Klassenkampf in Frankreich
Die Gelbwestenbewegung bringt die Verhältnisse zum Tanzen und die bürgerliche Mitte ins Schwitzen
von Serge Halimi und Pierre Rimbert
Angst geht um. Nicht die Angst, eine Wahl zu verlieren, mit „Reformen“ zu scheitern oder mitansehen zu müssen, wie die Aktienkurse abstürzen. Sondern die Angst vor Aufruhr, vor Revolte, vor Machtverlust.
Seit einem halben Jahrhundert haben die französischen Eliten dieses Gefühl nicht mehr verspürt. Am Samstag, den 1. Dezember 2018, zeigten sich einige ihrer Gesichter wie erstarrt. „Es ist wichtig, dass die Menschen jetzt wieder nach Hause gehen“, stammelte die Starjournalistin von BFM TV Ruth Elkrief. Der Sender zeigte in Endlosschleife demonstrierende Gelbwesten, die entschlossen für ein besseres Leben kämpfen.
Wenige Tage später verriet eine Reporterin der arbeitgeberfreundlichen Tageszeitung L’Opinion vor laufender Kamera: „Alle großen Unternehmen werden Zulagen auszahlen, weil sie irgendwann wirklich Angst bekamen, dass man ihre Köpfe aufspießen würde.“ Und dann berichtete die Reporterin, an jenem Samstag des Aufruhrs hätten die Bosse den Präsidenten des Arbeitgeberverbands Medef Geoffroy Roux de Bézieux angerufen: „Sie haben ihm gesagt: ‚Du musst nachgeben! In allem nachgeben, andernfalls ...‘ Diese Leute fühlten sich tatsächlich bedroht, physisch bedroht.“
Im selben Programm berichtete der Direktor eines Meinungsforschungsinstituts, dass „die großen Unternehmer wirklich sehr beunruhigt“ seien. Der Mann fühlte sich an das erinnert, was er über 1936 oder 1968 gelesen hatte. „Es kommt ein Moment, da sagt man sich: ,Besser auf viel Geld verzichten als das Wesentliche verlieren.‘ “1 Nach dem Sieg der Volksfront von 1936 hatten die Arbeitgeber nach einer Welle spontaner Streiks mit Fabrikbesetzungen im sogenannten Matignon-Vertrag „in allen Punkten nachgegeben“ (um den damaligen Generalsekretär des Gewerkschaftsbunds CGT Benoît Frachon zu zitieren).
Derartige Auflösungserscheinungen der besitzenden Klasse sind selten. Dabei darf man jedoch eine wichtige historische Lehre von 1936 nicht vergessen: Diejenigen, die Angst gehabt haben, werden denen nicht verzeihen, die ihnen Angst eingejagt haben, und auch denjenigen nicht, die Zeugen ihrer Angst waren.
Der Protest der Gelbwesten geht weiter; er ist nicht zu greifen, denn er hat keine Anführer; er spricht eine Sprache, die man in den Institutionen nicht kannte; er widersteht der Repression und bekommt trotz einer böswilliger Berichterstattung weiteren Zulauf.
Dieser Protest hat aber auch eine Reaktion provoziert, die wir aus der Geschichte kennen: Wenn sich die sozialen Konflikte zuspitzen, wenn der Klassenkampf offen ausbricht, müssen sich alle für das eine oder das andere Lager entscheiden. Die Mitte verschwindet, der Sumpf trocknet aus. Und selbst die liberalsten, kultiviertesten, distinguiertesten Menschen vergessen die alten Floskeln, dass wir doch alle im selben Boot sitzen.
Vom Entsetzen gepackt, sehen sie rot. Alexis de Tocqueville schildert in seinen „Erinnerungen“, wie er den Juni 1848 erlebt hat. Damals wurden die verelendeten Pariser Arbeiter von Soldaten massakriert, die eine bürgerliche Regierung auf sie gehetzt hatte, die glaubte, dass „nur der Gewehrlauf die Fragen unseres Jahrhunderts lösen“ könne.2 Bei der Beschreibung des Sozialistenführers Auguste Blanqui vergaß Tocqueville alle Regeln des bürgerlichen Anstands: „Er hatte abgezehrte und zerfurchte Wangen und bleiche Lippen. Sein Äußeres war wie von Schimmel überzogen. Er sah aus, als habe er in einer Kloake gelebt und sei von dort hierhergekommen.“3
Die gleiche Verwandlung von bürgerlichem Anstand in blanke Wut vollzog sich während der Pariser Kommune. Und jetzt sogar bei zahlreichen Intellektuellen und Künstlern, die sich zuweilen – allerdings eher in ruhigen Zeiten – als Männer des Fortschritts gegeben hatten.
