08.11.2018

Syrien heute – eine Nahaufnahme

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Syrien heute – eine Nahaufnahme

Acht Jahre nach Beginn des Konflikts geht der Krieg auf sein Ende zu. Von Frieden oder gar Aussöhnung kann jedoch nicht die Rede sein. Der Alltag in den vom Regime kontrollierten Gebieten ist geprägt von Willkürherrschaft, Angst vor den zahlreichen Milizen und einem mörderischen Kampf um knappe Ressourcen.

von Synaps Syrien-Team

Damaskus, 22. Oktober 2018: Die Barbesitzerin liebt ihren Job, will aber raus aus Syrien MARKO DJURICA/reuters
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Der Krieg hat Syrien dramatisch verändert, auf brutale wie auf subtile Weise. Selbstredend haben die meisten Veränderungen die Lage der Menschen verschlimmert, aber einige lassen auch Raum für vorsichtigen Optimismus. Denn die Bevölkerung demonstriert die Fähigkeit, sich mit Zähigkeit und Flexibilität an jede neue Phase des schrecklichen Konfliktgeschehens anzupassen und – inmitten des Albtraums – einen Rest von Würde, Solidarität und Lebenswillen zu bewahren.

Die Syrer haben es auf ihre Weise geschafft, sich auf Veränderungen einzustellen, die von denen, die sie zu unterstützen oder zu repräsentieren behaupten, fast ausnahmslos ignoriert werden. Diese inneren Transforma­tions­prozesse bleiben auf der Ebene der Machtpolitik und der Friedensgespräche – aber auch bei den humanitären Hilfsaktionen – weitgehend unbeachtet. Sie entgehen auch der Aufmerksamkeit der vielen ausländischen Besucher, die nach ihrer Rückkehr aus Syrien häufig vermelden, in Damaskus seien die Cafés gut besucht und selbst in Aleppo hätten die ersten Läden wieder aufgemacht.

Tatsächlich hat sich die syrische Gesellschaft – trotz des Anscheins von „Normalität“ – grundlegend verändert, und zwar auf so vielfältige Weise, dass wir sie erst allmählich begreifen. Um Umfang und Qualität dieses Wandels auszumessen, bieten Berichte aus dem syrischen Alltagsleben die besten Anhaltspunkte.

Die wohl folgenreichste Veränderung der Sozialstruktur ist die Dezimierung der männlichen Bevölkerung. Das Kriegsgeschehen mit den vielen Toten, aber auch die Vertreibung und Entführung von jungen Männern hat eine verstümmelte Generation hinterlassen. Und von denen, die geblieben sind und überlebt haben, wurden die meisten in ein korrumpierendes Gewaltsystem hineingezogen.

Wer überleben will, muss in die Miliz

Ein Beispiel für die verheerenden Auswirkungen des Krieges auf die männliche Bevölkerung bietet das Schicksal einer alawitischen Familie aus einem Dorf an der Mittelmeerküste, einer Region, die seit Kriegsbeginn von der Regierung kontrolliert wird. Von drei Brüdern ist einer im Krieg gefallen; der zweite ist nach einem Rückenschuss querschnittsgelähmt; der dritte – ein 30-jähriger unterbezahlter Beamter – lebt in ständiger Angst vor der Einberufung in die Armee. Die Mutter bilanziert ihr Unglück so: „Ich habe einen Märtyrer hingegeben, ein anderer Sohn ist halb tot, und der jüngste kann jeden Moment eingezogen werden. Ich hoffe, Gott macht diesem Krieg ein Ende, die Friedhöfe sind voll von jungen Männern.“

Die Geschichte dieser Familie ist typisch für das 3000-Seelen-Dorf, das wiederum für die bittere Realität vieler Gemeinden steht, die sozial und ökonomisch mit dem syrischen Militär- und Sicherheitsapparat verkoppelt sind. Von den Männern dieses Dorfes wurden schätzungsweise 80 getötet und 130 verletzt, was rund ein Drittel der männlichen Dorfbewohner zwischen 18 und 50 Jahren ausmacht.1 Die restlichen zwei Drittel wurden ebenfalls fast alle von der Armee oder einer der Milizen rekrutiert.

