13.12.2018

Geburtstag mit bitterem Beigeschmack

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Geburtstag mit bitterem Beigeschmack

Vor 70 Jahren verabschiedete die UN-Vollversammlung die Erklärung der Menschenrechte

von Claire Brisset

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Ein universal gültiges Recht, nichts weniger wollte die UN-Generalversammlung in Paris am 10. Dezember 1948 mit der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte verkünden. Historische Vorbilder waren die Magna Carta (1215), in der erstmals der Grundsatz der Gleichheit vor dem Gesetz erwähnt wird, die Habeas-Corpus-Akte (1679) zum Schutz vor königlicher Willkür – jeder Gefangene musste fortan einem Haftrichter vorgeführt werden – und, im Zeitalter der Aufklärung, die Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten (1776), in der es heißt: „Alle Menschen sind gleich geschaffen“, sowie die französische Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte (1789), die ohne religiösen Bezug auf einen Schöpfer konstatiert: „Die Menschen werden frei und gleich an Rechten geboren und bleiben es.“

Auch Kriegserfahrungen, wie der Augenzeugenbericht des Schweizer Geschäftsmanns Henry Dunant über die Lage der verwundeten Soldaten nach der Schlacht von Solferino (1859) gehören zur Vorgeschichte der UN-Menschenrechtserklärung. Dunants Bericht führte zur Gründung des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK), und auch die erste Genfer Konvention „zur Verbesserung des Loses der verwundeten Soldaten im Feld“ (1864) geht auf ihn zurück.

Nach dem Ersten Weltkrieg versuchte der Völkerbund ein Wiederaufflammen der Gewalt zu verhindern und appellierte an die Staaten, Sicherheitspolitik mit multilateralen statt militärischen Mitteln zu machen. Und mitten im Zweiten Weltkrieg unterzeichneten US-Präsident Roosevelt und Großbritanniens Premierminister Churchill auf einem Kriegsschiff die Atlantik-Charta und damit den ersten Entwurf zur Charta der Vereinten Nationen (UNO), die schließlich im Juni 1945 in San Francisco verabschiedet wurde.

Schon in der Präambel wird der neuen internationalen Organisation die Aufgabe übertragen, „künftige Geschlechter vor der Geißel des Krieges zu bewahren“, und der „Glaube an die Grundrechte des Menschen, an Würde und Wert der menschlichen Persönlichkeit“ verkündet. In dieser Präambel war bereits all das enthalten, was drei Jahre später die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte wieder aufgreifen sollte. Gleichzeitig wurden in den Nürnberger Prozessen gegen die Nazikriegsverbrecher zwei vollkommen neue völkerrechtliche Begriffe eingeführt, die in ebendiesen Menschenrechten wurzeln: das Verbrechen des Völkermords und das Verbrechen gegen die Menschlichkeit.1

Produkt der antifaschistischen Allianz

Um jeden Vorwurf der Siegerjustiz im Vorfeld auszuräumen, achtete man bei der Zusammensetzung des Redaktionskomitees zur Ausarbeitung der Menschenrechtserklärung auf eine ausgewogene Vielfalt. Unter dem Vorsitz von Eleanor Roosevelt, der Witwe des US-Präsidenten, gehörten zu den insgesamt 18 Mitgliedern unter anderem Peng-chun Chang (China), Charles ­Malik (Libanon), Hernán ­Santa Cruz (Chile), Alexander ­Bogomolov (UdSSR), Émile Saint-Lôt (Haiti) und René ­Cassin (Frankreich). Die Fragen, über die damals diskutiert wurde, könnten von heute sein: Ist es wichtig für einen Menschen, politische Freiheiten zu besitzen, wenn er am Verhungern ist? Gefährdet man die kulturelle Vielfalt, indem man die universelle Gültigkeit der Menschenrechte fordert? Ist Frieden der oberste Garant der Menschenrechte?

Trotz anfänglicher Divergenzen hat das Redaktionskomitee ambitionierte Antworten gefunden. Die Verabschiedung der Menschenrechtserklärung durch 50 der damals insgesamt 58 UN-Mitglieder – enthalten haben sich unter anderem das südafrikanische Apart­heid­regime, Saudi-Arabien und die UdSSR – wurde sofort als erster großer diplomatische Erfolg der Nachkriegszeit gefeiert. Um die Erklärung völkerrechtlich abzusichern, richtete die UN-Vollversammlung sofort eine Kommission ein. 1966 folgte die Verabschiedung von zwei völkerrechtlichen Verträgen: einer über die bürgerlichen und politischen Rechte, der andere über die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte. Hinzu kamen die UN-Völkermordkonvention (1948), die Genfer Flüchtlingskonvention (1951), die Ras­sen­dis­kri­mi­nie­rungs­kon­ven­tion (1965), die Frauen- und die Kinderrechtskonvention (1979 beziehungsweise 1989), die Antifolterkonvention (1984) und die Wanderarbeiterkonvention (1990), um nur die wichtigsten zu nennen.

Parallel schuf die UN-Generalversammlung Koordinations- und Kontrollorgane wie das Hochkommissariat für Menschenrechte, dem aktuell Chiles frühere Präsidentin ­Michelle ­Bachelet vorsteht, und den Menschenrechtsrat, dem Vertreter aus 47 Staaten angehören. Beide Institutionen sitzen in Genf. Der Menschenrechtsrat selbst wird jedoch oft dafür kritisiert, dass er über die nicht gerade vorbildhafte Menschenrechtslage in einigen seiner Mitgliedstaaten hinwegsieht. Als im Juni 2018 die USA mit viel Tamtam ihren Austritt verkündeten, bezeichnete ihn die damalige UN-Botschafterin der USA Nikki Haley sogar als „Jauchegrube politischer Voreingenommenheit“ – insbesondere gegenüber Israel, wie US-Außenminister Michael Pompeo empört hinzufügte.

