13.12.2018

Boykott gegen Israel

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Boykott gegen Israel

Vor 13 Jahren wurde die Bewegung für Boykott, Desinvestitionen und Sanktionen (BDS) gegründet. Zeit für eine kritische Bilanz

von Nathan Thrall

Emily Gernild, ohne Titel (still life 1), 2018, Ölkreide, Pastellkreide, Buntstift auf Papier, 40,5 x 29,5 cm , Berlindef image; Courtesy: SCHWARZ CONTEMPORARY
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Seit ihrer Gründung vor 13 Jahren hat die Bewegung für Boykott, Desinvestitionen und Sanktionen (BDS) für viel Aufregung gesorgt und sich viele Feinde gemacht. Arabische Staaten, die bemüht sind, ihre Beziehungen zu Israel zu normalisieren, und ihren jahrzehntealten Boykott aufgeben wollen, werden unter Druck gesetzt; die Palästinensische Autonomiebehörde wird für ihre Zusammenarbeit mit Israels Armee und Militärverwaltung angefeindet, und die PLO-Führung ist sauer, weil BDS ihre Autorität als international anerkannte Vertretung der Palästinenser untergräbt.

Die politische Führung in Tel Aviv brachte BDS regelrecht zur Weißglut; wegen der heftigen antidemokratischen Gegenkampagnen der Regierung Netanjahu machen sich israelische Linke und Liberale inzwischen große Sorgen um ihr Land. Die Überbleibsel der israelischen Friedensbewegung werden vor den Kopf gestoßen, weil BDS die Palästinenser dazu drängt, ihren Kampf gegen die Besatzung in einen Anti-Apartheid-Kampf umzumünzen. Und den europäischen Geberländern für Palästina bereitet sie heftige Kopfschmerzen, weil wiederum Israel verlangt, die Zusammenarbeit mit palästinensischen Organisationen, die BDS unterstützen, einzustellen – was praktisch gar nicht möglich ist, weil sich fast alle wichtigen NGOs in den besetzten Gebieten für die Kampagne engagieren.

Unternehmen wie Airbnb, RE/MAX und HP beschert BDS schlechte Publicity, indem sie deren geschäftliche Verflechtungen mit der Besatzung anprangert; große Firmen haben das Westjor­dan­land schon verlassen, und weltweit wurden Filmfestivals, Konzerte und Ausstellungen abgebrochen oder gleich ganz abgesagt; auch palästinensische Künstlerinnen und Künstler sind wütend, weil sie der Kollaboration mit Israel beschuldigt werden, und akademische und sportliche Verbände regen sich darüber auf, dass BDS sie zwingt, im palästinensisch-israelischen Konflikt Position zu beziehen.

BDS hat auch die jüdische Diaspora gespalten, weil viele im Mitte-links-Lager sich auf einmal dazu gezwungen sahen, sich zwischen der rechten Pro-Siedler-Regierung Israels und der anti-zionistischen Linken zu entscheiden. Liberale Zionisten stellte BDS vor die unangenehme Frage, warum sie den Boykott von Waren aus den Siedlungen akzeptieren, nicht aber den Boykott des Staates, der diese Siedlungen schafft und am Leben hält.

Am folgenreichsten an der BDS-Kampagne ist womöglich aber, dass sie den internationalen Konsens einer Zweistaatenlösung infrage gestellt hat. Damit hat sie die gesamte Mechanik des Nahost-Friedensprozesses erschüttert: Die zentrale Prämisse einer ganzen Armada von NGOs, diplomatischer Delegationen und Denkfabriken beruhte lange auf der Annahme, dass der Konflikt durch ein Ende der israelischen Gaza-Blockade und der Besatzung des Westjordanlands und Ostjerusalems gelöst werden könne – die Rechte der palästinensischen Bürger Israels und die Frage der Rückkehr der Flüchtlinge blieben dabei außen vor.

