13.12.2018

Das digitale Glück der Kenianer

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Das digitale Glück der Kenianer

Das Geschäft mit mobilen Diensten boomt, an der sozialen Ungleichheit ändert sich nichts

von Sabine Cessou

Quantensprung in der Telefonie, Nairobi 2005 ANTONY NJUGUNA/reuters
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Kibera, der größte Slum Nairobis, ist auch der größte Slum in ganz Afrika. Eine junge Frau fegt vor ihrem Laden, einer Wellblechbude, die kaum einen Quadratmeter groß ist. Der Verkauf findet durch ein winziges Fenster statt. Maureen Nyambura, 23, bietet Telefonkarten und die Überweisung kleiner Geldsummen an. In den letzten zehn Jahren haben sich überall in Kenia Handys und mobile Bankdienstleistungen durchgesetzt. Hier, an einer unbefestigten Straße unweit des Zentrums der kenianischen Hauptstadt, tobt ein harter Wettbewerb von Mobilfunkanbietern wie Airtel oder Safaricom.

Ein Kunde legt einen 1000-Schilling-Schein, umgerechnet 8,60 ­Euro, auf den Tresen. Nyambura sendet das Geld über M-Pesa an eine Telefonnummer. Dank dieser 2007 eingeführten elektronischen Geldbörse, die mittlerweile im ganzen östlichen und südlichen Afrika zur Verfügung steht, können Menschen ohne Bankkonto Bargeld an den zahlreichen Verkaufsstellen von Safaricom einzahlen. Das Guthaben kann dann für Überweisungen aller Art verwendet werden. Auch den Ärmsten ist es so zum Beispiel möglich, Geld an ihre Eltern auf dem Land zu schicken. Zwischen 2006 und 2016 stieg auf diese Weise der Anteil der Erwachsenen mit Zugang zu Bankdienstleistungen von 20 auf 80 Prozent. Alles, was es dafür braucht, ist ein ­Handy.

Afrika ist ein Quantensprung gelungen. Die meisten Länder des Kontinents sind ohne einen vorherigen flächendeckenden Ausbau des Festnetzes direkt zum Mobilfunk übergegangen. Mit der elektronischen Geldbörse ist der wirtschaftlich schwächste Kontinent den Industriestaaten einen Schritt voraus. 26 Millionen der insgesamt 49,7 Millionen Kenianer nutzen sie. Ein großer Teil der Bevölkerung arbeitet in der Schattenwirtschaft, und die klassischen Geschäftsbanken, deren Dienstleistungen überdies teurer sind, weigern sich, für die Ärmsten Konten einzurichten.

Die 1998 gegründete Mobilfunkfirma Safaricom hat in Kenia einen Marktanteil von 67 Prozent und brachte es zuletzt auf einen Halbjahresumsatz von umgerechnet 930 Millionen Euro. Allein durch die Provisionen, die für jede Transaktion mit M-Pesa fällig werden, nimmt das kenianische Unternehmen, an dem die britische Vo­da­fone-Gruppe seit 2000 40 Prozent der Anteile hält, 220 Millionen Euro netto pro Halbjahr ein. Maureen Nyambura verdient ihrerseits etwa 250 Euro pro Monat, mehr als das Doppelte des durchschnittlichen Monatseinkommens (103 Euro). Sie legt Geld zurück, um sich ihren Traum zu erfüllen, Lehrerin zu werden. Um das Ausbildungsgeld von 400 000 Schilling (3440 Euro) zusammenzubekommen, wird sie zwar noch ein paar Jahre brauchen, aber sie hat keinen Zweifel, dass sie es schaffen wird, schließlich hat sie von früh bis spät Kundschaft.

