11.10.2018

Heroin auf Rezept

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Heroin auf Rezept

Die Schweiz macht es seit über 25 Jahren vor: Eine liberale Drogenpolitik rettet Menschenleben

von Cédric Gouverneur

Markus Willeke, I can’t see the point of another day, 2017, Öl auf Baumwolle, 220 x 150 cm courtesy Hengesbach Gallery; Fotografie: Björn Siebert, Leipzig
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David ist 50 Jahre alt und seit 25 Jahren drogenabhängig. „Ich habe angefangen, Heroin zu nehmen, um meine psychischen Probleme in den Griff zu bekommen“, sagt er. „Das hat mich ruiniert. Ich habe meinen Job als Uhrmacher verloren, mir von meiner Partnerin und von Freunden Geld ,geliehen‘. Schließlich bin ich auf der Straße gelandet und habe selbst gedealt, um meinen eigenen Konsum zu finanzieren.“

Seit anderthalb Jahren kommt David täglich in ein Zentrum des Genfer Versuchsprogramms zur Verschreibung von Betäubungsmitteln (Programme expérimental de prescription de stupéfiants, PEPS), das vom Universitätsklinikum geleitet wird. „Dank dieses Programms komme ich wieder unter Leute und konnte meinen Freunden ihr Geld zurückzahlen.“ Der ehemalige Uhrmacher schaut auf seine Armbanduhr: „Ich muss los, meine Behandlung beginnt gleich.“ Im Rahmen der Therapie verabreicht ihm eine Krankenschwester eine Spritze mit Diacetylmorphin – von einem Schweizer Labor legal hergestelltes Heroin.

Die rund 1500 Patienten der 22 Schweizer PEPS-Zentren, die eine Heroingestützte Behandlung (­HeGeBe) bekommen, haben alle vergebens versucht, mithilfe von Ersatztherapien von ihrer Sucht loszukommen: „Methadon hat bei mir nicht funktioniert“, sagt der 44-jährige Marco. „Die Nebenwirkungen sind stark und es hat keine angstlösende Wirkung. Deswegen habe ich zusätzliche andere Mittel genommen. Seit sechs Monaten bin ich nun im Programm: Ich habe zugenommen und meinen Heroinkonsum um 80 Prozent reduziert. Langfristig will ich ganz aufhören.“ Die 54-jährige Chantal, die seit 30 Jahren abhängig ist, meint: „Die Behandlung gibt meinen Tagen Struktur, und ich renne nicht mehr den Dealern hinterher.“

„Eine Sucht entsteht, wenn die Einnahme eines Mittels zur einzigen Strategie wird, um schwierige Situationen zu meistern“, erklärt Yves Saget, der als Pfleger auf Toxikologie spezialisiert ist. „Wir sagen inzwischen ,Behandlung‘ statt ,Dosis‘, weil das Gehirn das He­roin benötigt, um ein Gleichgewicht zu finden. Wir behandeln hier 63 Pa­tien­ten mit Diacetylmorphin.“ Das medizinische Heroin, das hier verabreicht wird, ist rein, ganz im Gegensatz zum dem, was auf der Straße verkauft wird. Das ist meist mit Koffein, Paracetamol und anderen Substanzen gestreckt. Um die Wirkung zu steigern, kombinieren es Drogenabhängige oft mit Alkohol oder psychotropen Medikamenten, etwa Benzodiazepine.

Jeder Patient wird von einem Pfleger, einem Assistenzarzt und einem Psychiater betreut. „Durch die ärztliche Verschreibung können sie sich aus dem Teufelskreis der Straße befreien“, erzählt der angehende Psychiater Pe­dro Fereira. „Sie müssen sich den Stoff nicht mehr selbst besorgen und irgendwie das dafür notwendige Geld auftreiben – sei es durch Diebstahl oder durch Prostitution. Diese Veränderung setzt bei ihnen psychische Ressourcen frei, um ihr Leben wieder in den Griff zu bekommen, sich Ziele zu setzen, den Kontakt zu ihren Familien und Freunden wiederherzustellen. Außerdem erhalten sie endlich Zugang zu einem Psychologen.“

In der Schweiz kommt die ­HeGeBe inzwischen in fast allen Kantonen zum Einsatz. Sie hat ihren Ursprung in einer schweren Krise in den 1980er Jahren, als der Heroinkonsum in die Höhe schnellte und eine offene Drogenszenen entstand. „Die meisten Konsumenten waren jung und kamen aus zerrütteten Familien“, erinnert sich der Zürcher Psychiater Ambros Uchtenhagen. Die überforderte Polizei versuchte das Problem einzudämmen, indem sie den Konsum an bestimmten Orten duldete; so etwa auf dem Zürcher Platzspitz, der schnell den Beinamen „Nadelpark“ erhielt.