Der Krieg, der so viele Menschenleben vernichtet hat, ist aber auch zu einer unentbehrlichen Einkommensquelle geworden. In besagter Familie bezieht der gelähmte Bruder eine Kriegsopferrente von 60 US-Dollar pro Monat.2 Die Witwe seines Bruders bekommt 35 Dollar Beihilfe von der Miliz, in der ihr Mann gekämpft hatte. Aber das reicht natürlich nicht zum Leben. Deshalb müssen der 65-jährige Vater – selbst Kriegsveteran – und der gesunde Sohn „Tag und Nacht arbeiten, um die Familie zu ernähren“.

Ähnlich sieht es in den vormals oppositionellen Gebieten aus, die von den Pro-Assad-Kräften zurückerobert wurden. Auch hier sind viele junge Männer gefallen oder geflohen; und die Zurückgebliebenen sehen sich häufig genötigt, bei regierungstreuen Milizen anzuheuern, um wenigstens ihren Lebensunterhalt zu sichern. Das ist zugleich die einzige Alternative zur Einberufung in die reguläre Armee, wo nicht nur der

Sold sehr dürftig ist, sondern auch das Risiko besteht, an eine entfernte Front geschickt zu werden.

Ein Beispiel aus dem Ostteil von Aleppo: Das Gebiet wurde jahrelang von Regierungstruppen belagert und beschossen; die Versorgung mit Wasser und Strom funktioniert nur rudimentär; die Wirtschaft liegt am Boden. Aber die Bewohner klagen auch über die Unsicherheit, die von den unvorhersehbaren Aktionen der Milizen ausgeht.

„Wenn du dich und deine Familie schützen willst, trittst du in eine Miliz ein“, sagt ein Mann im Stadtteil Jazmati. „Hier regiert das Verbrechen. Und das ist mit den Nationalen Verteidigungsmilizen3 verflochten. Jede Gruppe kontrolliert ein Viertel, und manchmal kämpfen sie untereinander um die Verteilung der Beute. Ladenbesitzer müssen Schutzgelder zahlen. Einer hat sich geweigert, dem haben sie das Geschäft angezündet.“ Unter solchen Umständen ist es besser, eine Waffe zu tragen.

Der Eintritt in eine Miliz hilft auch dabei, zentrale Alltagsprobleme zu lösen, erläutert ein Mann aus dem Osten Aleppos: „Die Kämpfer haben ein anständiges Gehalt und andere Vergünstigungen. Sie kommen zum Beispiel billiger an Strom, weil die privaten Besitzer von Generatoren bessere Preise machen, wenn der Kunde einer Miliz angehört.“ Ein anderer erzählt, dass er und seine Familie nur dank der zwei Söhne durchkommen, die sich der von Iran unterstützten Baqir-Brigade angeschlossen haben. Sie bekommen nicht nur Sold, sondern können sich auch bei Plünderungen mit Haushaltswaren eindecken.

Im ganzen Land gibt es für junge Männer, die dem Wehrdienst – bei der Armee oder einer Miliz – entgehen wollen, nur wenig Alternativen. Die meisten, die das nötige Geld haben, verlassen das Land. Andere profitieren von der Wehrdienstbefreiung für Studenten und für diejenigen, die als einziges männliches Familienmitglied übrig geblieben sind. Wer nicht in diese Kategorien fällt, muss hohe Bestechungssummen zahlen. Oder er muss sich für die Armee und für seine Umgebung unsichtbar machen, indem er das Haus nicht mehr verlässt.

Da all diese Lösungen unsicher und unkalkulierbar sind, finden sich viele in einem endlosen Schwebezustand. Ein Mann Ende dreißig aus einem Vorort von Damaskus schildert das Dilemma, in dem er sich 2016 befand, als sein Viertel von regierungstreuen Truppen zurückerobert wurde: „Ich stand vor der Wahl, 3000 bis 4000 Dollar zu zahlen, um illegal in die Türkei oder den Libanon zu gelangen, oder mich der Armee oder einer der Milizen anzuschließen.“

In seinem Viertel gab es neun Milizen. Sämtliche Kommandeure waren mit dem Sicherheitsapparat verbandelt, und wer nicht kämpfen wollte, konnte mit einem von ihnen einen stillschweigenden Deal abschließen: „Der Kommandeur der Gruppe registriert dich als Kämpfer, lässt dich aber ansonsten in Ruhe. Dafür zahlst du ihm eine einmalige Bestechungssumme zwischen 500 und 2000 Dollar. Außerdem kassiert er deinen Sold und manchmal bis zu 100 Dollar monatlich.“