Der Dichter Leconte de Lisle empörte sich über „diese Liga aller Deklassierten, aller Unfähigen, aller Neidischen, aller Mörder und Diebe“. Für Gustave Flaubert war das allgemeine Wahlrecht „eine Schande für den menschlichen Geist“ und sollte unbedingt abgeschafft werden. Und Émile Zola belehrte die Bürger von Paris angesichts von 20 000 Toten und fast 40 000 Verhafteten: „Das Blutbad, das es genommen hat, war vielleicht von einer schrecklichen Notwendigkeit, um manche seiner Fieber zu lindern.“4
An ähnlich illustre Persönlichkeiten mag sich Luc Ferry, der Philosophie und Politikwissenschaften lehrt und zu Beginn des Jahrtausends französischer Bildungsminister war, am 7. Januar 2019 erinnert haben. Weil ihm das Vorgehen der Polizei gegen die Gelbwesten zu nachsichtig erschien, meinte er in einer Sendung von Radio Classique, nachdem er über sein Lieblingsmenü geplaudert hatte: „Sollen sie doch ordentlich von ihren Waffen Gebrauch machen gegen diese elenden Schergen, diese elenden Schweine von der extremen Rechten und der extremen Linken.“
Üblicherweise verteilen sich die Mächtigen auf unterschiedliche und bisweilen konkurrierende Lager: Da gibt es französische und europäische Spitzenbeamte, Intellektuelle, Unternehmer, Journalisten, konservative Rechte, gemäßigte Linke. In diesem gesitteten Rahmen vollzieht sich ein maßvoller Machtwechsel nach demokratischen Ritualen (Wahlen und dann Winterschlaf bis zur nächsten Wahl).
Dieses politische Wechselspiel, dem die „Kapitalistenklasse“ ihren Machterhalt verdankte, hat der französische Sozialistenführer Jules Guesde bereits im November 1900 entlarvt: „Man hat sich aufgespalten in progressive Bourgeoisie und republikanische Bourgeoisie, in klerikale Bourgeoisie und freidenkerische Bourgeoisie, damit man in den Machtpositionen eine besiegte Fraktion immer durch eine andere Fraktion der gleichermaßen feindlichen Klasse ersetzen kann. Es ist wie bei einem Schiff mit dichten Schotten: Wenn auf einer Stelle Wasser eindringt, sinkt es trotzdem nicht.“
Die Gelbwesten als unerlässliches Feindbild
Doch zuweilen kommt es vor, dass die See stürmisch wird und die Stabilität des Schiffs in Gefahr gerät. In dem Fall müssen alle Streitereien zurücktreten, und es gilt, die Reihen zu schließen.
Genau so reagiert das Bürgertum auf die Herausforderung durch die Gelbwesten. Die Stimmen, die in ruhigen Zeiten mit Bedacht den Anschein des Meinungspluralismus wahren, haben die Protestierenden einhellig mit einer Horde fanatischer Rassisten, Antisemiten, Schwulenfeinden, Aufrührern und Verschwörern gleichgesetzt. Vor allem aber halten sie die Gelbwesten für vollkommen ungebildet.
„Gelbwesten: Wird die Dummheit siegen?“, fragte Sébastien Le Foll am 10. Januar 2019 in Le Point. „Die wahren Gelbwesten kämpfen, ohne nachzudenken, ohne Verstand“, befand der Leitartikler Bruno Jeudy am 8. Dezember auf BFM TV. Und Vincent Trémolet de Villers erboste sich am 4. Dezember in Le Figaro: „Die niederen Instinkte setzten sich gegen die elementarsten Regeln des zivilisierten Verhaltens durch.“
Da ist die Rede von einer „Bewegung kleinbürgerlicher, rebellischer Spießbürger“ (Jean Quatremer), angeführt von einer „gehässigen Minderheit“ (Denis Olivennes), die sich in einen „Ausbruch von Wut und Hass“ versteigt (Leitartikel in Le Monde). Da sind „Horden von Verlierern und Plünderern“ am Werk, die „von ihren Ressentiments zerfressen werden wie von Flöhen“ (Franz-Olivier Giesbert) und ihre „schädlichen Impulse“ (Hervé Gattegno) ausleben. Und im Nouvel Observateur fragt Jacques Julliard besorgt „Wie viele Tote werden diese neuen Spießer auf dem Gewissen haben?“
Auch Bernard-Henri Lévy ist beunruhigt über die „Bekundungen nackter Zerstörungswut“, aber immerhin ließ er sich herab, in der Boulevardzeitung Le Parisien einen Aufruf zu unterzeichnen, in dem die Gelbwesten aufgefordert werden, „den Zorn in eine Debatte zu transformieren“. Vergebens. Aber gottlob, stellt Pascal Bruckner aufatmend fest, „hat die Polizei Ruhe bewahrt“ und damit die Republik vor „den Barbaren“ und „dem vermummten Gesindel“ gerettet.