In Bern befand sich die offene Drogenszene unmittelbar neben dem Bundeshaus, dem Sitz von Regierung und Parlament. „Die Abgeordneten konnten aus ihren Fenstern den Leuten beim Spritzen zusehen“, erzählt der Psychiater Daniele Zullino. Auch die ehemalige Bundesrätin Ruth Dreifuss, die damals für den Gesundheitsbereich zuständig war, erinnert sich noch gut: „Man hätte meinen können, es handele sich um einen der Dante’schen Höllenkreise. Es hatte sich eine Elendsökonomie mit Prostitution und diversen Formen von Schwarzhandel entwickelt. Es war zum Heulen; die Arbeit der Pflegekräfte vor Ort glich der in einem Kriegsgebiet.“

„Es kam jede Woche zu Todesfällen durch Überdosen“, erzählt der in Bern ansässige Psychiater Robert Hämmig. Das wiederholte Spritzen mit schmutzigem Besteck führte dazu, dass Abszesse entstanden, die notfallmedizinisch versorgt werden mussten. Außerdem stieg die Zahl der HIV-Infektionen rasend schnell. Um die Ausbreitung des Virus einzudämmen, eröffnete die Stiftung Contact 1986 in Bern „den ersten Konsumraum der Welt“, wie Jakob Huber berichtet, der damalige Leiter der Suchtberatungsstelle.

Die Existenz derartiger Räume änderte jedoch nichts am Problem der Beschaffungskriminalität. Thilo Beck, Chefarzt für Psychiatrie am Zürcher Standort des Vereins Arud (Arbeitsgemeinschaft für risikoarmen Umgang mit Drogen), erinnert außerdem daran, dass manche der Abhängigen die Ersatztherapien nicht verkrafteten.

„Wir befanden uns in einer Sackgasse“, resümiert Jakob Huber. „Veränderungen passieren nur dann, wenn das Leid groß und sichtbar ist. Und so haben wir, die Akteure vor Ort, eine Lösung vorgeschlagen.“ Eine radikale Lösung: Menschen, bei denen Ersatztherapien keine Wirkung zeigten, sollten ärztlich verschriebenes Heroin bekommen. Seither hat sich einiges getan. Während 1995 noch 65 Prozent der Schweizer Drogen als ein schwerwiegendes gesellschaftliches Problem betrachteten, sind es heute nur noch 15 Prozent.1

Methadon kam bereits in den 1960er Jahren zum Einsatz

Ruth Dreifuss fügt hinzu: „Wir haben damals eine Plattform geschaffen, auf der sich der Bund sowie die betroffenen Kantone und Städte austauschen konnten.“ Die Sozialdemokratin, die 1999 dem Bundesrat auch als Präsidentin vorsaß, leitet seit 2016 die Weltkommission für Drogenpolitik – ein aus ehemaligen Politikerinnen und Politikern bestehendes internationales Gremium, das sich für eine staatliche Regulierung des Drogenhandels einsetzt. „Der offenen Drogenszene musste ein Ende bereitet werden.“ Auf die legale Abgabe von Heroin seien damals alle Beteiligten „gut vorbereitet“ gewesen, so Dreifuss. Vor allem weil sie auf eine jahrzehntelange Erfahrungen mit der Verschreibung von Methadon zurückgreifen konnten, das in der Schweiz bereits seit den 1960er Jahren als medizinischer Heroinersatz zum Einsatz kam.

Während Gesundheitsfragen in der Schweiz in den Zuständigkeitsbereich der Kantone fallen, ist für Epidemien und Betäubungsmittel der Bundesrat verantwortlich. Am 13. Mai 1992 gab die Regierung grünes Licht für ein fünfjähriges Experiment. Jean-Félix Savary, Generalsekretär des Westschweizer Fachverbands für Suchtforschung (Groupement Romand d’Etudes des Addictions, GREA), erläutert: „Wir verabschiedeten ein temporäres Notstandsgesetz. So sieht schweizerischer Pragmatismus aus: Wir testen eine neue Politik, bevor das Gesetz dauerhaft verändert wird.“

Zur Erklärung dieses Schweizer Pragmatismus führt Savary außerdem die calvinistische Prägung der Eidgenossenschaft ins Feld: „Katholische Länder wie Frankreich haben sichtbar mehr Mühe, Themen wie Drogen oder das Lebensende anzugehen.“

Die damals entwickelte Drogenpolitik beruht auf den vier Säulen: Prä­ven­tion, Therapie, Schadensminderung und Repression. 1994 eröffneten die ersten überwachten Drogenabgabestellen, die meisten von ihnen im deutschsprachigen Teil der Schweiz. Mittlerweile gibt es 22 derartige Zen­tren (eines davon in einem Gefängnis). Gegen den Widerstand der rechtsextremen Schweizerischen Volkspartei (SVP) sowie einzelner Abgeordneter der Liberalen (FDP) und der Christlichdemokratischen Volkspartei (CVP) bestätigte das Schweizer Wahlvolk diese Politik insgesamt dreimal bei Volksentscheiden: 1997, 1999 und zuletzt 2008 mit 68 Prozent Jastimmen für das Viersäulenmodell.