Der Betroffene konnte das Geld für den Grenzübertritt nicht aufbringen, zudem wollte er seine Familie nicht zurücklassen. Also arrangierte er sich mit einer Miliz, was ihn gut 1000 Dollar kostete. Dann aber hatte er Pech: „Die Gruppe wurde aufgelöst, und ich verlor sowohl mein Geld als auch meine Bewegungsfreiheit. Jetzt bin ich in meine Wohnung eingesperrt und auf meine Ersparnisse und die Hilfe von Verwandten angewiesen.“

Der Schwund der männlichen Bevölkerung im arbeitsfähigen Alter wird auch den Wiederaufbau der syrischen Volkswirtschaft behindern. Ein Unternehmer in Aleppo berichtet von Betrieben, die wieder aufmachen wollen, aber keine männlichen Arbeitskräfte finden: „Wenn sie doch welche auftreiben, kommen die Leute von der Staatssicherheit oder den Milizen und verhaften die Arbeiter. Und den Arbeitgebern werden Bußgelder aufgebrummt, weil sie diese Leute überhaupt eingestellt haben.“

Der Krieg hat die junge Generation, die den syrischen Aufstand begonnen und getragen hatte, auch in politischer Hinsicht gebrochen. Die meisten sehen sich, soweit sie noch in Syrien sind, zum Dienst in ebenjenem Machtapparat gezwungen, gegen den sie ursprünglich rebelliert haben. Das Ergebnis ist ein grausames Paradox: Fast alle Probleme, die zum Aufstand von 2011 führten, haben sich eher noch verschärft – aber inzwischen ist die staatliche Repression so stark, die Zivilgesellschaft so am Boden, dass eine breite Reformbewegung innerhalb der nächsten Generation undenkbar scheint.

Eine zweite grundlegende Veränderung, die aus der Verzweiflung der dezimierten Genera­tion resultiert (und diese weiter verschärft hat), ist der ökonomische Verfall, sprich die Ablösung einer produktiven Volkswirtschaft durch ein System der „Kannibalisierung“. Um zu überleben, sind die verarmten Teile der syrischen Gesellschaft gezwungen, sich gegenseitig auszubeuten. Die sichtbarste Form dieser neuen ökonomischen Kultur ist das Gewerbe des Plünderns, für das der Volksmund einen neuen Begriff erfunden hat. Das Wort ta’feesh bedeutet nicht nur Möbelklauen, sondern etwa auch die systematische Demontage von Wasser- und Stromleitungen in Häusern, Fabriken und ganzen Straßenzügen.

Einen extremen Fall von ta’feesh erlebten die Bewohner des palästinensischen Flüchtlingslagers Jarmuk im Süden von Damaskus, das im April 2018 von Assad-Truppen zurückerobert wurde. Die anschließende Plünderungswelle, die mindestens bis Juni andauerte, nahm Dimen­sio­nen an, die selbst regimefreundliche Milizionäre als schockierend empfanden – vor allem, wenn ihre eigenen Wohnungen von anderen Fraktionen ausgeraubt wurden. Der Kämpfer einer regierungstreuen Palästinensergruppe spricht von einer „Sabotage der grundlegenden Infrastruktur“: „Ich habe Eliteeinheiten gesehen, die private Krankenhäuser und Regierungsbehörden plünderten, und Soldaten, die einen Panzer der Regierungsarmee benutzten, um Stromkabel aus der Erde zu reißen.“

Ein anderer Bewohner hat seine eigenen Besitztümer zerstört, um den bewaffneten Gruppen das Geschäft zu verderben: „Ich will nicht, dass diese Leute auf meine Kosten Gewinne machen. Ich wollte sogar meine eigene Wohnung anzünden, aber meine Frau hat mich davon abgehalten, damit nicht andere Wohnungen zu Schaden kommen.“

Die Beutewirtschaft hat eine neue Mikroökonomie entstehen lassen, in der Diebesgut als Secondhandware verkauft wird. Viele Leute sind auf diese neuen ta’feesh-Märkte angewiesen, weil sie ihre eigenen gestohlenen Sachen ersetzen müssen.

