08.11.2018

Zerrissene Tories

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Zerrissene Tories

Theresa May hat nicht nur die unangenehme Aufgabe, den Austritt Großbritanniens aus der EU zu organisieren. Im parteiinternen Konflikt um einen weichen oder harten Brexit droht der Premierministerin auch das politische Aus. Lagebericht aus einer gespaltenen Partei

von Agnès Alexandre-Collier

Tina Flau, Pflanzenspiegel II, 2007, Zeichnung, 64 x 37 cm
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Der Parteivorsitz der Conservative Party war früher der begehrteste Job im britischen Politikgeschäft. Fast zwei Drittel des 20. Jahrhunderts stand die 1834 gegründete Partei an der Spitze der Regierung. Wer auch immer die Tories anführte, konnte direkt in die Downing Street Nummer 10 einziehen, Sitz der Exekutive einer konstitutionellen Monarchie, in der das Königshaus offiziell keine politische Macht hat.

Jahrzehntelang hat die Führungsriege der Tories ihren leader in einem undurchsichtigen Verfahren an die Spitze der pyramidenförmigen Parteistruktur berufen. In den frühen 1960er Jahren begannen die Konservativen das Wahlprozedere nach und nach abzuändern. Ab 1965 entschied dann die Parlamentsfraktion über die Nominierung der Kandidaten für den Posten des Parteichefs. Und 1998 wurde die Urabstimmung eingeführt. Hier haben die Parteimitglieder die Wahl zwischen zwei von der Fraktion gekürten Bewerbern.

Mit dem demokratischen Wandel ging alsbald ein sozialer Wandel einher. Schon 1965 übernahm Edward Heath den Parteivorsitz. Der Weltkriegsoffizier Heath kam aus kleinbürgerlichen Verhältnissen (der Vater war Zimmermann, die Mutter Hausangestellte) – was für die Konservativen ein echtes Novum war. Auch Margaret Thatchers Nachfolger John Major, Parteichef und Premierminister von 1990 bis 1997, fiel aus dem gut situierten Rahmen der leader, die meist aus großbürgerlichen oder adeligen Elternhäusern stammten. Majors Vater war unter anderem Trapezkünstler, Baseballprofi und Kleinunternehmer (mit Gartenzwergen) gewesen.

Dann kam Tony Blair mit seiner New Labour, und die Tories mussten 13 Jahre lang auf der Oppositionsbank sitzen. Im Dezember 2005 wurde David Cameron mit 39 Jahren zum Parteichef gewählt, obwohl er bis dahin in der Fraktion nur wenig Rückhalt hatte. Er ist mit dem Hochadel verbandelt, durchlief das ultraselektive System der public schools (die in Wahrheit teure Privatschulen sind) und studierte in Oxford. Rasch wurde Cameron zum Wortführer einer Parteiminderheit – der mods, die wirtschafts- und so­zial­liberale Positionen vertreten (Gleichstellung der Geschlechter, partnerschaftliche Aufteilung von Haus- und Familienarbeit, Umweltschutz, Entkriminalisierung leichter Drogen, gleichgeschlechtliche Ehe).

Die sogenannten rockers hingegen verteidigten die traditionalistischen und autoritären Werte der Partei. Cameron rühmte sich damit, beide Strömungen zusammengeführt zu haben, um den Tories wieder eine Regierungsoption zu verschaffen. Diesem Ziel fühlten sich auch andere verpflichtet – nicht zuletzt eine gewisse ­Theresa May, die auf dem Parteitag 2002 beklagte, die Konservativen seien in den Augen der Wählerschaft zur „fiesen Partei“ (nasty party) verkommen.

Nachdem May zuvor noch erklärt hatte, im konservativen Schattenkabinett1 gebe es mehr Männer mit dem Vornamen David als Frauen,2 gelang ihr an Camerons Seite der Aufstieg. Sie wirkte an der Reform des Auswahlverfahrens für Parlamentarier mit und plädierte im Motto-T-Shirt „So sieht eine Feministin aus“ für eine stärkere Einbindung weiblicher Parteimitglieder und anderer Minderheiten. Fortan saßen in der Tory-Fraktion deutlich mehr Frauen, Angehörige ethnischer Minderheiten und Absolventen staatlicher Schulen.

