmten Prozentsatz ihrer Aktien auf einen neuen Europäischen Aktienfonds übertragen. Die Dividenden dieser Aktien finanzieren für alle Bürgerinneren und Bürger der EU eine universelle Basisdividende, die unabhängig von anderen Sozialhilfeleistungen oder dem Arbeitslosengeld gezahlt wird.

Grundsätzlich hat die Linke zwei große Feinde: Uneinigkeit und mangelnde Kohärenz. Einigkeit ist notwendig, aber nicht auf Kosten der Kohärenz. Die einigenden Grundsätze von DiEM25 sind die eines radikalen, rationalen und internationalistischen Humanismus. Das bedeutet eine gemeinsame Agenda für alle Europäer und eine radikale Politik für ein offenes Europa, in dem Grenzen bloße Narben des Planeten sind und Neuankömmlinge willkommen geheißen werden. Mit weniger können wir uns nicht zufriedengeben.

1 Die Zahl 2025 bezeichnet das Jahr, für das eine umfassende Demokratisierung der EU angestrebt ist. Der Begriff New Deal verweist auf die Politik von US-Präsident Franklin D. Roosevelt in den 1930er Jahren als Antwort auf die Weltwirtschaftskrise. Das Programm von DiEM25 siehe unter: https://diem25.org/europaeischer-new-deal/.

2 Zitiert in: Libération, 8.September 2016.

3 Wladimir Iljitsch Lenin, „An den Sekretär der Liga für sozialistische Propaganda“, C. W. Fitzgerald, http://www.mlwerke.de/le/le21/le21_430.htm.

4 Die Troika aus EU-Kommission, EZB und IWF finanzierte die Kreditprogramme für Griechenland und wachte über die Einhaltung der Sparauflagen.

5 QE oder „quantitative Lockerung“ ist eine Form der expansiven Geldpolitik: Die Zentralbank kauft den Geschäftsbanken Wertpapiere (zumeist Staatsanleihen) ab, um auf diese Weise Geld in die Wirtschaft zu pumpen. Das QE-Programm der EZB ist Ende 2018 abgelaufen.

Aus dem Englischen von Nicola Liebert

Yanis Varoufakis ist Wirtschaftswissenschaftler. Er war von Januar bis Juli 2015 griechischer Finanzminister und hat 2016 die Bewegung DiEM25 mitgegründet.

Le Monde diplomatique vom 07.03.2019, von Yanis Varoufakis