Ein Beamter berichtet, wie schockiert er war, als er nach zweijähriger Vertreibung in seine Heimatstadt Deir al-Sor zurückkehrte: „Das Mehrfamilienhaus, in dem wir gelebt hatten, war zerstört. Und alles war gestohlen. Mein Bruder half mir, eine einfache Einzimmerwohnung zu finden, und kaufte mir ein paar geplünderte Sachen.“ Solche Rückkehrer müssen sich – auf unendlich komplizierte und kostspielige Weise – in ihr eigenes Viertel buchstäblich zurückkaufen. Nicht nur, dass sie an den Checkpoints informelle Wegzölle zahlen müssen, auch die staatlichen Behörden pressen ihnen ständig weitere Gebühren ab – teils sogar für Versorgungsleistungen, die es gar nicht gibt.

Ein Textilhändler aus der Altstadt von Aleppo rechnet seine Ausgaben vor: „6000 Dollar allein, um mein beschädigtes Geschäft wieder aufzumachen. Dazu forderten die Regierungsstellen, dass ich die Wasser- und Stromrechnungen – plus Gewinnsteuern – für die Jahre 2013 bis 2017 nachzahle. Ich sagte: ,Aber da war mein Laden doch zu, da habe ich keine Einnahmen gehabt und weder Strom noch Wasser verbraucht.‘ Ich musste trotzdem zahlen. Und obendrein für 13 500 Dollar neue Waren kaufen, weil mein Laden völlig ausgeplündert war.“

Der Mann macht heute rund 8 Dollar Gewinn am Tag. Das reicht gerade für Essen, Strom, Wasser und Steuern. Aber er ist lieber in seinem Laden, anstatt zu Hause zu sitzen „und zu viel nachzudenken“.

Einen Teil ihres knappen Geldes geben die Leute aus, um von Beamten wichtige Informationen zu kaufen. Etwa über den Verbleib verschwundener Verwandter oder um zu erfahren, ob man selbst auf den ständig wachsenden Fahndungslisten steht. Will man sicher sein, dass man beim Grenzübertritt nach Libanon nicht festgenommen wird, ist ein Tarif von rund 10 Dollar fällig, die ein Angestellter im Ministerium für Migration und Passwesen kassiert.

Die syrische Raubwirtschaft geht zwar großenteils direkt auf das Gewaltgeschehen zurück, aber der Krieg hat auch subtile Formen von Räuberei hervorgebracht, die sich noch jahrelang halten und weiterentwickeln werden. An dieser Kannibalenökonomie partizipieren alle, die ihren Lebensunterhalt durch Erpressung sichern, an erster Stelle all die Rechtsanwälte, Sicherheitsleute und Beamten, die sich als „Makler“ auf dem Markt für offizielle Dokumente wie Geburts-, Heirats- und Sterbeurkunden etabliert haben.

Unzählige syrische Staatsangehörige haben ihren Familienstand geändert, während sie sich jenseits der Regierungskontrolle aufhielten. Deshalb müssen sie oft, um nicht in Syrien oder im Ausland in ein juristisches Labyrinth zu geraten, exorbitante Summen an irgendwelche Makler zahlen, die ihnen die notwendigen Dokumente beschaffen.

Ein Anwalt aus Damaskus beschreibt seinen Berufsstand als regelrechte Wachstumsindustrie: „Heute arbeiten die meisten Anwälte in unserer Kanzlei als Dokumentenmakler. Ein gut vernetzter Makler macht 60 bis 80 Dollar am Tag, so viel wie das Monatsgehalt eines Beamten mit Universitätsabschluss. Deshalb geben viele Staatsbedienstete ihre Stelle auf und arbeiten als Makler.“

Für wohltätige Motive ist in diesem Geschäft kein Platz. Der Anwalt hat einen Kollegen, der ihm seinen Schwager als Kunden vermittelte. „Ich fragte ihn, wozu er mich braucht, er könnte doch alle Papiere selber beschaffen. Da sagte er, von seinem Schwager könne er aber kein Geld nehmen; ich könnte das jedoch – und ihm dann die Hälfte weiterreichen.“

Dieser ökonomische Kannibalismus ist deshalb so tückisch, weil er sich von selbst fortsetzt und verstetigt. Durch die Raubökonomie, die sich ständig weiter ausdifferenziert, wird der Abfluss von Geldkapital wie auch die Abwanderung von Humankapital beschleunigt. Deshalb ist Syrien heute ein Land, das weitgehend auf seine soziale Unterschicht reduziert ist, die nur noch ums schiere Überleben kämpft. Es ist dieser Kampf, der immer mehr einfache Leute in den Teufelskreis des Raubgewerbes drängt. Auch wer nicht aktiv mitmischt, wird zumindest zum Profiteur – indem er Beutegut erwirbt oder Hilfe von Verwandten bezieht, die sich an diesem System bereichert haben. Auf diese Weise verwandelt sich die Raubwirtschaft der Kriegszeit langsam, aber sicher in eine räuberische Friedenswirtschaft.