Bei den Unterhauswahlen 2010 konnten die Konservativen schließlich die Labour Party auf den zweiten Platz verweisen. Da sie jedoch nicht genügend Parlamentssitze errungen hatten, um allein zu regieren, gingen sie eine Koalition mit den Liberaldemokraten ein. Der frischgebackene Premierminister Cameron holte Theresa May als Innenministerin in sein Kabinett.

Ideologische Heterogenität gehört zu den Grundeigenschaften der Conservative Party. Die Risse, die quer durch die Partei gehen, haben Tradi­tion. Wie der Tory-Biograph und Politikwissenschaftler Timothy Heppell3 zeigt, kreisen die partei­internen Konflikte stets um drei Themen: Kultur­liberalismus, Wirtschaftsliberalismus und na­tio­nale Souveränität.

In den großen gesellschaftlichen Debatten spalten sich die Tories stets in Modernisierer, in der Genderpolitik zum Beispiel vertreten durch die Justizministerin Elizabeth Truss, und Traditionalisten wie den Abgeordneten Jacob Rees-Mogg, einen ultraroyalistischen Schlossherrn, praktizierenden Katholiken und sechsfachen Vater, der Abtreibungen und Homo-Ehe ablehnt.

Über den Wirtschaftsliberalismus wurde in der Partei schon gestritten, als es 1846 um die Getreidegesetze ging. Angeführt von Robert Peel, stellten sich die Verfechter einer Freihandelspolitik und der Abschaffung von Exportzöllen für Weizen gegen die Protektionisten um Benjamin Disraeli, die die Interessen des Land besitzenden Adels vertraten. Die Auseinandersetzung über die Rolle des Staates in der Wirtschaft sorgte seitdem immer wieder für innerparteiliche Uneinigkeit. In den 1980er Jahren standen sich die „wets“ (die „Feuchten“), die in Maßen für einen staatlichen Interventionismus eintraten, und die neoliberalen „dries“ (die „Trockenen“), die sich von Margaret Thatcher (Premierministerin von 1979 bis 1990) mitreißen ließen, gegenüber.

Die zeitgleich aufkommenden Spannungen in der Europafrage entstanden durch einen ähnlichen Gegensatz: hier die Anhänger eines intergouvernementalen und liberalen Europas der Vaterländer, die für die open sea votierten und es ablehnten, sich ausschließlich an den euro­päi­schen Kontinent zu binden und sich dem „Diktat“ aus Brüssel zu beugen; dort die Pro­euro­päer, die bereit waren, für die Zugehörigkeit zur damaligen Europäischen Gemeinschaft bestimmte Einschränkungen in Kauf zu nehmen, ohne sich aber mit der Vorstellung eines föderalen Europas anzufreunden.

Nach Thatchers Amtszeit suchten Anfang der 1990er Jahre die Europaskeptiker die Ratifizierung des Maastricht-Vertrags über die EU zu verhindern, weil sie darin den Auftakt zu einer nicht hinnehmbaren Föderalisierung Europas und den Anfang vom Ende der nationalen Eigenständigkeit sahen.

2008 brachte die Finanzkrise das Gleichgewicht der Kräfte durcheinander. Angesichts der großen Verwerfungen in den Eurozonenländern wurde die Frage der nationalen Souveränität und insbesondere der Wunsch, die Kontrolle über die Zuwanderung zurückzugewinnen, zum beherrschenden Thema. Damals kam es in der britischen Bevölkerung zu einem Meinungsumschwung über den Verbleib in der Europäischen Union.

Die Konservativen konnten bei den Unterhauswahlen 2015 vor allem deshalb die absolute Mehrheit der Mandate erringen, weil sie in ihrem Wahlprogramm versprochen hatten, im Falle eines Siegs ein Referendum über die EU-Zugehörigkeit Großbritanniens abzuhalten.4 Während 52 Prozent der Wählerinnen und Wähler vorwiegend in England (und dort vor allem im Nordosten) und in Wales am 23. Juni 2016 für den Austritt votierten, stimmten nur 40 Prozent der Tory-Abgeordneten für den Brexit. Nach dem ­Referendum akzeptierten jedoch alle konservativen Parlamentarier das Ergebnis der Volksbefragung.