BDS hat die älteren Wurzeln des Konflikts wieder freigelegt: die ursprüngliche Vertreibung eines Großteils der Palästinenser und die Errichtung des israelischen Staats auf den Ruinen palästinensischer Dörfer. Sie hat alte Fragen wieder an die Oberfläche gespült – nach der Legitimität des Zionismus, der Bevorzugung jüdischen Rechts vor nichtjüdischem und den Gründen, warum Flüchtlinge, anders als in anderen Konflikten, nicht in ihre Heimat zurückkehren dürfen. Vor allem aber die unangenehme Frage, ob Israel – selbst wenn es die Besatzungpolitik aufgibt – beides sein kann, ein demokratischer und jüdischer Staat.

Als Gründungsdokument gilt ein Grundsatzpapier vom 9. Juli 2005 – bekannt als BDS-Aufruf. Die zweite Intifada war mit einer vernichtenden militärischen Niederlage zu Ende gegangen. Jassir Arafat, das Symbol des palästinensischen Widerstands, war tot; und sein Nachfolger Mahmud Abbas stand wie kein Zweiter für den Oslo-Friedensprozess.

Mit Abbas an der Spitze schien die Gewalt zwar vorerst beigelegt, es bedeutete aber auch die Rückkehr zu einer Strategie, die in der Vergangenheit wenig dazu beigetragen hatte, die Besatzung zu beenden. Sollte weiter Druck auf Israel ausgeübt werden, musste dieser aus einer Graswurzelbewegung und aus dem Ausland kommen.

Mehr als 170 palästinensische Organisationen aus den besetzten Gebieten, Israel und der Diaspora unterstützten damals den BDS-Aufruf. Das gesamte politische Spektrum war vertreten: Linke, Islamisten, Unterstützer der Zwei- und der Einstaatenlösung. Das Neue des Aufrufs bestand nicht in der empfohlenen Taktik – Boykott- und Desinvestitionskampagnen waren schon vor 2005 verbreitet.

Neu an BDS war, dass sie die drei großen Forderungen, mit denen Israel unter Druck gesetzt werden sollte, vereinte: erstens Freiheit für die Bewohner der besetzten Gebiete, zweitens gleiche Rechte für die palästinensischen Bürger Israels und drittens Gerechtigkeit für die Palästinenser der Diaspora – die größte Gruppe – inklusive des Rechts auf Rückkehr.

Der BDS-Aufruf war nicht nur eine Herausforderung für Israel, sondern auch für die palästinensische Führung. Denn er verkörperte eine konzeptionelle Neuausrichtung des nationalen Kampfes, die eher an die ursprünglichen Positionen der PLO erinnerte – bevor die Organisation aufgrund militärischer Niederlagen, internen Drucks und politischen Pragmatismus das Ziel eines einzigen demokratischen Staats aufgegeben und sich dem Zweistaatenkompromiss angeschlossen hatte.

Die internationale Gemeinschaft hatte die Zweistaatenlösung als ein Geschenk an die Palästinenser präsentiert. In den Augen der Palästinenser aber handelte es sich um ein Geschenk an die Israelis. Zu Beginn der zionistischen Bewegung Ende des 19. Jahrhunderts stellten Araber 90 Prozent der Bevölkerung in Palästina; 1948, vor Beginn des Israelischen Unabhängigkeitskriegs, waren es noch mehr als zwei Drittel, bis im selben Jahr 80 Prozent der palästinensischen Bewohner aus dem zukünftigen Territorium des Staats Israel flohen oder vertrieben wurden. 16 Jahre später gründete sich die PLO – lange vor der Besetzung des Westjordanlands und Gazas durch die israelische Armee. Ihre zentralen Ziele waren die Befreiung des ganzen Lands und die Rückkehr der ursprünglichen Bevölkerung.

Nach der ersten Intifada und dem Oslo-Abkommen von 1993 waren jedoch viele Palästinenser bereit, die Zweistaatenformel zu akzeptieren – nicht weil sie sie als gerecht empfanden, sondern einfach weil auf mehr nicht zu hoffen war. Mit jedem Detail aber, das aus den zahlreichen Friedensangeboten bekannt wurde, erschien der Deal fauler. Die Palästinenser sollten nicht nur auf 78 Prozent ihres Landes verzichten, sondern auch auf die Territorien der großen israelischen Siedlungen in den besetzten Gebieten. Sie sollten die Souveränität über große Gebiete von Ostjerusalem – ihrer zukünftigen Hauptstadt – abtreten, inklusive der Altstadt. Außerdem sollten sie akzeptieren, dass einem Großteil der Vertriebenen und Geflüchteten die Rückkehr weiterhin verwehrt wurde.