Eine weniger augenfällige, aber ebenso tiefgreifende Veränderung ist die Unterwerfung der Gesellschaft auch in psychologischer Hinsicht. Die Assad-Regierung hat inmitten der Ruinen zumindest einen Neuaufbau geschafft: Mit der „Mauer der Angst“ hat sie jenes Merkmal des Regimes wieder errichtet, das nach 2011 zusammengebrochen war. Der syrische Sicherheitsapparat hat in den Landesteilen, aus denen er sich zeitweise zurückgezogen hatte, erneut die Kontrolle übernommen. Was das bedeutet, erlebte eine Sozialforscherin aus Homs am Beispiel einer Freundin. Als diese in ihrer Heimatstadt eine Straßenumfrage für eine zugelassene NGO machte, wurde sie von Sicherheitsleuten festgenommen und über Nacht inhaftiert. „Am nächsten Morgen wurde sie freigelassen, aber nur weil sie schwanger war.“

Überwachung, Einschüchterung und Repression sind nicht die einzigen Methoden, die diese bleierne Atmosphäre erzeugen. In ganz Syrien herrscht eine allgemeine Erschöpfung. Die Menschen sind vom Krieg zermürbt, aber auch enttäuscht von denjenigen, die sich als ihre Führer und Beschützer aufgespielt haben. „2011 redeten alle über Politik, selbst wenn sie keine Ahnung hatten“, erzählt die Frau aus Homs. „Heute redet niemand mehr über Politik. Sie wollen leben. Und ihre Energie reicht gerade aus, um Essen aufzutreiben oder zu versuchen, Verwandte aus dem Gefängnis zu holen.“

Die syrische Gesellschaft liegt nicht nur am Boden, sie ist auch tief gespalten. Der Krieg hat soziale und ökonomische Gräben vertieft, die bereits lange vor dem Konflikt existierten. Am krassesten zeigt sich das vielleicht in Homs, einer Stadt mit einer sunnitischen Mehrheit und größeren Minderheiten von Christen und Alawiten. Homs war das erste städtische Zentrum der Rebellion, die schnell in erbitterte und blutige Kämpfe zwischen den Religionsgruppen umschlug. Im Mai 2014 wurde die Stadt von regierungstreuen Kräften zurückerobert, aber die Trennlinien sind immer noch von brutaler Klarheit.

Wie dies die sozialen Beziehungen prägt, schildert ein NGO-Mitarbeiter am Beispiel der wohltätigen Organisationen: „Ursprünglich waren diese nicht konfessionell beschränkt, das hat erst der Krieg gebracht. Heute arbeiten die Leute nur ungern außerhalb ihrer eigenen Community.“ In Homs waren die Sunniten überwiegend aufseiten der Revolution; die alawitische Minderheit dagegen fühlte sich existenziell bedroht und stellte sich sofort dagegen. Seitdem wieder die Regierung am Drücker ist, haben die Trennlinien eine neue Bedeutung gewonnen, weil sie jetzt zwischen Siegern und Besiegten verlaufen.

Ein Mann aus einem alawitischen Viertel von Homs missbilligt selbst die dürftigen Wiederaufbaubemühungen in den sunnitischen Wohngebieten: „Ich weiß nicht, warum unsere Regierung diese Projekte erlaubt. Sie sollten in unserem Viertel stattfinden, um den Familien zu danken, die ihre Söhne geopfert haben.“

Ein Großteil der syrischen Sunniten fühlt sich unterdrückt und mundtot gemacht. In alawitischen Kreisen betont man dagegen die eigene Opferrolle, wobei sich berechtigte Klagen mit Rachegefühlen gegen die Sunniten mischen, die als Landesverräter gelten. Umgekehrt sagen viele Sunniten, ihre alawitischen Nachbarn hätten sich im Krieg bereichert.