Am selben Tag, am anderen Ende der Hauptstadt. Ein paar Freunde verbringen einen alkoholseligen Abend auf der Terrasse eines Wohnhauses im gehobenen Westlands-Viertel. Als die Sektflaschen leer sind, ertönt im Chor der Ruf „Chupa Chap!“. Die Gastgeberin tippt auf ihrem Smartphone herum und ruft die gleichnamige Website auf. Eine Anmeldung genügt, um jederzeit die Dienste ­dieses Online­lieferservices für Bier, Wein und Schnaps in Anspruch zu nehmen. Er wirbt damit, „der schnellste der Stadt“ zu sein, was ganz schön gewagt ist angesichts des Verkehrschaos in der 3,5-Millionen-Einwohner-Stadt. Nach nur zehn Minuten werden die Kunden langsam ungeduldig. Doch dann ist der Kurier, der sich mit seinem Moped geschickt durch den Stau geschlängelt hat, mit dem Prosecco für 11 Euro die Flasche da.

Einen derart effizienten Service gibt es weder in London noch Paris. Ist das Afrika der Zukunft in Kenia bereits Realität? Im Imax-Kino in der Innenstadt lief im März der amerikanische Science-Fiction-Film „Black Panther“ in 3-D – wie überall in Afrika vor vollen Sälen. In den Werbespots davor ging es ausschließlich um Informations- und Kommunikationstechnologien – das neueste Smartphone, die neueste App.

Zwei Straßen weiter, auf dem Maasai Market, geraten zwei Verkäuferinnen beinahe in Ekstase angesichts des iPhone 5, mit dem ein Tourist den Wechselkurs ausrechnet. Obwohl es mittlerweile neuere Modelle gibt, ist das unerschwingliche Gerät für sie das Nonplusultra.

Auf den ersten Blick wirkt der kenianische Hightechsektor wie das erleuchtete Schaufenster des Fortschritts. Mit seinen zahlreichen Messen und Kongressen – dem ICT Innovation Forum, NexTech Africa, Women in Tech Africa oder Agritec Africa –, seinen Offshore-Callcentern und seinem Großprojekt Silicon Savannah setzt er Maßstäbe. Andere Länder ziehen nach, wie das benachbarte Ruanda, das Kenia Konkurrenz zu machen versucht.

Hightechcity oder weißer Elefant?

Der offizielle Name von Silicon Savannah lautet Konza Technology ­City (KTC). Seit 2013 wird auf dem 2000 Hektar großen, etwa 60 Kilometer von Nairobi an der Straße nach Mombasa liegenden Gelände gebaut. Nach dem Willen der Regierung soll es Kenia zum „digitalen Drehkreuz Afrikas“ machen. Rund 30 000 Wohnungen, eine Universität und ein hochmodernes Krankenhaus sind für die „Smart City“ geplant – bislang ist nur ein einziges Gebäude fertiggestellt.

Das Projekt, dessen Kosten auf 15 Milliarden US-Dollar geschätzt werden, soll zu 10 Prozent vom ke­nia­nischen Staat und zu 90 Prozent von ausländischen Investoren finanziert werden. Die aber müssen erst noch gefunden werden. Bisher sind lediglich eine südkoreanische Universität und der chinesische Konzern Huawei eingestiegen. Mit der KTC, die Teil des staatlichen Entwicklungsplans „Kenya Vision 2030“ ist, sollen innerhalb von fünf Jahren 20 000 Jobs, langfristig sogar 200 000 Arbeitsplätze geschaffen werden. Das Land will so den Schritt vom Entwicklungs- zum Schwellenland schaffen.

Aber technologischer Fortschritt und das Vertrauen der Investoren lassen sich nicht einfach anordnen. Silicon Savannah wird in Kenia mit Skepsis betrachtet. Selbst sein Architekt Bitange Ndemo klagt über die schwerfällige Planung und die bürokratischen Hürden.

„Die meisten Kenianer halten Konza City für einen weißen Elefanten, von dem letztlich nur ausländische Konzerne und die Regierung profitieren werden“, sagt Kahenya Kamunyu, Gründer des WLAN-Anbieters Able Wireless. „Es mag ja eine brillante Idee sein, aber sie kommt zum falschen Zeitpunkt. Wir sollten uns lieber erst dem Auf- und Ausbau der Infrastruktur widmen, die es Kenia dann in einem zweiten Schritt ermöglicht, Großprojekte durchzuführen.“ Er nennt ein einfaches Beispiel: Die Hochschule für Design an der Universität Nairobi verfügt noch nicht einmal über einen 3-D-Drucker.