Sie sollten die Forderung nach gleichen Rechten für die palästinensischen Staatsbürger Israels, die mehr als ein Fünftel der Bevölkerung ausmachten, aufgeben. Als Gegenleistung würden sie einen Westbank-Gaza-Staat erhalten, den sogar israelische Ministerpräsidenten – von Jitzhak Rabin (1922–1995) bis Benjamin Netanjahu – als einen state-minus („Minusstaat“) oder ein „Gebilde, weniger als ein Staat“ bezeichnet hatten. Als sich selbst diese Zugeständnisse als unzureichend herausstellten, um ein Ende der Besatzung zu erlangen, begannen immer mehr Palästinenser die Zweistaatenlösung zu kritisieren. Zur Zeit des BDS-Aufrufs waren das Westjordanland und Gaza bereits seit fast vier Jahrzehnten von Israel besetzt – und nichts deutete auf ein Ende der Besatzung hin. Die USA und andere Staaten versprachen den Palästinensern, dass sich die Situation mit der Gründung eines unabhängigen palästinensischen Staats ändern würde, taten aber wenig für die Umsetzung.

Die Zweistaatenlösung wurde zu einem leeren Slogan – mit fatalen Folgen: Solange sie als Option im Raum stand, weigerten sich die großen Weltmächte, von Israel zu verlangen, den Palästinensern die Staatsbürgerschaft und gleiche Rechte zu verleihen. So verwandelte sich das Zweistaatenkonzept vom Versprechen, die israelische Besatzung zu beenden, zum wichtigsten Vorwand, den Palästinensern die Gleichstellung zu verweigern.

Israel reagierte nicht sofort auf BDS, dann aber mit voller Wucht. 2009 wurde Yossi Kuperwasser – genannt Kuper – zum Generaldirektor des Ministeriums für strategische Angelegenheiten ernannt und verwandelte es in eine Kommandozentrale für den „Kampf gegen BDS“, wie er es nannte. Kuperwasser begann seinen Job kurz nach dem Gazakrieg 2008/2009, in dessen Verlauf 13 Israelis und 1400 Palästinenser getötet wurden. Die Veröffentlichung eines UN-Berichts unter der Leitung des südafrikanischen Richters Richard Goldstone im September 2009 versetzte der internationalen Reputation Israels einen weiteren herben Schlag. Der Bericht gelangte zu dem Ergebnis, dass sowohl israelische Streitkräfte als auch bewaffnete palästinensische Gruppen Kriegsverbrechen begangen hatten. Israel habe „gezielt Angriffe auf Zivilisten“ durchgeführt „mit dem Ziel, Terror zu verbreiten“, hieß es darin.

Nach Ansicht Kuperwassers war es der Goldstone-Bericht, der die israelische Regierung zum ersten Mal auf die Gefahr der „Delegitimierung“ aufmerksam machte. Ende 2009 identifizierte Netanjahu die Delegitimierung – neben dem iranischen Atomprogramm und den wachsenden Raketenarsenalen in Gaza und im Libanon – als eine der drei größten Bedrohungen für Israel.1 Israelische Offizielle und Politiker bezeichnen BDS seitdem gern als eine „existenzielle“ oder „strategische“ Bedrohung.

Die BDS-Kampagne setzt auch die PLO unter Druck

Anders sehen es Kommentatoren aus dem israelischen Mitte-links-Lager: Ihrer Meinung nach ist die massive Anti-BDS-Kampagne der Regierung zuerst innenpolitisch motiviert. Sie verweisen darauf, dass Israels Außenhandelsvolumen seit der Gründung von BDS gewachsen ist und dass die diplomatischen Beziehungen mit Indien, China, den afrikanischen Staaten und sogar der arabischen Welt gefestigt wurden.