Homs steht auch exemplarisch für die Kluft zwischen Reichen und Armen, die maßgeblich zur Rebellion beigetragen hat. Heute ist diese Kluft größer denn je, weil eine kleine Clique von der Kriegswirtschaft profitiert, während die Mehrheit der Bevölkerung in Armut versinkt. Der Krieg habe den lokalen Handel ruiniert, meint ein sunnitischer Geschäftsmann: „Viele seriöse Händler sind emigriert oder tot. Diejenigen, die noch da sind, haben meist Angst, ihre Geschäfte wieder aufzumachen. Ein paar sind erfolgreich, weil sie mit den Sicherheitsorganen kooperieren und Oppositionelle denunzieren. Oder sie kassieren Riesensummen von Familien, die versuchen, ihre verhafteten Kinder freizukaufen. Das sind die Leute, deren Geschäfte wieder florieren.“

Die krude Unterscheidung nach Konfession oder Klasse reicht allerdings nicht aus, um die komplexe und fluide Nachkriegslandschaft Sy­riens zu beschreiben. Etliche Trennlinien sind nur für die zu erkennen, die sie unmittelbar erfahren. Nachbarn, Kollegen, Freunde oder Verwandte können sich auf unterschiedlichen Seiten der politischen Front wiederfinden, obwohl sie derselben Konfession und derselben sozialen Schicht angehören.

In den sieben Jahren eines brutalen und schmutzigen Kriegs wurden massenhaft unterdrückte Ressentiments freigesetzt, die jetzt nicht so schnell wieder verschwinden werden. Ein Lehrer aus Rakka schildert die Fronten in seiner Stadt, die lange vom IS beherrscht wurde: Viele IS-Kämpfer hätten ihre Uniform gewechselt und sich der DKS (den kurdisch dominierten Demokratischen Kräften Syriens) angeschlossen, um sich und ihre Familien zu schützen. „Aber sie sind immer noch dieselben schlechten Menschen, und sie werden es bleiben. Wir werden Racheakte erleben. Nicht jetzt, wo alle mit ihren Alltagsproblemen zu kämpfen haben. Aber am Ende wird jeder, der unter dem IS gelitten hat, dessen Bruder getötet wurde, Vergeltung üben.“

Das Gewaltpotenzial wird noch verstärkt durch den mörderischen Wettstreit um knappe Ressourcen. In Damaskus gibt es mittlerweile feine Trennlinien auch zwischen den unterschiedlichen Vertriebenengruppen, die um Arbeitsplätze und humanitäre Hilfsleistungen konkurrieren. Eine Frau aus einem Dorf bei Aleppo schildert, wie es ihr ergangen ist, als sie vor einem Jahr nach Damaskus kam: „Anfangs bemühten wir uns um Hilfe vom syrischen Roten Halbmond. Sie gaben uns drei Decken, eine Matratze und drei Körbe mit Nahrungsmitteln. Aber jetzt sagen sie, sie können uns nichts mehr geben – jetzt sind die Leute aus Ghuta dran.“4

Eine Frau aus Daraa klagt: „Die Leute aus Deir al-Sor nehmen sich die ganzen Lebensmittel. Sie sind sehr geschickt darin, die Leute von den Hilfsorganisationen für sich einzunehmen.“ Auch bedürftige Alteingesessene fühlen sich häufig übergangen. Eine Frau aus einem Vorort von Damaskus kritisiert: „Die Helfer wollen in der Regel denen helfen, die von woanders geflüchtet sind. Deshalb sage ich, dass ich Vertriebene bin, wenn ich zu einer Organisation gehe.“

Wer keinen Hidschab trägt, kann sich freier bewegen

Solche Rivalitäten im Kampf um humanitäre Hilfe sind nicht so erbittert wie die Konflikte zwischen Regime- und Oppositionsanhängern, aber auch sie verweisen auf die tiefen Risse, die der Krieg hinterlassen hat. Zudem haben sich andere Bruchlinien weiter verfestigt, etwa zwischen konservativen und säkular orientieren Sunniten. Das kann man zum Beispiel an den Checkpoints beobachten. „Für mich ist es einfacher herumzufahren, weil ich keinen Hidschab trage“, berichtet eine Frau aus einem Vorort von Damaskus. „Wenn du dich verschleierst, nehmen die Posten an, dass du zur Opposition gehörst.“