Das Brexit-Votum setzte auch die partei­internen Regeln für die Wahl des Parteivorsitzenden außer Kraft. Nach dem Rücktritt von Pre­mier­mi­nis­ter Cameron (der für den Verbleib in der EU geworben hatte) begann ein beinahe shakes­peare­sches Hauen und Stechen zwischen den Nachfolgekandidaten. Zu den Hauptkontrahenten gehörten der Unterhausabgeordnete und ehemalige Londoner Bürgermeister Boris Johnson, Energiestaatssekretärin Andrea Leadsom sowie Justizminister Michael Gove. Alle drei taten sich durch ihr offensives Eintreten für den Brexit hervor und erwarben sich den Spitznamen ­Brexiteers – eine ­Anspielung auf die bucaneers und musketeers, Freibeuter und Musketiere, die eine romantische und idealisierte Version Großbritanniens verteidigten.

Paradoxerweise trug die Radikalität dieser Streithähne dazu bei, dass als gemäßigte Kompromisskandidatin die Innenministerin ­Theresa May gewählt wurde. Ihre Kür zur Parteichefin geschah allerdings nicht nach dem herkömmlichen, von der Conservative Party 1998 eingeführten Verfahren, weil May nach Beratungen der Delegierten als einzige Bewerberin übrig geblieben war. Auf den Segen der Parteibasis war sie somit zwar nicht angewiesen, aber der Verzicht auf die Bestätigung hat ihre Legitimation geschwächt. Zumal sich viele an der Persönlichkeit der praktizierenden anglikanischen Christin reiben.

Die Medien prangern ihre Unentschlossenheit („Theresa Maybe or Maybe Not“) und ihren Mangel an Empathie an: So lehnte es die Pre­mier­ministerin im Juni 2017 ab, sich mit den Opfern der Brandkatastrophe im Grenfell Tower zu treffen. Auch Beschäftigte im Niedriglohnsektor können kaum Mitgefühl von ihr erwarten. Einer Krankenschwester etwa, die sich beklagte, dass sie mit ihrem Lohn nicht über die Runden komme, entgegnete May: „Das Geld fällt nicht vom Himmel!“

Als ein Scherzbold May 2017 während ihrer Parteitagsrede ein Entlassungsformular zum Rednerpult hochreichte, brachte sie das sichtlich aus dem Konzept. Und als sie von einer Journalistin gefragt wurde, was der größte Unfug gewesen sei, den sie je in ihrem Leben gemacht habe, gab sie zur Antwort: „Ich bin mit meinen Freunden durch die Weizenfelder gelaufen.“ In einem Land, in dem die geistreiche Sentenz quasi zum nationalen Kulturgut gehört, sticht eine derartige geistige Unbeweglichkeit besonders ins Auge.

Zu Mays Humordefizit gesellt sich ein Mangel an politischem Weitblick. Im April 2017 kündigte May vorgezogene Neuwahlen an, die zwei Monate später stattfanden und von denen sie sich eine Stärkung ihrer Position im Parlament versprach. Doch die Premierministerin kümmerte sich – anders als ihr Kontrahent, der Labour-Chef Jeremy Corbyn – kaum um den Wahlkampf. May weigerte sich, durchs Land zu reisen, Wählerhände zu schütteln und an einer Fernsehdebatte teilzunehmen. Stattdessen ließ sie sich kurzerhand von ihrer Innenministerin Amber Rudd vertreten, ­obwohl die gerade erst ihren Vater verloren hatte.

Unter den Wählerinnen und Wählern hinterließ all das einen bitteren Nachgeschmack. Auf Anraten ihrer beiden australischen Wahlkampfberater Mark Textor und Lynton Crosby, die die Kommunikation konsequent auf Theresa May ausrichten wollten, wurde für die Kampagne 2017 der Slogan „Eine starke und stabile Regierung“ verordnet. Die Botschaft wurde jedoch dermaßen überstrapaziert, dass sie den Kandidaten in den Wahlkreisen keine Luft zum Atmen ließ. May, die eigentlich das Flaggschiff der Conservative Party sein sollte, wurde wegen ihrer Distanziertheit und fehlenden Spontaneität kritisiert: Schon bald machte der Spitzname vom „Maybot“ – dem „May-Roboter“ – die Runde.