Den Einfluss von BDS könne man nicht am Außenhandel Israels messen, meint hingegen Kuperwasser: „Die Kernfrage ist nicht, ob sie uns boykottieren oder nicht. Die Kernfrage ist, ob sie es schaffen, im internationalen Diskurs die Position zu etablieren, dass Israel als jüdischer Staat illegitim ist.“ Insofern stelle BDS eine sehr reale Gefahr dar, und es sei nicht damit getan, die Kampagne zu ignorieren oder sie als bloßes Ärgernis abzutun: „Bis 2010 haben wir diese Taktik ausprobiert, mit keinen guten Ergebnissen.“2

Mehr als 20 Prozent der 8,8 Mil­lio­nen israelischen Staatsbürger sind Palästinenser. Es sind die Überlebenden und Nachfahren einer palästinensischen Minderheit, die während des Kriegs von 1948 in Israel geblieben sind. Haneen Zoabi, eine 49-jährige arabische Israelin aus Nazareth, ist seit 2009 Knessetabgeordnete und eine vehemente BDS-Unterstützerin. Im Parlament kritisiert sie die israelische Politik gegenüber den Palästinensern regelmäßig aufs Schärfste und bezeichnet Israel als Apartheidstaat.

Während Israel Staatsbürgern mit palästinensischen Wurzeln wie Zoabi sowohl das aktive als auch das passive Wahlrecht zugesteht, hat der Staat Landbesitz in palästinensischen Händen stets als Bedrohung wahrgenommen. Die Regierung hat sogar offiziell Pläne durchgesetzt, arabische Gebiete zu „judaisieren“ und Palästinenser zurückzudrängen. Ein Viertel der nach 1948 in Israel verbliebenen Palästinenser wurde innerhalb der israelischen Landesgrenzen vertrieben. Bis 1966 galt für die palästinensische Bevölkerung Israels das Militärrecht, das sie zum Beispiel mit Ausgangssperren belegte. Der Staat konfiszierte ungefähr die Hälfte ihres Landes und verabschiedete Gesetze, die bis heute verhindern, dass die Betroffenen ihr Eigentum zurückfordern können.

Zehntausende Palästinenser leben heute in Dörfern, die bereits vor der Gründung Israels existierten, vom Staat aber als „nicht anerkannt“ bezeichnet werden; sie sind von Zerstörung und Zwangsumsiedlung bedroht, nicht selten wird ihnen die Grundversorgung, etwa mit Wasser oder Strom, ganz oder teilweise verweigert.3 Weil der Staat die Ausweitung arabischer Wohngebiete einschränkt, sind palästinensische Is­rae­lis gezwungen, in jüdischen Gemeinden nach Wohnraum zu suchen. Kein leichtes Unterfangen, denn in Hunderten jüdischen Gemeinden in Israel gibt es sogenannte Aufnahmekomitees, die laut Gesetz berechtigt sind, Antragsteller aufgrund ihrer „sozialen Eignung“ abzulehnen – ein Deckmantel zur Diskriminierung von Nichtjuden.

Die Verabschiedung des neuen „Nationalstaatsgesetzes“ im Juli 2018 hat diese jahrzehntelange Politik der Ungleichbehandlung bestärkt. Darin wird nur den jüdischen Israelis ein Recht auf Selbstbestimmung zugestanden. Der Text legt außerdem fest, dass „der Staat die Entwicklung jüdischer Siedlungen als nationalen Wert betrachtet und ihre Errichtung und Konsolidierung unterstützen und fördern wird“.4

Haneen Zoabi sieht die Besatzung des Westjordanlands sehr kritisch, glaubt aber, dass die Wurzel des Konflikts woanders liegt: „Das Problem ist nicht die Besatzung, sondern das zionistische Projekt“, sagt Zoabi. „In dem Moment, wo jemand sagt, dass Israel kein normaler Staat ist – dass es kein demokratischer Staat ist, sondern ein Staat, der gegen Menschenrechte verstößt –, in dem Moment zerstört man sein liberales und humanes Image. BDS untergräbt Israels Ruf.“ Trotz ihrer gegensätzlichen Ziele sind sich die israelische Rechte und die führenden Köpfe der BDS-Kampagne in einigen Dingen erstaunlich einig. Beide Seiten erklären, dass im Zentrum des israelisch-palästinensischen Konflikts der Zionismus und die Vertreibung eines Großteils der Palästinenser 1948 steht – und nicht die Besetzung der palästinensischen Gebiete im Jahr 1967. Beide sehen die Forderungen der palästinensischen Bürger Israels nach Gleichheit und die Forderungen der Flüchtlinge nach einem Rückkehrrecht als zentrale Streitpunkte, die in den bisherigen Friedensbemühungen nicht genug beachtet wurden.