Schärfer geworden sind auch die Gegensätze zwischen Syrern innerhalb und außerhalb des Landes, zwischen Stadt und Land, zwischen Damaskus und der Peripherie. Diese Fragmentierung der Gesellschaft führt dazu, dass sich immer mehr westliche Sponsoren für „Dialoge“ zwischen den verschiedenen Gruppen engagieren. Die sind zwar dringend erforderlich, aber in Syrien gibt es auch Stimmen, die davor warnen, dass sie zum Selbstzweck werden könnten. Ein Geschäftsmann aus Damaskus, der selbst einen gescheiterten Dia­log­ver­such zwischen verschiedenen Fraktionen des Privatsektors erlebt hat, spricht von einer „Vermittlungsindustrie“: „Gleichzeitig haben sich alle Probleme, die Ursache des Aufstand waren, nur noch weiter verschärft.“

Es besteht die Gefahr, dass man die schlimmsten Missstände einfach unter den Teppich kehrt, während es der Regierung in Damaskus immer besser gelingt, ihre Nachkriegskonzepte in ganz Syrien durchzusetzen. Das stärkt die aggressivsten Assad-Anhänger und bringt die Kräfte zum Schweigen, die gegen die Regierung sind oder zwischen den Lagern stehen.

Angesichts der umfassenden Desintegra­tion ist es dennoch erstaunlich, wie sich die ganz normalen Leute über Wasser halten können. Mit rastloser Energie, endloser Geduld und bewundernswerter Solidarität demonstrieren sie ihren Willen zum Durchhalten, bis ein ernsthafter Neubeginn wieder möglich wird. Das gilt etwa für den Lehrer aus Deir al-Sor, der nach zwei Jahren auf der Flucht in seine Stadt zurückgekehrt ist: „Ich war froh, meine Wohnung unversehrt zu finden – sie war völlig ausgeraubt, aber die Mauern und das Dach waren wenigstens noch da. Sie wieder einzurichten kostet etwa 4000 Dollar. Ich habe ein paar Ersparnisse, und mein Sohn ist Arzt in Saudi-Arabien. Er wird mir das Geld schicken, das ich für die Wohnung brauche und um meine anderen Söhne vom Wehrdienst in einer kurdischen Miliz freizukaufen.“

Über das Leben in Deir al-Sor macht er sich keinerlei Illusionen: „Es fehlen die elementaren Versorgungsleistungen. Aber wenigstens habe ich meine Wohnung, und ich denke, in ein paar Monaten wird die Regierung uns Wasser und Strom zurückbringen.“ Der Mann hat das Flüchtlings­dasein einfach satt. „Hier in meiner alten Umgebung kann ich in mein Café gehen und meine Freunde treffen, jeden Tag meine Wasserpfeife rauchen, Tee trinken und Karten spielen.“

Ein anderer Bewohner von Deir al-Sor erzählt, wie schwierig es ist, seinen Arbeitsplatz in einem staatlichen Krankenhaus zu behalten. Er lebte mit seiner Familie in der relativen Sicherheit von Damaskus, wurde dann aber aufgefordert, nach Deir al-Sor zurückzukehren. Andernfalls würde er seinen Job verlieren. Seine drei Töchter im Teenager­alter und seine beiden Söhne will der Pharmazeut aber um keinen Preis nach Deir al-Sor zurückbringen – aus Angst vor den Milizen und den kriminellen Banden. Also pendelt er: „Mein Gehalt von 85 Dollar im Monat reicht gerade für die Miete in Damaskus. Dazu kommen 120 Dollar, weil ich noch viele Stunden in einer privaten Apotheke arbeite. Allerdings kostet mich eine einzige Fahrt nach Deir al-Sor und zurück rund 90 Dollar.“

Die Menschen in Syrien sind in einer paradoxen Situation. Einerseits sind sie mehr denn je auf sich allein gestellt, andererseits immer stärker von sozialen Hilfsstrukturen abhängig. Die wahrscheinlich wichtigste Unterstützung ist das Geld, das Verwandte aus dem Ausland überweisen. Aber es gibt auch Menschen, die einfach aus Hilfsbereitschaft ihre Nachbarn unterstützen, soweit sie es sich leisten können.

