Auf Kosten der Alten
Die Rentenreform ist das jüngste Beispiel, wie in Russland seit Jahren der Sozialstaat zurückgefahren wird
von Karine Clément
Der Zeitpunkt schien günstig. Am 14. Juni 2018, nur Stunden vor dem Auftaktspiel der Fußball-WM in Moskau, verkündete Ministerpräsident Medwedjew die Anhebung des Renteneintrittsalters für Frauen von 55 auf 63 Jahre und für Männer von 60 auf 65 Jahre.
Obwohl Präsident Putin so tat, als hätte er mit der Entscheidung nichts zu tun, stürzte seine Popularitätsquote von 80 auf 63 Prozent ab. Nach einer Welle von Protestaktionen im ganzen Land versprach er in einer Rede an die Nation: Es bleibt bei den 60 Jahren für Frauen; zudem sollen alle Renten sechs Jahre lang um durchschnittlich 1000 Rubel (13 Euro) pro Jahr steigen.
Putins PR-Aktion war nur ein halber Erfolg. Die Demonstrationen hörten zwar auf, aber bei den Gouverneurswahlen vom 9. September erhielt die Regierungspartei Einiges Russland die Quittung: In 4 von 22 Regionen verfehlten ihre Kandidaten für eine Wiederwahl die absolute Mehrheit und mussten eine Stichwahl bestreiten.
In der zentralrussischen Region Wladimir und im fernöstlichen Chabarowsk gewannen die Kandidaten der Liberal-Demokratischen Partei Russlands (LDPR). Im fernöstlichen Primorje und in der sibirischen Republik Chakassien lagen im ersten Wahlgang die Kandidaten der Kommunistischen Partei (KPRF) vorn, was die Regierung juckte. Aber mit ihrer Einmischung erreichte sie nur das Gegenteil: In Primorje musste die Zentrale Wahlkommission die Wahlen wegen erwiesener Manipulation annullieren; in Chakassien wurden sie bereits zweimal verschoben.
Eine Erhöhung des Renteneintrittsalters steht nicht nur in Russland an. Zwar fällt der Einschnitt hier radikaler aus, aber die Argumente sind die gleichen wie etwa in Frankreich oder Deutschland: Überalterung der Gesellschaft und eine steigende Lebenserwartung. In Russland ist die Geburtenrate in den chaotischen 1990er Jahren besonders stark zurückgegangen. 2002 lag die für das Rentensystem wichtigste Kennziffer, das Verhältnis von Erwerbstätigen zu Rentnern, noch bei 3,0. 2017 war sie auf 2,3 gesunken. Das heißt, auf 83 Millionen Erwerbstätige kommen 36,5 Millionen Rentner. Doch dieser Trend dürfte sich wieder umkehren, wenn die geburtenstarken 2000er-Jahrgänge in den Arbeitsmarkt einsteigen.
In seiner Rede vom 14. Juni erläuterte Medwedjew den Anstieg der durchschnittlichen Lebenserwartung mit folgende Zahlen: Anfang der 1930er Jahre lag sie bei 35 Jahren, heute dagegen sind es 72,7 Jahre.1 Trotz dieser Verdoppelung der durchschnittlichen Lebenszeit wurde das Renteneintrittsalter seit 1932 nicht angehoben. Allerdings ist der Bezug auf eine Zeit, in der Russland die niedrigste Lebenserwartung in ganz Europa verzeichnete, historisch völlig verfehlt.2 Zumal man bedenken muss, dass in der Sowjetunion bis 1956 nur die wenigsten Senioren überhaupt eine Rente bekamen.3
Kritiker der Rentenreform verweisen außerdem auf die Rolle der Frauen, die mit 55 Jahren meist noch fit genug sind, ihre Enkel wie auch ihre Eltern zu betreuen, für die es keinerlei staatliche Versorgung gibt. Die Regierung müsste also auch eine Lösung für arbeitende Mütter kleiner Kinder und die Altenpflege finden.
Anhänger wie Gegner der Reform sind sich darin einig, dass die heutigen Renten nicht ausreichen, um ohne zusätzliche Arbeit über die Runden zu kommen. Das aktuelle Rentenniveau liegt im Schnitt bei 13 300 Rubel im Monat (etwa 220 Euro), was einer Ersatzquote von nur 34 Prozent (des vorherigen Arbeitseinkommens) entspricht.4 Deshalb arbeiten vier von zehn Rentnern und sechs von zehn Rentnerinnen in den ersten fünf Jahren ihres Ruhestands weiter. Die Rentnerinnen arbeiten vor allem in traditionell weiblichen, unterbezahlten Berufen in Schulen, in Krankenhäusern, in der Sozialarbeit oder im Kulturbereich. Männer übernehmen eher schlecht bezahlte Aushilfsjobs.
Glaubt man Putin, soll die Standardrente bis 2024 auf 20 000 Rubel (260 Euro) steigen. Das ist weniger großzügig, als es klingt: Sollte die Inflationsrate auf dem Niveau der letzten sechs Jahre bleiben, wäre damit lediglich der Kaufkraftverlust ausgeglichen.
Wladimir Putin gilt als starker Staatschef. Tatsächlich gewann er im Laufe seiner ersten beiden Amtszeiten (2000–2008) wieder die Kontrolle über strategisch wichtige Wirtschaftsbereiche, die man in der Jelzin-Ära (1991–1999) den Oligarchen zur Beute hingeworfen hatte. Zudem konnten dank des neuen Wirtschaftswachstums die Gehälter und Renten wieder regelmäßig ausgezahlt werden. Das sicherte Putin das Wohlwollen jener „kleinen Leute“, auf die er so gern Loblieder singt.