Doch während die BDS-Befürworter versuchen, den Zionismus als ein im Kern rassistisches und deshalb abzulehnendes Unterfangen zu enttarnen, ist Kuperwasser überzeugt, dass es schließlich die Palästinenser sein werden, die sich selbst entlarven. „Die Palästinenser gehen ein sehr großes Risiko ein“, sagt er. „In meinen Augen gibt es eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass die Welt ihr Gedankenkonstrukt zurückweisen wird. Die Leute werden sagen: ‚Das ist es, was die Palästinenser wollen? Sie wollen, dass Israel verschwindet? Die sind verrückt, wir sind total dagegen!‘ “

Für Kuperwasser unterscheiden sich die BDS-Bewegung und die palästinensische Führung lediglich in der Taktik, mit der sie ihre politischen Ziele verfolgen, nicht aber in ihren Zielen selbst. Die Akzeptanz der Zweistaatenlösung durch die PLO, ihre Versprechen, Israels demografische Bedenken ernst zu nehmen, ihr Schweigen in Bezug auf die Rechte der Palästinenser in Israel – all das, so Kuperwasser, sei nur ein Täuschungsmanöver, um einen Staat im Westjordanland und Gaza zu bekommen und in einem zweiten Schritt Anspruch auf das gesamte Staatsgebiet zu erheben. Die BDS-Kampagne hatte zwar bisher keine nennenswerten ökonomischen Folgen für Israel – im Gegensatz etwa zum jahrzehntelangen Boykott gegen Südafrika –, dennoch war ihr Aufstieg rasant.

Das liberale Israel sieht die Demokratie in Gefahr

Große Investoren wie etwa der holländische Pensionsfonds PGGM und die evangelisch-methodistische Kirche haben ihr Kapital aus israelischen Banken abgezogen. Dutzende studentische Organisationen und akademische Einrichtungen haben Boykott- und Desinvestitionsaktionen unterstützt. Und zahlreiche Künstlerinnen und Musiker haben Auftritte in Israel abgesagt.

Nicht weniger wichtig ist, dass die BDS-Bewegung den politischen Diskurs innerhalb Palästinas bestimmt: Noch 2013 hatte Mahmud Abbas verkündet, dass die PLO den Boykott der israelischen Siedlungen unterstütze, nicht aber den Boykott Israels. Inzwischen hat die PLO – zumindest rhetorisch – die Positionen von BDS übernommen.

Auch internationale Organisationen sind durch den Einfluss von BDS dazu übergegangen, statt halbherziger Erklärungen handfeste Maßnahmen und Sanktionen zu fordern. Im vergangenen Sommer forderte Amnesty International ein weltweites Verbot von Waren aus den Siedlungsgebieten und ein Waffenembargo sowohl gegen Israel als auch gegen bewaffnete palästinensische Gruppen.

Fast alle Desinvestitions- und Boykottaufrufe von Unternehmen oder studentischen Organisationen bezogen sich ausschließlich auf die israelischen Siedlungen in den besetzten Gebieten. Eine zentrale Strategie der israelischen Regierung bestand jedoch darin, diesen Unterschied zu verwischen: Jeder Boykott gegen die Siedlungen wurde zum Angriff auf das Existenzrecht Israels umgedeutet. „Wir sagen: Es gibt keinen Unterschied zwischen einem Siedlungsboykott und einem Boykott Israels“, erklärt Kuperwasser. „Wenn du einen Boykott gegen Israel unterstützt – egal welchen Teil von Israel –, dann bist du ein Feind Israels.“