Da kam ein ganzes gesellschaftliches Universum zusammen – von den Grünen (Europe Écologie – Les Verts, EELV) bis zu den Ruinen der Sozialistischen Partei (PS), von der größten Gewerkschaft Confédération démocratique du travail (CFDT) bis zu den zwei Moderatoren der Morgensendung auf France Inter –, um diejenigen politischen Figuren unter Beschuss zu nehmen, die Sympathien mit der Bewegung der Gelbwesten bekundet haben.
Ihre Verfehlung? Sie greifen die Demokratie an, weil sie sich nicht mit der verängstigten Minderheit solidarisch zeigen. Wie kann man solchen Störenfrieden entgegentreten? Mit einem alten Trick: Man sammelt alle Aussagen von irgendwelchen Gelbwesten, die sich in die Nähe von Standpunkten rücken lassen, die irgendwann von Rechtsextremisten vertreten wurden.
Folgt man dieser Logik, wird man einen Aufruf zur Gewalt gegen Journalisten auch in dem Vorwurf sehen, den Marine Le Pen in einer Presseerklärung vom 17. Januar geäußert hat: dass nämlich die Medien „die Demokratie und den Respekt gegenüber anderen“ missachten, ohne die es „keinen konstruktiven Austausch, keine lebendige Demokratie und kein gesellschaftliches Leben“ geben könne.
Nie ist die Empörung des bürgerlichen Blocks, der die Wählerbasis von Emmanuel Macron bildet, so schonungslos deutlich geworden wie am 16. Dezember, dem Tag, als Le Monde ein einfühlsames Porträt einer Gelbwesten-Familie veröffentlicht hat: „Arnaud und Jessica: Ein Leben an der Armutsgrenze“. Danach ergoss sich ein Strom wütender Kommentare über die Website der Zeitung.
„Besonders schlau sind die beiden ja nicht. Handelt es sich manchmal nicht eher um eine kulturelle als um eine finanzielle Misere?“, mutmaßte ein Leser. Ein anderer haute in dieselbe Kerbe: „Das pathologische Problem der Armen: Sie leben über ihre Verhältnisse.“ Ein dritter meinte: „Aus ihnen werden bestimmte keine Forscher, Ingenieure oder kreativen Köpfe. Diese vier Kinder werden genau wie ihre Eltern der Gesellschaft zur Last fallen.“
Die Journalistin, die das Porträt der Familie verfasst hatte, stand fassungslos vor der „Sintflut von Angriffen“ mit „paternalistischen Untertönen“.5 Paternalistisch? Hier ging es nicht um einen Familienzwist: Die Leser einer Tageszeitung, die für ihre gemäßigte Haltung gerühmt wird, riefen zum Klassenkampf auf.
Die Bewegung der Gelbwesten markiert das Scheitern eines gesellschaftlichen Projekts, das Ende der 1980er Jahre begonnen und seitdem von den Predigern des Sozialliberalismus weitergetragen wurde: das Projekt einer „Republik der Mitte“. Das war darauf angelegt, die ideologischen Auseinandersetzungen ein für alle Mal zu beenden, indem die unteren Schichten aus der öffentlichen Debatte und den politischen Institutionen ausgeschlossen wurden. Diese waren zwar weiterhin die Mehrheit, aber zugleich ein Unruheherd. Deshalb sollten sie ihren Platz für das kultivierte Bürgertum räumen.