Die Wahl geriet zum Debakel, und die Pre­mier­ministerin stand nun noch geschwächter da als zuvor: May verlor für die Tories die absolute Mehrheit und musste eine umstrittene Ko­alition mit der kleinen nordirischen Democratic ­Unionist Party (DUP) eingehen, die in vielen gesellschaftlichen Fragen ultrakonservative Positionen vertritt und einer engen Bindung Nordirlands an das Vereinigte Königreich anhängt.

Theresa May hat sich seit ihrer Wahl zur Parteivorsitzenden immer weiter von dem Image, das ihr einst durchaus zur Popularität verholfen hatte, entfernt. Aus der feministischen Modernisiererin wurde eine traditionalistische Konservative, die obsessiv auf Zuwanderungskontrolle pocht. Die Einwanderungszahlen will sie auf einige Zehntausend Neuankömmlinge pro Jahr begrenzen, nachdem 2012 insgesamt 177 000 und 2014 sogar 318 000 Menschen in das Vereinigte Königreich eingewandert waren. Außerdem will May die grammar schools wieder einführen. Unter der Labour-Regierung war die Neugründung dieser antiegalitären staatlichen Schulen verboten worden, die über Zulassungsprüfungen einer Schülerklientel aus besser verdienenden Familien traditionell den Vorzug geben.

Das Wahlprogramm von 2017 wurde zwar von May unterschrieben, aber verfasst hat es ihr damaliger Berater Nicholas Timothy, ein ­working-class Tory und Sohn eines Stahlarbeiters aus Birmingham. Diesem gelang eine verblüffende Synthese aus Sicherheitsdiskurs und so­zia­lem Konservatismus. Damit sollten Arbeitnehmer zurückgewonnen werden, die in der rechtsextremen United Kingdom Independence Party (Ukip) eine verlockende Alternative sahen.5 Timothy, den manche als Theresa Mays „Gehirn“ betrachten, drängte die Kandidatin dazu, an die soziale und mitunter interventionistische Tradition der one nation anzuknüpfen, die sich mit dem Namen Disraeli verbindet, und sich auf eine stärker ethisch ausgerichtete und verantwortungsbewusstere Spielart des Kapitalismus zurückzubesinnen, womit die Exzesse des Bankensystems bekämpft würden.

Der konservative – autoritäre und dirigistische – Diskurs positionierte sich somit als Gegenentwurf zum wirtschafts- und kulturliberalen Programm David Camerons, der den privilegierten, elitären und den Finanzkreisen nahestehenden Notting Hill set aus den schicken Londoner Vierteln verkörperte, in denen sich Theresa May selbst allerdings noch nie wohlgefühlt hat. 2017 konnte die Conservative Party immerhin Zuwächse unter den Arbeitern und Angestellten des Privatsektors und in sechs Labour-Wahlkreisen im Nordosten Englands verzeichnen, die den Brexit befürworteten. Parallel eroberten die Tories dreizehn Sitze in Schottland, wo sie jedoch zweifellos von der Popularität Ruth Davidsons profitierten, der lesbischen Vorsitzenden der schottischen Konservativen, Brexit-Gegnerin und Liebling der Medien.

In den frühen 1980er Jahren war die Conservative Party mit 1,5 Millionen Mitgliedern noch eine der größten Parteien Westeuropas. Nach neuesten Schätzungen, die selten an die Öffentlichkeit gelangen, ist die Zahl der Parteimitglieder mittlerweile auf rund 124 000 gesunken. Das sind nur wenig mehr als die etwa 118 000 Mitglieder der Scottish National Party. Labour kommt auf 550 000, darunter viele junge Leute, die sich dem linken Flügel um Jeremy Corbyn angeschlossen haben.6

Auch wenn schon David Cameron bemüht war, mithilfe der sozialen Netzwerke und neuer Technologien das Personal zu verjüngen, was ihm den Spitznamen „Premierminister Blackberry“ eintrug, besteht eine der großen Schwierigkeiten der Konservativen darin, auch junge Neumitglieder zu gewinnen: Das Durchschnittsalter bei den Tories ist nach wie vor hoch – 57 Jahre –, und jeder zweite Tory ist bereits über 60. Die Ortsvereine in den Wahlkreisen schrumpfen so rapide, dass sie kaum mehr genug Personal für den Wahlkampf haben, während Labour mit jungen und aktiven Wahlhelfern gesegnet ist.