Flattax auch für die höheren Einkommen
Viele Beobachter versäumen jedoch zu erwähnen, dass Putin auch den Sozialstaat zurückgefahren und Steuervergünstigungen für Unternehmer und Besserverdiener eingeführt hat. Seit 2001 gilt für die Einkommen eine Flattax von 13 Prozent; 2002 wurde das Arbeitsrecht zugunsten der Arbeitgeber geändert, ab 2006 das Gesundheits- und Bildungssystem nach Effizienz- und Renditekriterien „modernisiert“.
Auch das Rentensystem blieb nicht verschont. 2002 wurde eine degressive, also höchst ungerechte Beitragsstaffelung eingeführt, die bis heute gilt: Die allermeisten Beschäftigten zahlen 22 Prozent des Bruttogehalts in die staatliche Rentenkasse. Aber wenn das Einkommen 67 900 Rubel (885 Euro) übersteigt – womit man zu den obersten 15 Prozent der Gehaltsempfänger gehört –, wird die darüber hinausgehende Summe nur noch mit 10 Prozent besteuert.
Im selben Jahr wurde eine obligatorische kapitalgebundene Zusatzrente eingeführt. Seitdem fließen 6 Prozent der Rentenzahlungen nicht mehr in die staatliche Rentenkasse, sondern an Finanzintermediäre oder private Pensionsfonds.
Das Reformprojekt begann allerdings bereits 2005 zu knirschen, als die größte Protestbewegung im postsowjetischen Russland entstand. Sie wandte sich gegen die „Monetarisierung der Sozialleistungen“, die eine Einschränkung von Sachleistungen (Krankentransport, Pflege) gebracht hätte. Die Regierung musste zurückrudern. Dank steigender Öl- und Gaspreise konnte sie groß verkündete Wohltaten wie das „Mütterkapital“ finanzieren (für Mütter ab dem zweiten Kind), aber auch staatliche Investitionen in das Bildungs- und Gesundheitswesen oder in den Wohnungsbau.
Die Weltwirtschaftskrise von 2008 setzte dieser Politik ein Ende. Als 2014 aufgrund der sinkenden Ölpreise und der Sanktionen des Westens nach der Annexion der Krim die Rezession einsetzte, kehrte die Regierung zu ihrer Sparpolitik zurück. Als Erstes kürzte sie die Ausgaben für Soziales, Bildung und Gesundheit. Dagegen gewährte sie den größten Unternehmen, vor allem den besonders rentablen Ölkonzernen,5 zahlreiche Subventionen und Steuererleichterungen. Besonders großzügig bedacht wurden die Milliardäre aus Putins innerem Zirkel, die wegen der Sanktionen nicht mehr in den Westen reisen konnten.6
Nach Angaben des russischen Rechnungshofs bedeuteten diese Vergünstigungen einen Steuerausfall von 11 Billionen Rubel (145 Milliarden Euro) – und das bei Staatseinnahmen, die im Haushaltsjahr 2018 ohnehin nur noch 15 Billionen Rubel (200 Milliarden Euro) betrugen.7 Der Mehrwertsteuersatz wurde von 18 auf 20 Prozent angehoben, eine Erhöhung der Einkommensteuer angekündigt. Das entspricht ganz der allgemeinen Tendenz, die Steuern und Abgaben auf Kapitalbesitz zu senken, die indirekten Steuern dagegen zu erhöhen, was die Lohnempfänger und speziell die Geringverdiener am härtesten trifft.
Nach den Parolen der Regierung soll die Bevölkerung all diese Opfer bringen, um das internationale Prestige ihres Vaterlandes zu stärken. Dabei könnte man andere Finanzquellen nutzen, um das Renteneintrittsalter beizubehalten und die Renten zu erhöhen, die im Übrigen nur 7 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) ausmachen, während es in Frankreich, Portugal oder Polen 14 Prozent sind. Der Rechnungshof empfiehlt etwa weniger Ausnahmen für große Staatsbetriebe, die möglichst wenig Dividende an den Staat, ihren Hauptaktionär, abführen wollen. 2017 sind diese Staatseinnahmen auf ein Viertel der Vorjahressumme geschrumpft (667,6 Milliarden Rubel oder 8,79 Milliarden Euro).
In der Duma forderte der Abgeordnete Oleg Schein von der Partei Gerechtes Russland ein stärkeres Engagement gegen Steuerschlupflöcher und ein Ende der Flattax; vor allem aber Sanktionen gegen Unternehmen, die Steuern hinterziehen oder die Zahl ihrer Beschäftigten verschleiern, um Sozialabgaben zu vermeiden.8 Die Realeinkommen der russischen Bevölkerung sind zwar seit 2014 um rund 10 Prozent geschrumpft9 , aber wichtiger sind der Regierung die Reichen. Die Rücknahme der Rentenreform hat die Demonstrationen zwar eingedämmt, aber die Regierung ist dennoch angeschlagen.
„Bei einer so unbeliebten Reform hilft es auch nichts, an ‚traditionelle Werte‘ und die ‚spirituelle Einheit‘ zu appellieren“, meint der Historiker und Linksaktivist Ilja Budraitskis. Zahlreiche Anhänger Putins, die ihm das Image des „Beschützers der kleinen Leute“ abgenommen haben, wissen seit dem letzten Sommer: Die Interessen der Unter- und Mittelklasse zählen nicht, stattdessen die der Wirtschafts- und Finanzelite. Diese Einsicht bedeutet das Ende der Euphorie, die vor vier Jahren durch die Annexion der Krim ausgelöst wurde.
5 Nowaja Iswestija, Moskau, 6. September 2018.
9 „Die wirtschaftliche und soziale Lage in Russland“ (russisch), Rosstat, 2018.
Aus dem Französischen von Sabine Jainski
Karine Clément ist Soziologin.