Endstation Tijuana
Seit Jahrzehnten ziehen Menschen aus Honduras, Guatemala und El Salvador gen Norden. Die Reise wird immer gefährlicher
von Toni Keppeler
Tecún Umán ist Guatemalas Hauptstadt des Verbotenen. Fast nichts, was in dem Städtchen passiert, ist legal. Der Ort ist ein Hort der Schmuggler und Hehler, der schmuddeligen Bordelle ohne Lizenz und der Billardsalons, in denen der Streit ums Geld mindestens einmal in der Woche in eine Schießerei ausartet. Und es ist der letzte Rastplatz der Migranten ohne Visum, bevor sie auf ihrem Weg in die USA den Río Suchiate überqueren.
An einem durchschnittlichen Tag kommen fast 1000 Auswanderer in die Stadt. Nach Schätzungen von Menschenrechtsorganisationen machen sich täglich allein in El Salvador zwischen 300 und 400 Menschen auf den Weg in den Norden. Dazu kommen rund 300 aus Honduras und noch einmal etwa 300 Guatemalteken. Fast alle wählen den Weg über Tecún Umán. Auch die bislang mindestens sechs sogenannten Karawanen von Migranten, die seit Oktober 2018 die Aufmerksamkeit der Weltpresse erregten, sind durch das Städtchen gezogen.
Tecún Umán liegt am südlichen Ufer des Río Suchiate. Am nördlichen Ufer beginnt Mexiko. Auf der Brücke mit ihren Grenzstationen auf beiden Seiten ist an normalen Tagen nicht viel los. Der eigentliche Grenzverkehr spielt sich rund 200 Meter flussaufwärts ab. Dort gibt es, in Sichtweite der Grenzsoldaten, auf guatemaltekischer Seite eine regelrechte Landestelle. An einer Mole sind dutzende Flöße vertäut: aufgepumpte Lkw-Schläuche als Schwimmer, darauf ein Rost aus Holzlatten.
Bis zu zehn Menschen passen auf ein Floß – oder eben Schmuggelware. Jetzt, in der Trockenzeit, ist der Río Suchiate nicht besonders tief. Die Männer, die diese Flöße mit Seilen ans mexikanische Ufer ziehen, versinken allenfalls bis zur Brust in den Fluten. 75 Quetzales verlangen sie für eine Fuhre, rund 8,50 Euro. In der Regenzeit, wenn der Suchiate mehr Wasser führt, staken sie ihre Fracht mit langen Holzstangen auf die andere Seite. Das ist langwieriger und auch ein bisschen teurer.
In großen Kanistern kommt so Benzin aus Mexiko nach Guatemala, Maismehl, Tequila, chinesisches Blechspielzeug, sogar Heiligenstatuen sind dabei. Alles, was in Mexiko billiger ist, wird auf einem informellen Markt oberhalb der Uferböschung verscheuert. Doch nach Mexiko werden fast ausschließlich Menschen transportiert. Ganze Familien sitzen auf einem Floß. Manche wollen nur Angehörige und Freunde auf der anderen Seite besuchen, andere sind Migranten ohne Visum. Sie sind leicht zu erkennen: Sie tragen praktische Kleidung, meist Jeans, T-Shirts und Turnschuhe, die Männer ebenso wie die Frauen. Auf dem Rücken haben sie einen kleinen Rucksack, darin Wäsche zum Wechseln und ein paar Dollar. Mehr braucht man nicht für die Reise.
Wer die paar Quetzales für die Überfahrt sparen will, geht von der Landestelle aus noch einmal gut hundert Meter flussaufwärts. Dort ist der Suchiate zwar breiter, in der Trockenzeit aber so flach, dass man gefahrlos auf die andere Seite waten kann. Maya-Frauen schürzen ihre bunten Röcke, Männer steigen aus den Hosen, verstauen sie im Rucksack und gehen in Unterwäsche ins Wasser. Kinder werden auf den Schultern getragen. Die Flößer stört das nicht, sie haben auch so genug Arbeit. Nur die Karawanen mögen sie nicht. Sie locken Fernsehteams nach Tecún Umán.
Die Grenzer stehen nun unter Beobachtung und glauben, sie könnten den illegalen Grenzverkehr nicht mehr dulden. Und die Karawanen nehmen die Brücke. Ein paar Stunden lang wird dort ein Machtkampf ausgefochten. Die Grenzsoldaten versperren den Weg, tief fliegende Armeehubschrauber versuchen die Migranten einzuschüchtern. Doch die geben nicht nach. Schließlich wird die Grenze aufgemacht und die Fernsehteams haben die gewünschten dramatischen Bilder.
Das war nicht immer so. Solche Karawanen gibt es seit mindestens fünf Jahren, doch waren sie in aller Regel unterwegs, ohne von Journalisten beobachtet zu werden. Zusammengestellt wurden sie von Organisationen, die sich seit Jahren um papierlose Migranten kümmern. Sich einer Karawane anzuschließen sei „einfach billiger“ als der übliche Weg nach Norden, sagt der Priester Mauro Verzeletti, der die Unterkunft „Casa del Migrante“ in Mixco bei Guatemala-Stadt leitet.