Durch den Mitgliederschwund ist die Conservative Party noch stärker als bisher auf die Unterstützung durch eine privilegierte Elite aus Wirtschafts-, Finanz- und Bankerkreisen angewiesen. Die Tories finanzieren sich über ein Netzwerk mächtiger Geldgeber, die 2015 in Form von direkten Spenden oder über Hedgefonds 32,8 Millionen Pfund zum Gesamtetat von 41,8 Millionen Pfund beisteuerten (nach den neuesten Zahlen der Wahlkommission).7 Im gleichen Jahr erzielte die Labour Party im Wesentlichen durch Einzelmitgliedschaften allerdings noch höhere Einnahmen: 51,1 Millionen Pfund.8

Die Medien sind für die Konservativen nach wie vor eine sichere Bank. Mit Ausnahme des Daily Mirror und des Guardian stehen die Printmedien bis heute geschlossen, wenn auch unterschiedlich klar hinter der Conservative Party. Drei Tageszeitungen dominieren seit 2015 den Markt: The Daily Telegraph, The Sun und The Daily Mail. Die beiden Letzteren erzielen eine Auflage von jeweils über anderthalb Millionen, und alle drei sind ausgesprochen europaskeptisch und unterstützen aktiv die Tories.

Zu den tragenden Säulen der Tories zählen aber auch Thinktanks wie das Institute of ­Economic Affairs oder das Centre for Policy ­Studies. Diese entstanden als Begleiterscheinung des Thatcherismus in den 1980er Jahren. Und im Windschatten von Cameron folgten Thinktanks wie der 2002 gegründete Policy Exchange oder der 2010 gegründete Bright Blue, der mit Publikationen wie „Tory Modernisation 2.0“ oder „The Modernisers’ Manifesto“ für konservative „grüne“ Ziele wirbt.

Seit dem EU-Referendum scheint der Brexit die gesamte politische Debatte und damit auch das Netzwerk dieser Thinktanks zu beherrschen, die der Partei das ideologische Rüstzeug liefern. Im Zuge der Austrittsverhandlungen mit der EU wurde eine neue Sollbruchstelle innerhalb der Conservative Party sichtbar. Auf der einen Seite wünschen sich die Verfechter eines „weichen Brexits“ wie die Abgeordneten Kenneth Clarke, Nicky Morgan und Anna Soubry, denen auch der Wirtschafts- und Finanzminister Philip Hammond zugerechnet werden kann, dass das Land durch eine Reihe von Kooperationsabkommen auf eine ähnliche Weise wie Norwegen mit der EU verbunden bleibt.

Auf der anderen Seite scheuen die Befürworter eines „harten Brexits“ um Boris Johnson, Jacob Rees-Mogg und Stephen Baker für den Fall, dass die Verhandlungen scheitern sollten, auch nicht einen Austritt ohne Abkommen. Und was schwebt diesen Freunden des „harten Brexits“ vor? Ein Freihandelsabkommen nach dem Vorbild des Ceta-Vertrags zwischen Kanada und der EU, das im Idealfall die ersehnten ultraliberalen Reformen ermöglicht.

Premierministerin May strebt dagegen mit ihrem sogenannten Chequers-Plan den dauerhaften Verbleib Großbritanniens im Binnenmarkt für Güter an, was auch in Brüssel nicht auf Gegen­liebe stößt. Und mit EU-Chefunterhändler ­Michel Barnier ringt May gerade um eine Lösung der Grenzfrage auf der Insel Irland. Es sieht so aus, als ob sie die schon ausgehandelte Übergangsphase bis Ende 2020, während der das Vereinigte Königreich noch im Binnenmarkt und in der EU-Zollunion verbleibt, um Zeit für den Abschluss eines zukünftigen Handelsabkommens zu erhalten, verlängern möchte – bis klar ist, wie die irisch-nordirische Grenze zukünftig eine unsichtbare bleiben kann. Diese womöglich unbefristete Verlängerung könnte entweder für das ganze Land oder aber zumindest für Nordirland gelten. Ersteres ist aber für die Brexiteers ein rotes Tuch, während die zweite Variante die Allianz zwischen den Konservativen und der nordirischen DUP zu zerreißen droht.