Im März 2017 verabschiedete die Knesset ein Gesetz, das Ausländern die Einreise verbietet, die öffentlich einen Boykott gegen Israel „oder ein Gebiet unter seiner Kontrolle“ unterstützt haben. Und Gilad Erdan, Israels Minister für strategische Angelegenheiten, forderte Geldstrafen für israelische Organisationen, Unternehmen und Einzelpersonen, die zum Boykott gegen Israel oder die Siedlungen aufrufen. Nachdem Hagai El-Ad, der die israelische Menschenrechtsorganisation B’Tselem leitet, den UN-Sicherheitsrat aufgefordert hatte, gegen die israelische Besatzung vorzugehen, verlangte der ­Knessetabgeordnete David Bitan, man solle El-Ad die Wiedereinreise verweigern und die Staatsbürgerschaft entziehen.

Nicht von ungefähr sieht das liberale Israel die größte Gefahr darin, dass durch die reflexartige und massive Reaktion der israelischen Regierung auch die Rechte „normaler“ Bürger und die demokratischen Institutionen in Mitleidenschaft gezogen werden. So hat etwa das Ministerium für strategische Angelegenheiten die Geheimdienste des Landes angewiesen, „Delegitimierer“ Israels zu überwachen. Das Ministerium forderte außerdem, eine schwarze Liste von Organisationen und Personen anzulegen, die einen gewaltlosen Boykott unterstützen, und gründete eine Sondereinheit, die Boykottunterstützer öffentlich diskreditieren soll, indem sie unter anderem bezahlte Artikel in der israelischen Presse platzierte. Im vergangenen Jahr rief Israel Katz, Minister für die Geheimdienste, gar öffentlich zu „gezielten zivilen Tötungen“ von Aktivisten wie dem BDS-Mitgründer Omar Barghouti auf, der ein permanentes Aufenthaltsrecht in Israel besitzt.

Israels vielleicht wichtigstes Instrument im Kampf gegen die Delegitimierung besteht darin, seinen Kritikern Antisemitismus vorzuwerfen. Zunächst musste dafür jedoch die offizielle Definition des Begriffs geändert werden: 2005 veröffentlichte eine Gruppe von Experten und Institutionen in Zusammenarbeit mit dem American Jewish Committee eine neue „Ar­beits­de­fi­ni­tion“ des Begriffs, die 2016 von der International Holocaust Re­mem­brance Alliance (IHRA) angenommen und seither von einer Reihe weiterer Institutionen – teils mit kleinen Änderungen – übernommen wurde; darunter das US-Außenministerium.

Seit 2008 definiert das State Department Antisemitismus anhand der „drei D“: Delegitimierung, Dämonisierung und „doppelte Standards“ für Israel. Zur Delegitimierung gehört nach dieser Definition, „dem jüdischen Volk sein Recht auf Selbstbestimmung und Israel sein Existenzrecht abzusprechen“. Antizionismus – inklusive der Sichtweise, dass Israel ein Staat mit gleichen Rechten für alle Bürger sein sollte – ist demnach eine Form von Delegitimierung und damit antisemitisch. Zur Dämonisierung gehören etwa „Vergleiche zwischen der aktuellen israelischen Politik und derjenigen der Nazis“ – wie es der stellvertretende Stabschef der is­rae­li­schen Armee, Jair Golan, in einer Rede zum Holocaustgedenktag 2016 getan hat. Er verglich einige Entwicklungen im heutigen Israel mit den „abscheulichen Tendenzen“ in Europa und Deutschland in den 1930er und 1940er Jahren.

Mit dem dritten D, den „doppelten Standards“, wird Kritik, die sich exklusiv an Israel richtet, als „neuer Antisemitismus“ ausgemacht. Dieser Vorwurf lässt sich allerdings gegen fast jede Boykottkampagne der Vergangenheit erheben – inklusive der Kampagne gegen das Apartheidregime in Südafrika. Denn die meisten der damaligen Aktivisten ignorierten schlimmere Verbrechen anderswo, etwa die gleichzeitig stattfindenden Genozide in Kam­bodscha, Irakisch-Kurdistan oder Osttimor.