Die Regierung verteidigt ihre Pläne mit Verweis auf die Statistik: Neue Technologien machten 2017 bereits 10 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) aus. Ihre Bedeutung für die ke­nia­nische Wirtschaft ist seit 2009, seit der Verlegung eines Unterwasser-Glasfaserkabels, das die Vereinigten Arabischen Emirate mit Kenia verbindet, sprunghaft gestiegen. Dieses 82 Millionen US-Dollar teure Projekt namens The East African Marine System (Teams) soll die Abhängigkeit von Südafrika verringern, das ein anderes Kabel kontrolliert. Teams ermöglicht die schnellsten Internetverbindungen in ganz Afrika für 25 bis 75 Euro im Monat – ein teures Vergnügen angesichts des durchschnittlichen Einkommensniveaus in Kenia.

Im Kenia des Hightechzeitalters gehen immer noch drei von vier Nutzern in Internetcafés, wo der Internetzugang langsam und teuer ist.1 Das digitale Bildungsprogramm DigiSchool, ein wichtiges Wahlversprechen der Präsidentschaftswahlen 2013, soll eine Million Laptops für die 24 000 Grundschulen des Landes bereitstellen. Auch hier wird kritisiert, dass das Projekt nur langsam in Gang kommt und dass 20 Prozent der infrage kommenden Schulen gar keinen Strom, oft nicht einmal Schreibtische haben.

Die Armutsquote ist immerhin rückläufig: Der Anteil der Bevölkerung, der von weniger als 2 US-Dollar pro Tag lebt, ist zwischen 2005 und 2016 von 43,6 auf 35,6 Prozent zurückgegangen. Laut Tavneet Suri, Ökonom am Massachusetts Institute of Technology (MIT), der die Auswirkungen von M-Pesa seit seiner Gründung untersucht, hat die elektronische Geldbörse zwischen 2008 und 2014 etwa 194 000 Haushalte aus extremer Armut geholt – das sind 2 Prozent aller kenianischen Haushalte. Auch wenn diese Innovation Bankdienstleistungen für alle zugänglich macht – die strukturelle wirtschaftliche Ungleichheit kann sie nicht überwinden.

Wie in anderen afrikanischen Ländern ist das vor allem vom Dienstleistungssektor getragene Wirtschaftswachstum (für 2018 wird ein Plus von etwa 5,5 Prozent erwartet) zwar durchaus ordentlich, hat aber nicht zum erhofften Durchbruch geführt. In einer von großer Ungleichheit geprägten Gesellschaft ist die Arbeitslosigkeit hoch (11 Prozent laut staatlicher Statistik, 39,1 Prozent laut UN), und wo Arbeitsplätze geschaffen wurden, sind diese oft prekär.2 Grund dafür ist der Mangel an Arbeitsplätzen im privaten Sektor und an Investitionen im Bildungs- und Gesundheitsbereich. Die beiden Säulen der Volkswirtschaft, Industrie (17 Prozent des BIPs) und Landwirtschaft (35 Prozent) sind nicht sehr produktiv.

Gesteigerte Milchproduktion dank der iCow-App

Zwar half die für Kleinbauern mit nur wenigen Nutztieren entwickelte App iCow ihren 580 000 Nutzern, die Fortpflanzung ihrer Tiere besser zu überwachen und die Milchproduktion – und damit ihr Einkommen – zu erhöhen. „Aber“, erklärt Ken Mwangi vom Fachbereich Agrartechnik der Universität Nairobi, „auch wenn die Landwirte sich nun in Echtzeit über die Preise auf den Märkten informieren können, lösen die Handys nicht ihr Problem fehlender Verkehrsinfrastruktur. Die bräuchten sie, um Zugang zu den Märkten und den verarbeitenden Lebensmittelbetrieben zu haben.“

Einer der bemerkenswertesten Erfolge der neuen Technologien in Kenia ist zweifellos die Plattform ­Ushahidi (Suaheli für „Zeugenschaft“). Es handelt sich um eine kostenlose Software, die für die Echtzeitüberwachung politisch motivierter Gewalt nach den Wahlen von 2008 entwickelt wurde. Die Auseinandersetzungen zwischen den Anhängern des scheidenden Präsidenten Mwai Kibaki und denen des Oppositionskandidaten Raila Odinga, die in einen ethnischen Konflikt eskalierten, kosteten 1200 Menschen das Leben.