Ein pensionierter Offizier, der in einem Vorort von Damaskus lebt, hat 2013 eine solche spontane Hilfsaktion gestartet: „Damals kamen sehr viele Vertriebene hierher. Einige Leute gaben ihnen Nahrungsmittel und Decken und fanden für sie leere Wohnungen oder Läden. Ich und sechs Freunde begannen, Spenden zu sammeln. In der ganzen Stadt forderten wir die Leute zu Geld- und Sachspenden auf. Einige kümmerten sich um warme Mahlzeiten; Ärzte machten Gesundheitschecks; Apotheker gaben kostenlos Medikamente ab. Wir gingen auch in die Industriegebiete und baten die Fabrikbesitzer um Möbel und andere Sachen. Einige Textilfabriken lieferten zweimal im Jahr Kleider; Nahrungsmittelhersteller spendeten monatliche Rationen. Und wir bekamen Geld von Syrern, die im Ausland leben.“

Solche Formen informeller Unterstützung haben in der syrischen Gesellschaft eine lange Tradition. Die Ober- und Mittelschicht praktizierte eine lebendige Solidarität mit ärmeren Landsleuten, die vor allem von den Händlern und religiösen Netzwerken getragen wurde. Aber das Ausmaß des Elends, das heute im ganzen Land herrscht, ist ohne Beispiel. Das verändert die Haltung derer, die Hilfe in Anspruch nehmen: „Die Leute pflegten ihre Abhängigkeit von Spenden zu verbergen. Das ist vorbei“, berichtet ein Geschäftsmann aus Zentralsyrien. Heute könne es passieren, dass selbst der Manager einer Fabrik Schlange steht, um seine Lebensmittelration abzuholen. „Das ganze Land lebt heute von Almosen.“

Das stellt die Gesellschaft vor scheinbar unüberwindliche Probleme, auf die viele einfache Leute eine kollektive Antwort suchen. Der zitierte Geschäftsmann sieht darin ein Hoffnungszeichen: „Die Leute halten sich noch an die islamischen Regeln, wonach du denen helfen musst, die dir am nächsten sind. Wenn du zum Beispiel deinen Nachbarn nicht helfen kannst, musst du jemanden finden, der es für dich tut. Sieben Jahre Krieg haben nicht vermocht, diesen Aspekt der syrischen Kultur zu zerstören. Darauf sind die Syrer stolz.“

Der Krieg in Syrien geht seinem Ende entgegen, ohne dass von einem Schlussstrich viel zu spüren ist. Wie viele Menschen wurden getötet? Von wem? Und warum? Zahllose Tragödien werden unaufgeklärt bleiben, was an konkurrierenden Legenden, vernichteten Beweismitteln und dem schieren Ausmaß der Zerstörung liegt. Das Regime hat gewonnen und zeigt nicht die geringste Kompromissbereitschaft.

Wer wird im Gefolge dieses Sieges das Land wiederaufbauen? Assads Verbündete werden es nicht sein, aber auch nicht die westlichen Staaten, die zwar weiter humanitäre Hilfe leisten, aber die Finanzierung eines landesweiten, von Damaskus gesteuerten Wiederaufbaus verweigern werden. Also wird es auf absehbare Zeit keine Erholung, keine ernsthaften Reformen und keine glaubhafte Aussöhnung geben.

Von der Außenwelt, die auf geopolitische Interessen und hohle Friedensinitiativen fixiert ist, werden die wichtigsten Fragen ohnehin nicht gestellt. Wie werden sich die Syrer nach allem, was geschehen ist, neu organisieren? Und was brauchen sie, um sich wieder eine Zukunft aufzubauen? Die Antworten wird man weder in Genfer Konferenzsälen noch auf den Korridoren der Macht in Damaskus finden. Es sind die Menschen in Syrien, die sie leise vor sich hin flüstern.

1 Diese Zahl beruht auf Angaben der Familie und Schätzungen einer in der Region aktiven NGO.

2 Diese und alle weiteren Dollarsummen basieren auf einem Wechselkurs von 500 Syrischen Pfund pro US-Dollar.

3 Die „Nationalen Verteidigungskräfte“, bestehend aus freiwilligen Teilzeitkämpfern, wurden 2012 vom syrischen Regime als Reserveeinheiten der regulären Armee aufgestellt.

4 Gemeint sind die Vertriebenen aus der belagerten Ost-Ghuta. Siehe Patrick Cockburn, „Tödliche Belagerungen“, LMd, September 2018.

Aus dem Englischen von Niels Kadritzke

Synaps ist eine Informationsagentur in Beirut, die junge ForscherInnen aus der Region ausbildet. Der Beitrag erschien zuerst auf Arabisch und Englisch: www.synaps.network. © LMd, Berlin

Le Monde diplomatique vom 08.11.2018, von Synaps Syrien-Team