Dieser Wunsch schien sich schrittweise zu erfüllen: Zunächst erfolgte 1983 die „Wende zur Sparpolitik“ in Frankreich, 1984 die von der Arbeiterpartei angestoßene liberale Gegenrevolution in Neuseeland, und in den 1990er Jahren schritten Tony Blair, Bill Clinton und Gerhard Schröder auf dem „dritten Weg“ voran. In dem Maße, in dem sich die Sozialdemokratie im Staatsapparat, in den Medien und in den Aufsichtsräten der Großunternehmen einnistete, drängte sie ihre einstige gesellschaftliche Basis immer mehr an den Rand der Gesellschaft. In den USA wiederum wunderte sich kaum noch jemand, dass Hillary Clinton vor ihren reichen Sponsoren die Anhänger Trumps als „erbärmlichen Haufen“ bezeichnete.
Aber in Frankreich steht es nicht viel besser. In einem Buch über politische Strategie erklärte Dominique Strauss-Kahn, ein Sozialist und der Mentor vieler Politiker aus dem Umkreis des gegenwärtigen Präsidenten, bereits vor 17 Jahren, seine Partei müsse sich künftig auf „die Angehörigen der Mittelschicht“ stützen, „die zu einem großen Teil aus besonnenen, informierten und gebildeten Arbeitnehmern besteht, die das Gerüst unserer Gesellschaft bilden. Sie sichern die Stabilität, weil sie an der ‚Marktwirtschaft‘ festhalten.“
Was die anderen – die weniger „besonnenen“ – betrifft, so wurden sie abgeschrieben „Von der am meisten benachteiligten Gruppe kann man leider nicht immer eine besonnene Beteiligung an einer parlamentarischen Demokratie erwarten. Sie interessiert sich zwar auch für die Geschichte, aber wenn sie sich einmischt, drückt sich das bisweilen in Gewalt aus.“6
Mit diesen Bevölkerungsgruppen befasste man sich darum nur alle fünf Jahre, in der Regel, um ihnen die Wahlerfolge der extremen Rechten vorzuwerfen. Danach wurden sie wieder unsichtbar (was erst anders wurde, als die Straßenverkehrsordnung von allen Autofahrern verlangte, eine gelbe Warnweste mitzuführen).
Die Strategie ist aufgegangen. Die unteren Schichten sehen sich nicht mehr politisch repräsentiert. Der immer schon geringe Anteil von Arbeitern und Angestellten im Parlament ist in den letzten 50 Jahren noch einmal drastisch zurückgegangen. Auch aus den Innenstädten wurden sie vertrieben: Nur 4 Prozent derjenigen, die in Paris Wohneigentum erwerben, sind Arbeiter oder Angestellte. Damit erinnert das Paris des Jahres 2019 an das Versailles von 1789.
Die Abgeschriebenen auf den Champs-Élysées
Im Fernsehen kommen solche Leute ebenfalls nicht vor: 60 Prozent der Personen, die in Nachrichtensendungen zu sehen sind, gehören zu den 9 Prozent der am besten ausgebildeten Erwerbstätigen.7 Für den Staatschef existieren die unteren Schichten überhaupt nicht. In seinen Augen ist Europa „ein alter Kontinent von Kleinbürgern, die sich durch ihren materiellen Wohlstand geschützt fühlen“.8
Und dann passierte es: Die Abgeschriebenen, die sich angeblich jeglicher schulischen und beruflichen Bildung verweigern, weshalb sie für ihr Schicksal selbst verantwortlich sind, tauchen plötzlich vor dem Triumphbogen und auf den Champs-Élysées auf. Verwirrt und fassungslos diagnostizierte der Staatsrat und Verfassungsrechtler Jean-Éric Schoettl am 11. Januar auf der Website von Le Figaro „einen Rückfall in eine primitive Form des Klassenkampfs“.
Das Projekt, die Mehrheit der Bevölkerung aus der Politik auszugrenzen, ist gescheitert. Dagegen scheint ein anderes Unterfangen der herrschenden Klassen, nämlich die Grenzen zwischen rechts und links zu verwischen, mit einem unverhofften Erfolg zu enden.
Die Idee kam nach dem Fall der Mauer auf. Sie lief darauf hinaus, alle Positionen, die die liberale „Vernunft“ – ein Ausdruck des Essayisten Alain Minc – infrage stellten, an die „extremistischen“ Ränder zu drängen und damit zu diskreditierten. Politische Legitimität sollte nicht mehr aus einer bestimmten Sicht auf die Welt erwachsen – einer kapitalistischen oder sozialistischen, nationalistischen oder internationalistischen, konservativen oder emanzipatorischen, autoritären oder demokratischen –, sondern aus dem Gegensatz zwischen Vernünftigen und Radikalen, Aufgeschlossenen und Engstirnigen, Progressiven und Populisten.