Für Jahrzehnte reisten die Mittelamerikaner ausschließlich in kleinen Gruppen. Schlepper akzeptieren zehn oder zwölf Migranten, bringen sie in Bussen, zu Fuß oder auf Güterzügen quer durch Zentralamerika und Mexiko und zuletzt illegal über die Grenze in die USA. Unterwegs gibt es Häuser, in denen diese Gruppen übernachten oder für ein paar Tage versteckt werden können.
Vor zehn Jahren noch verlangten die Schlepper 2000 bis 3000 Dollar für die Reise. In letzter Zeit aber sind die Preise explodiert, vor allem seit US-Präsident Donald Trump die bereits bestehenden Befestigungsanlagen verstärken und erweitern lässt, den Grenzschutz personell aufgestockt hat und von einer Grenzmauer träumt. 10 000 bis 12 000 Dollar sind heute ein üblicher Preis. Migranten, die in den USA meist nur Jobs als Erntehelfer, Tellerwäscher oder Kindermädchen ergattern können, verschulden sich damit auf Jahre.
Zudem wird die Reise immer gefährlicher. „Die Drogenmafia und das organisierte Verbrechen haben die Route seit Jahren unter Kontrolle“, weiß Verzeletti. Sie dominieren nicht nur die Schleppernetzwerke. Es gibt auch tausende Berichte von Migranten, die entführt wurden, um von ihren Verwandten Lösegeld zu erpressen. Unzählige Frauen wurden vergewaltigt und in die Prostitution gezwungen. Oft wird von den Migranten verlangt, auf dem Schleichweg über die US-Grenze ein Kokainpaket im Rucksack zu verstecken. Die geheimen Unterkünfte auf dem Weg dienen häufig auch als Drogenlager. Die Migranten selbst heißen im Schlepperjargon schlicht „Pakete“.
Auch die Polizei entführt und erpresst. Weltweit bekannt wurde das Massaker an 72 Zentralamerikanern im August 2010 auf einem Hof bei San Fernando im mexikanischen Bundesstaat Tamaulipas. Die Polizei hatte die Migranten entführt und an das Verbrecherkartell der Zetas verkauft. Als sie sich weigerten, Kokain über die Grenze zu schleusen, wurden sie ermordet.1
Karawanen mit tausend und mehr Menschen sind der beste Schutz gegen solche Gefahren. Ihre Saison beginnt im Oktober, wenn in Zentralamerika die Regenzeit zu Ende geht und damit der Weg in den Norden weniger beschwerlich wird, und sie zieht sich bis in den Mai hinein, wenn die nächste Regenzeit beginnt.
Die in Zentralamerika zusammengestellten Karawanen wachsen auf ihrem Weg bis nach Mexiko, weil sich viele Kurzentschlossene anschließen. Meist brechen sie kurz nach Tecún Umán in zwei Teile auseinander. In Arriaga im südlichen mexikanischen Bundesstaat Chiapas entern einige Migranten den dort losfahrenden Güterzug, der wegen der vielen Personenunfälle „La Bestia“ genannt wird. Wem das zu riskant ist, reist zu Fuß, per Anhalter oder mit dem Bus weiter.
Kurz vor der US-Grenze lösen sich die Karawanen dann meist vollends auf. Ein Teil geht ganz legal über die Grenze und beantragt Asyl. Wer dafür keine Gründe vorbringen kann, sucht sich in der Grenzstadt Tijuana einen Schlepper oder wagt sich auf eigene Faust in kleinen Gruppen durch die Wüste. Nach ein paar Tagen sind die Menschenmengen verschwunden. „Die Zahl der Migranten ist seit Jahren stabil“, sagt der Priester Verzeletti in Mixco. „Was sich verändert hat, ist die Art des Reisens: Als Karawane sind sie sichtbar.“
Auch die Gründe, warum die Menschen massenhaft El Salvador, Honduras und Guatemala verlassen, sind seit über zehn Jahren dieselben. Egal wen man fragt, die Antworten gleichen sich: Es sind immer Geschichten von Armut und Gewalt. In Guatemala ist rund die Hälfte der Kinder unter fünf Jahren chronisch unterernährt. Aber in der Hauptstadt regiert ein kleiner Klüngel von Oligarchen, deren Reichtum auf der Ausbeutung der ländlichen Bevölkerung beruht und der zudem so korrupt und gierig ist, dass für Sozialprogramme kein Geld bleibt.