Die größten EU-Skeptiker der konservativen Unterhausfraktion versammeln sich in der ­European Research Group. Diese wurde Anfang der 1990er Jahre von ihren älteren Mitgliedern gegründet, um die Ratifizierung des Maastricht-Vertrags zu verhindern. Die European Research Group unter dem Vorsitz von Jacob Rees-Mogg wünscht sich einen Aufstand der Abgeordneten herbei, um Theresa May durch ein Misstrauensvotum stürzen zu können und womöglich durch Boris Johnson zu ersetzen, der wegen Mays Chequers-Plan im Juli 2018 mit viel Getöse von seinem Amt als Außenminister zurückgetreten war.

Nach einer Umfrage des bei der Parteibasis sehr beliebten Blogs ConservativeHome9 halten viele konservative Parteimitglieder und Wähler (bei den Parteimitgliedern liegt dieser Anteil derzeit bei 35 Prozent) Boris Johnson trotz seiner Unbeständigkeit, seiner offen zur Schau getragenen Ungeniertheit und seiner vielen verbalen Entgleisungen für den Einzigen, der mit den Realitäten und Widersprüchlichkeiten des Landes fertig­werden könnte. Mehr noch: Gerade dank seiner Exzentrik könne Johnson, der eine Biografie über einen anderen bekannten Exzentriker seiner Partei verfasst hat („Der Churchill-Faktor“), die ­vielfältigen Facetten des Vereinigten Königreichs und insbesondere Englands glaubhaft verkörpern.

Ein Indiz für Johnsons anhaltende Popularität ist die Begeisterung, die ihm im Oktober auf dem Parteitag der Konservativen und auch in den parteinahen sozialen Netzwerken zuteil wurde. Im Falle eines erfolgreichen Misstrauensvotums gegen Theresa May – dazu kann es kommen, wenn 48 Abgeordnete ein solches schriftlich beantragen und 158 von ihnen schließlich gegen die Parteichefin stimmen – wäre die Wahl von Boris Johnson zum Vorsitzenden kein unwahrscheinliches Szenario, da ja die Entscheidung seit 1998 bei der Parteibasis liegt.

Es ist allerdings auch nicht auszuschließen, dass die Mehrheit der Konservativen den Mann mit der irren Frisur am Ende doch zu exzentrisch findet. So gesehen wäre Theresa May im Vergleich zum sonstigen Spitzenpersonal der Partei immer noch das „kleinere Übel“.

1 In Großbritannien bilden die Oppositionsparteien sogenannte Schattenkabinette, in denen es für jedes Ressort einen Schattenminister gibt.

2 Zitiert nach Virginia Blackburn, Theresa May, „The Downing Street Revolution“, London (John Blake Publishing) 2016.

3 Timothy Heppell, „Cameron and Liberal Conservatism: Attitudes within the Parliamentary Conservative Party and Conservative Ministers“, The British Journal of Politics and International Relations, Bd. 15, Nr. 3, London, August 2013; Timothy Heppell und andere, „The Conservative Party Leadership Election of 2016: An Analysis of the Voting Motivations of Conservative Parliamentarians“, Parliamentary Affairs, Bd. 71, Nr. 2, April 2018.

4 Siehe Bernard Cassen, „Die britische Erpressung“, LMd, Februar 2016.

5 Siehe Owen Jones, „Eine Partei zum Fürchten“, LMd, November 2014.

6 Siehe Allan Popelard und Paul Vannier, „Corbyn in Uxbridge“, LMd, April 2018.

7 Alistair Clark, „Political Parties in the UK“, London (Palgrave Macmillan) 2018 (2. Auflage).

8 Das System der Parteienfinanzierung, das durch den Political ­Parties, Elections and Referendums Act (PPERA) von 2000 geregelt wird, verpflichtet die Parteien, Spenden über 7500 Pfund zu deklarieren sowie die Herkunft der Spende und den steuerlichen Status des Spenders offenzulegen.

9 Paul Goodman, „Our Survey. Next Tory Leader. Johnson Stretches His Lead at the Top of the Table“, ConservativeHome, 6. September 2018, www.conservativehome.com.

Aus dem Französischen von Andreas Bredenfeld

Agnès Alexandre-Collier ist Professorin für britische Zivilisation an der Université de Bourgogne-Franche Comté, derzeit Gastwissenschaftlerin am Maison française in Oxford und Autorin (mit Emmanuelle Avril) von „Les partis politiques en Grande-Bretagne“, Paris (Armand Colin) 2013.

Le Monde diplomatique vom 08.11.2018, von Agnès Alexandre-Collier