Überforderte Blauhelmtruppen

Alle UN-Mitglieder haben sich dazu verpflichtet, in der öffentlich zugänglichen Universal Periodic Review (UPR) über die Menschenrechtslage in ihren Ländern zu berichten. Das Verfahren soll die Achtung der Menschenrechte fördern, Druck auf politische Führungskräfte ausüben und Or­ga­ni­sa­tio­nen der Zivilgesellschaft unterstützen. Für jede UN-Konvention gibt es außerdem einen Ad-hoc-Ausschuss, der die Einhaltung der betreffenden Übereinkunft überwacht und seine Beobachtungen in Form von – zuweilen sehr harschen – Berichten an die Regierungen übermittelt. So kritisierte am 23. Oktober 2018 etwa der UN-Menschenrechtsausschuss das französische Burkaverbot als „Diskriminierung aufgrund des Geschlechts und der Reli­gion“. Die UN-Konventionen sind zwar rechtlich nicht bindend, aber im Laufe der Jahre haben sie doch Schritt für Schritt dazu beigetragen, die Gesetzgebung in den Mitgliedstaaten zu beeinflussen.

Darüber hinaus ist die Arbeit von Sonderberichterstattern, Sonderrepräsentanten und unabhängigen Sachverständigen, die ihre Nachforschungen und Stellungnahmen frei gestalten können, immens wichtig. Der Franzose Michel Forst berichtet zum Beispiel seit Juni 2014 als UN-Sonderberichterstatter über die Lage von Menschenrechtsaktivisten, die sich durch die Arbeit in ihren Ländern oft in Lebensgefahr begeben. Seit 1998 wurden weltweit rund 4000 Personen wegen ihres Engagements für die Menschenrechte umgebracht.

Die Vereinten Nationen wurden gegründet, um den Frieden zu bewahren, denn Frieden ist der oberste Garant der Achtung der Menschenrechte. Zu diesem Zweck wurden auch die Blauhelme geschaffen. Immer wieder hat sich jedoch gezeigt, wie machtlos und überfordert diese Friedenstruppen vor Ort sind – man denke etwa an die Einsätze in Ruanda (1994),2 Jugoslawien (1995), Syrien (2012) oder Myanmar (2017). Die Rekrutierung, Ausbildung und Finanzierung dieser Einheiten ist eine immense Herausforderung, zumal die USA als größte Geldgeber im September 2018 angekündigt haben, ihren Beitrag zu den Friedenseinsätze zu kürzen – just in dem Moment, als UN-Generalsekretär einwarf, dass die Kosten für die Blauhelme (7 Milliarden Dollar pro Jahr) „kaum 1 Prozent der weltweiten Militärausgaben“3 ausmachen.

Nicht zuletzt kämpfen die Vereinten Nationen auch seit Jahren gegen die Straflosigkeit von Menschenrechtsverbrechen. Seit 1998 gibt es dafür den Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) in Den Haag zur Verfolgung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen und Völkermord sowie Spezialgerichte (etwa zur Aufarbeitung der Bürgerkriege in Jugoslawien und Ruanda). Der IStGH wird allerdings von zahlreichen politischen Schwergewichten wie den USA und China boykottiert.

Nach 70 Jahren UN-Menschenrechtserklärung fällt die Bilanz gemischt aus. Und das „bedeutende juristische Erbe“, das noch keiner Generation zuvor zur Verfügung gestanden habe, wie Marie Heuzé, die ehemalige Sprecherin von Kofi Annan (1938–2018), betont, ist ernsthaft bedroht. Immer mehr und vor allem wichtige UN-Mitglieder wie die USA machen zunehmend ungeniert deutlich, dass sie auf die Einhaltung der Menschenrechte pfeifen. Gesetze zur Terrorismusbekämpfung beschneiden die bürgerlichen Freiheiten, Rechte von Migranten werden missachtet, und Regierungen kürzen gerade jene Gelder, die so dringend zum Schutz der Menschenrechte gebraucht werden.

Kritiker des Menschenrechtsregimes berufen sich gern auf kulturelle Besonderheiten, die dadurch angeblich bedroht würden. Dabei sind die Menschenrechte aus einer Revolte hervorgegangen, die sich gegen politischen Konformismus und falsche Loyalitäten wandte. Das darf man gerade angesichts der aktuellen gewaltsamen Umbrüche in den geopolitischen Verhältnissen nicht vergessen.

1 Siehe Philipps Sands, „Rückkehr nach Lemberg. Über die Ursprünge von Genozid und Verbrechen gegen die Menschlichkeit“, Frankfurt a. M. (S. Fischer Verlag) 2018.

2 Siehe dazu den Bericht des damaligen UN-Kommandaten der Blauhelme, Roméo Dallaire, „Handschlag mit dem Teufel. Die Mitschuld der Weltgemeinschaft am Völkermord in Ruanda“, Frankfurt a. M. (Zweitausendeins) 2003.

3 Sandra Szurek, „Blauhelme“, LMd, Januar 2017.

Aus dem Französischen von Birgit Bayerlein

Claire Brisset ist Journalistin und war von 2000 bis 2006 in Frankreich Ombudsfrau zur Wahrung von Kinderrechten.

Le Monde diplomatique vom 13.12.2018, von Claire Brisset