Die Software, die 2008 in Kenia eine Kartierung der gewaltsamen Zusammenstöße ermöglichte, wurde seitdem bereits 22 000-mal in 154 Ländern eingesetzt. Mit ihrer Hilfe wurden zum Beispiel in Haiti Erdbebenopfer ausfindig gemacht und im US-Bundesstaat Washington von Schnee blockierte Straßen geortet. Die relativ moderate Nutzungsgebühr von 100 bis 500 Dollar pro Monat ermöglichte dem sozialen Unternehmen Ushahidi ein kräftiges Wachstum. Aber so erfolgreich sie auch sein mag, eine solche Plattform kann die immer wiederkehrenden politischen Spannungen in Kenia natürlich nicht mildern. Die Wahlen sind nach wie vor von Gewalt geprägt, mit oder ohne neue Technologien.

Am 1. September 2017 fällte der oberste Gerichtshof ein historisches Urteil, mit dem er die Präsidentschaftswahlen vom 8. August desselben Jahres für ungültig erklärte. Die Richter hatten vor allem die unabhängige Wahlkommission angegriffen: Sie habe das Ergebnis auf der Basis von nicht bestätigten Auszählungen verkündet und eine Überprüfung ihres Computersystems trotz des Verdachts auf Wahlbetrug und Hacking verweigert.

Mit der Begründung, die Wahlreformen seien unzulänglich, boykottierte Odinga, der aussichtsreichste Gegenkandidat, die Neuwahlen vom 26. Oktober 2017. Er rief überdies zum Boykott von Unternehmen auf, die als besonders regierungsnah gelten – darunter Safaricom. Dessen Umsätze sind seither im Westen des Landes deutlich zurückgegangen, wo die Volksgruppe der Luo, der Odinga angehört, die Bevölkerungsmehrheit stellt.

„Die digitale Wirtschaft ist eben nur ein Werkzeug und kein Allheilmittel“, meint eine Geschäftsfrau, die lieber anonym bleiben möchte. „Politiker können von mir aus Pläne machen, so viel sie wollen, solange sie uns unser Geschäft machen lassen.“

Ory Okolloh, Mitbegründerin von Ushahidi und ehemalige Direktorin von Google Afrika, sagt, dass die Fetischisierung des Unternehmertums in Afrika zum neuen neoliberalen Mantra geworden sei. „Alles, was ihr tun müsst, ist, ein Unternehmen zu gründen, sagt man uns. Es gibt keinen Strom, aber ihr habt doch Sonnenenergie! Die Straßen sind holprige Pisten, aber in Nairobi könnt ihr mit Uber fahren!“ Doch die eigentlichen Probleme liegen woanders: „Man kann keine guten Geschäfte machen, wenn ein Land schlecht regiert ist. Sicher gibt es in Afrika ein beträchtliches Wirtschaftswachstum. Aber nicht für die Afrikanerinnen und Afrikaner.“

In Kenia mag eine digitale Revolution stattfinden. Aber diese Revolution geht nicht über die digitale Wirtschaft hinaus.

1 Weltbank, „World Development Report 2016: Digital Dividends”, Washington, D. C., 2016, www.worldbank.org.

2 Siehe Gérard Prunier, „Es brennt in Kenia“, LMd, ­Oktober 2014.

Aus dem Französischen von Nicola Liebert

Sabine Cessou ist Journalistin.

Le Monde diplomatique vom 13.12.2018, von Sabine Cessou