Die neue Definition von Antisemitismus wird in den USA besonders häufig gegen Israelkritiker an Hochschulen in Stellung gebracht. Mehrere pro­is­rae­li­sche Lobbygruppen haben Universitäten dazu aufgefordert, die De­fi­ni­tion des State Departments zu übernehmen. An der Northeastern University in Boston und der University of Toledo in Ohio forderten proisraelische Studenten sogar, alle Diskussionen über BDS zu verbieten, und argumentierten, diese würden auf dem Campus ein antisemitisches Klima schaffen.

Trotz dieser Exzesse ist Kuperwasser überzeugt, dass die Anti-BDS-Kampagne auf dem richtigen Weg ist und letztlich Erfolg haben wird: „Als wir damals in die große Schlacht zogen – die zweite Intifada –, sagten mir Generäle aus aller Welt: ,Hör zu, Kuper, du verschwendest deine Zeit, niemand hat je einen Krieg gegen den Terrorismus gewonnen.‘ Und ich habe gesagt: Nein, wir müssen diesen Krieg gewinnen. Wir haben keine Alternative. Dasselbe gilt heute für BDS.“

Kobi Snitz ist Mathematiker am Weizmann-Institut in Rehovot und Mitglied der Organisation Boycott from Within, einer Gruppe von meist jüdischen Israelis, die BDS unterstützen. Er demonstrierte an der Seite von Palästinensern im Westjordanland und wurde mehrmals verhaftet. Snitz unterstützte die Familie von Ahed Tamimi. Die 16-Jährige wurde zum Symbol des gewaltlosen palästinensischen Widerstands, nachdem sie im Dezember 2017 verhaftet worden war, weil sie einen israelischen Soldaten geschlagen hatte. Kurz zuvor war ihr 15-jähriger Cousin durch einen Kopfschuss aus kurzer ­Distanz von der Armee getötet worden.

Snitz erzählt, dass die gewaltlosen Proteste in Tamimis Heimatdort Nabi Saleh mit der Zeit abgeflaut seien wie überall im Westjordanland. „Es ist erstaunlich, dass sie überhaupt so lange angedauert haben“, sagt er. „In Nabi Saleh sind vier Menschen gestorben, Hunderte wurden verletzt, und etwa ein Drittel der Bewohner wurde festgenommen. Einen solchen Widerstand für so lange Zeit aufrechtzuerhalten ist für ein Dorf mit 500 Einwohnern außerordentlich! Aber klar, irgendwann lassen die Proteste nach. Die Re­pres­sion wirkt.“

Snitz zitiert den BDS-Mitbegründer Omar Barghouti: „ ‚Ich will nicht, dass der Westen herkommt, Israel besetzt und uns rettet. Ich verlange nur, dass der Westen aufhört, die Unterdrückung zu unterstützen.‘ “ Und dann fügt er hinzu: „Es stimmt, dass die Gewalt kein Alleinstellungsmerkmal dieses Konflikts ist. Das Besondere an diesem Konflikt ist aber, wie stark der Westen diese Vergehen aktiv unterstützt.“

1 Siehe Thomas Keenan und Eyal Weizman, „Die dritte Bedrohung Israels“, LMd, Juli 2010.

2 Inzwischen arbeitet Kuper für das Jerusalem Center for Public Affairs, einen konservativen Thinktank unter der Leitung von Dore Gold, einem ehemaligen UN-Botschafter Israels und langjährigen Vertrauten von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu. Alle Aussagen ­Kuperwassers basieren auf einem Interview mit dem Autor, das am 12. November 2017 in Jerusalem geführt wurde.

3 Siehe Amjad Iraqi, „Kein Ort zum Bleiben“, LMd, September 2016.

4 Siehe Charles Enderlin, „Der Weg in die Ethnokratie“, LMd, September 2018.

Aus dem Englischen Jakob Farah

Nathan Thrall ist Analyst der International Crisis Group in Jerusalem.

© Nathan Thrall, für die deutsche Übersetzung LMd, Berlin

Le Monde diplomatique vom 13.12.2018, von Nathan Thrall