Die positiven Auswirkungen sind nicht zu übersehen. Offene Drogenszenen gibt es seit ihrer Zerschlagung Anfang der 1990er Jahre nicht mehr. „Es gibt quasi keine Kriminalität im Zusammenhang mit Heroin mehr, weil es inzwischen kostenlos zu haben ist“, berichtet Regula Müller, Leiterin der Koordinationsstelle Sucht der Stadt Bern. Jakob Huber von Contact ergänzt: „Die Polizeibehörden begannen uns zu unterstützen, als sie merkten, dass die Kriminalität und die Belästigungen im öffentlichen Raum zurückgingen.“

Die HIV-Rate ist extrem gesunken

Beim Termin mit der Antidrogeneinheit der Berner Polizei zeigt uns der diensthabende Chef Reto Schumacher einen Ausschnitt aus der Berner Zeitung vom 20. Mai 2014: „Inzwischen reichen drei unter einem Vordach gefundene Spritzen für einen Artikel. Als es hier noch eine offene Szene gab, haben wir jede Woche hunderte, wenn nicht tausende davon eingesammelt.“

Zur Untermauerung seiner Aussage zeigt er uns auf seinem Computer Fotos vom Kocherpark, die aus den frühen 1990er Jahren stammen. „Repression allein ist keine Lösung. Ich habe gute Kontakte zu Sozialarbeitern; wir haben zwar nicht die gleichen Ansichten, aber durchaus das gleiche Ziel: die Allgemeinheit entlasten und die Situation der Drogenabhängigen verbessern.“

Entgegen der Hauptbefürchtung der Prohibitionisten ist es zu keinem Anstieg des Heroinkonsums gekommen. Auf junge Menschen besitzt die Droge keinerlei Anziehungskraft mehr: Das Durchschnittsalter der HeGeBe-Patienten liegt bei 45 Jahren.2 „Die Abgabe unter ärztlicher Aufsicht hat das Image von Heroin zerstört“, erklärt Ambros Uchtenhagen. „Es gilt inzwischen als Loserdroge.“

„Durch die PEPS-Zentren haben die Dealer einige ihrer besten Klienten verloren“, ergänzt Frank Zobel, der Vizedirektor der Organisation Sucht Schweiz in Lausanne. „Der Kundenkreis wird älter und stagniert zahlenmäßig, der Verkaufspreis ist niedrig: Der Markt ist für Händler nicht mehr besonders lukrativ.“ Zudem ist die Lebenserwartung der Konsumenten gestiegen. „Die HIV-Rate liegt inzwischen bei 10 Prozent. In den 1990er Jahren waren es 90 Prozent“, führt Daniele Zullino aus. Außerdem sterben kaum noch Menschen an einer Überdosis. Die Zahl der unter 35-jährigen Drogenopfer ist in der Schweiz von 305 im Jahr 1995 auf 25 im Jahr 2015 gesunken.3

Aufgrund einer solchen Bilanz plädieren die Befürworter der liberalen Drogenpolitik dafür, auch das Verbot von Besitz, Konsum und Verkauf zugunsten einer Regulierung aufzuheben. Ob ein Suchtmittel legal oder illegal ist, hängt immer von kulturellen und politischen Erwägungen ab: Ronald Rea­gans „War on Drugs“ etwa lieferte laut Jean-Félix Savary „eine bequeme Erklärung für den Zerfall des sozialen Gefüges in den afroamerikanischen Vierteln der USA. Sie waren fortan nicht mehr Opfer der neoliberalen Politik, der Kürzung von Sozialausgaben, sondern einfach nur Opfer der Drogen.“

„Ein Verbot löst keine Probleme, es ist vielmehr ihre Ursache“, schlussfolgert auch Thilo Beck. Krankheiten, Drogentote, Prostitution, Kriminalität, Exklusion: „Die Illegalität von Heroin zerstört die Abhängige stärker als das Heroin selbst. Natürlich hätten Süchtige nicht damit anfangen sollen, die Droge zu nehmen. Trotzdem brauchen sie Hilfe, anstatt kriminalisiert zu werden.“

Und Jakob Huber betont: „Die beste Prävention­ – egal um welche Droge es geht – ist eine rechtliche Regulierung des Markts wie bei Alkohol und Tabak.“

1 „Sorgenbarometer“, www.credit-suisse.com.

2 „Heroingestützte Behandlung in der Schweiz. Resultate der Erhebung 2016.“ Schweizer Institut für Sucht- und Gesundheitsforschung, Zürich, August 2017.

3 „Drogenbedingte Todesfälle, nach Alter (1995–2005)“, www.suchtmonitoring.ch.

Aus dem Französischen von Richard Siegert

Cédric Gouverneur ist Journalist und Koautor des Comics „Légal. La fin de la prohibition“, Paris (Casterman) 2014.

Le Monde diplomatique vom 11.10.2018, von Cédric Gouverneur