Doch die Weigerung, zwischen rechts und links zu unterscheiden, die die Berufspolitiker den Gelbwesten vorhalten, reproduziert im Grunde nur die Vernebelung, die der bürgerliche Block seit Jahrzehnten betreibt.
In diesem Winter sind Themen wie Steuergerechtigkeit, Verbesserungen des Lebensstandards und Widerstand gegen das autoritäre Gebaren der Mächtigen allgegenwärtig. Dagegen ist der Kampf gegen die Ausbeutung der abhängig Beschäftigten und die Frage des Eigentums an den Produktionsmitteln kaum ein Thema.
Diese Grundgegebenheiten werden weder durch die Wiedereinführung der solidarischen Vermögensteuer noch durch die Rückkehr zur alten Geschwindigkeitsgrenze auf Landstraßen aufgehoben. Auch die peniblere Kontrolle der Spesenabrechungen von Mandatsträgern und die Einführung von Volksentscheiden ändert nichts an der Abhängigkeit der Arbeitnehmer, der ungerechten Einkommensverteilung oder an der Tatsache, dass die Souveränität des Volkes innerhalb der EU und in Zeiten der Globalisierung nur eine scheinbare ist.
Natürlich sind Bewegungen lernfähig. Wenn sie auf unerwartete Hindernisse und unverhoffte Chancen stoßen, fassen sie neue Ziele ins Auge: Als in Frankreich 1789 die Generalstände zusammentraten, konnte man die Republikaner an einer Hand abzählen. Solidarisch zu sein mit den Gelbwesten bedeutet daher, darauf hinzuwirken, dass sich ihr Handeln in eine rechtsstaatliche und emanzipatorische Richtung entwickelt. Und nicht zu vergessen, dass andere auf eine entgegengesetzte Entwicklung hinarbeiten und darauf spekulieren, dass bei den Europawahlen im Mai die extreme Rechte vom Volkszorn profitieren wird.
Die politische Isolierung der Gelbwesten würde dieses zweite Szenario begünstigen. Deshalb tun Politiker und Medien alles, um die Gelbwesten zu diskreditieren, indem sie die Bedeutung jeder ihrer strafbaren Aktionen aufblasen. Sollten diese Bemühungen Erfolg haben, bliebe die Strategie erfolgreich, die Emmanuel Macron seit 2017 verfolgt: die Politik einzig und allein als Konfrontation zwischen Liberalen und Populisten darzustellen.9
Sollte diese Spaltungspolitik gelingen, könnte der Präsident der Republik seine Gegner von rechts wie von links in einem Atemzug attackieren und jeden innenpolitischen Protest auf die Machenschaften einer „populistischen Internationalen“ zurückführen. Und zu der gehören laut Macron neben dem Ungarn Viktor Orbán und dem Italiener Matteo Salvini auch so unterschiedliche Kräfte wie die polnischen Konservativen und die britischen Sozialisten, die linke „La France insoumise“ und die rechte AfD.
Was Macron betrifft, so steckt er in einer Zwickmühle. Weil sein gesellschaftlicher Rückhalt zu gering ist, kann er seine „Reformen“ – der Arbeitslosenversicherung, des Rentensystems und des öffentlichen Dienstes – nur mit autoritären Maßnahmen durchsetzen; durch polizeiliche Repression und mithilfe der „nationalen Debatte über die Immigration“. Nachdem der französische Präsident den „illiberalen“ Regierungen der ganzen Welt die Leviten gelesen hat, muss er jetzt also selbst auf deren Rezepte zurückgreifen.
1 „L’Info du vrai“, Canal Plus, 13. Dezember 2018.
2 Auguste Romieu, „Le Spectre rouge de 1852“, Paris (Ledoyen) 1851.
4 Paul Lidsky, „Les Écrivains contre la Commune“, Paris (La Découverte) 1999 (Originalausgabe 1970).
6 Dominique Strauss-Kahn, „La Flamme et la Cendre“, Paris (Grasset) 2002.
9 Siehe Serge Halimi und Pierre Rimbert, „Populistenmacher“, LMd, September 2018.
Aus dem Französischen von Ursel Schäfer