Der im September 2015 gestürzte Präsident von Guatemala, Otto Pérez Molina, wanderte vom Präsidentenpalast direkt ins Gefängnis. Die Staatsanwaltschaft und die internationale Juristenkommission CICIG2 werfen ihm vor, seine „Patriotische Partei“ mit dem alleinigen Ziel gegründet zu haben, die Staatskasse zu plündern. Auch gegen seinen Nachfolger Jimmy Morales wird wegen Korruption ermittelt, weshalb er das Mandat von CICIG nicht verlängert hat. Sein honduranischer Kollege Juan Orlando Hernández ist kaum besser. Unter seiner Herrschaft bediente man sich sogar bei der Sozialkasse, weshalb in den Armenkrankenhäusern die nötigsten Medikamente, ja sogar Verbandsmaterialien fehlen.
In El Salvador regiert zwar seit 2009 mit der ehemaligen Guerillagruppierung FMLN die Linke, aber auch sie hat die in sie gesetzten Hoffnungen weitgehend enttäuscht. Ihre Sozialpolitik unterscheidet sich kaum von der ihrer rechten Vorgängerregierungen. „Die Frustration und Hoffnungslosigkeit hat in den vergangenen Jahren in Zentralamerika eher noch zugenommen“, sagt die guatemaltekische Menschenrechtlerin Helen Mack.
Was die Mordraten angeht, gehören die drei Länder seit Jahrzehnten zu den traurigen Spitzenreitern. In El Salvador kamen 1995 auf 100 000 Einwohner 140 Morde.3 Allein in den vergangenen drei Jahren wurden in dem rund 6 Millionen Einwohner zählenden Land mehr als 20 000 Menschen umgebracht. Für die meisten der Toten sind die sogenannten Maras verantwortlich – ehemalige Jugendbanden, die sich zu Verbrechersyndikaten entwickelt haben.4
In El Salvador haben sie mindestens 60 000 Mitglieder, in den Nachbarländern Guatemala und Honduras nur unwesentlich weniger. Sie treiben flächendeckend Schutzgeld ein und kontrollieren ganze Stadtviertel.5 Jugendliche, die sich nicht rekrutieren lassen, schweben in Lebensgefahr. Polizei und Militär gehen mit großer Brutalität gegen diese Banden vor; Menschenrechtsorganisationen sprechen von außergerichtlichen Hinrichtungen. Wer jung ist, arm und männlich, gilt den Sicherheitskräften prinzipiell als verdächtig. Tausende junge Männer sind deshalb geflohen.
Die Karawanen sind für sie – schon allein aus finanziellen Gründen – der einzige Weg in ein besseres Leben. Grenzanlagen und wüstes Getwittere des US-Präsidenten können sie nicht entmutigen. „Es sind Karawanen der Hoffnung“, sagt die honduranische Menschenrechtsanwältin Miroslava Cerpas. „Das sind tiefreligiöse Menschen, die auf einen Moses hoffen, der sie durch die Wüste ins gelobte Land führen wird.“
Die Tweets von Donald Trump waren sogar ausschlaggebend dafür, dass die erste Karawane dieser Saison die bislang größte wurde, bis zu 7000 Menschen schlossen sich ihr an. Im Vorfeld der Midterm-Wahlen im November hatte der US-Präsident wegen seiner windelweichen Haltung gegenüber dem saudischen Kronprinzen Mohammed bin Salman, dem der Mord an dem Journalisten Jamal Khashoggi zur Last gelegt wurde, zunächst gar nicht gut dagestanden. Nach Erkenntnissen der New York Times rieten ihm deshalb seine Berater zur Ablenkung auf ein anderes Thema zu setzen und empfahlen die eben in Honduras zusammengestellte Migrantenkarawane.6
Die präsidialen Tweets lockten Journalisten an, das Thema war täglich überall auf der Welt in den Fernsehnachrichten, so auch in Honduras, El Salvador und Guatemala. Immer mehr Menschen schlossen sich an. Die dauernde mediale Begleitung führte auch dazu, dass sich die Karawane nicht teilte oder auflöste. Tausende kamen Mitte November innerhalb weniger Tage in Tijuana an, die Aufnahmekapazitäten der Auffanglager reichten bei Weitem nicht aus.
Erst hier an der Grenze begriffen die Menschen, dass es keinen Moses gab, der sie durch die Wüste führen würde, und dass sich der US-Präsident von ihrem Schicksal nicht rühren ließ und die Grenze öffnete, sondern sie weiterhin als wüste Verbrecherhorde beschimpfte. Der Versuch, als Gruppe die Grenze zu überwinden, wurde von US-Seite mit Tränengasgranaten beantwortet. Mitte Dezember 2018 begann dann der von früheren Karawanen schon bekannte Ablauf: Der große Tross fing an sich aufzulösen und sich auf mehrere Grenzorte zu verteilen.
Kleine Gruppen suchen sich Schlepper oder gehen auf eigene Faust durch die Wüste in Richtung Norden. Es wird noch Wochen, wenn nicht gar Monate dauern, bis sich die Lage in Tijuana entspannt hat.
4 Zu den Maras siehe Rapaelle Bail, „Die Jüngsten werden umgebracht“, LMd, November 2004.
Toni Keppeler ist Journalist mit dem Arbeitsschwerpunkt Mittelamerika (www.latinomedia.de).
© LMd, Berlin