11.10.2018

Legalisierte Anarchie in Attika

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Legalisierte Anarchie in Attika

Im vergangenen Sommer erlebte Griechenland die tödlichste Waldbrandtragödie der letzten Jahrzehnte. Der Feuersturm an der Küste von Rafina war jedoch keine "Naturkatastrophe". Die Voraussetzungen für das Inferno wurden von Menschen geschaffen.

von Niels Kadritzke

Auf der Flucht vor dem Feuer stecken geblieben. Mati, 24. Juli 2018 COSTAS BALTAS/reuters
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Die Tragödie vom 23. Juli dieses Jahres, die 99 Todesopfer forderte, war die größte Waldbrandkatastrophe, die Griechenland in den letzten 40 Jahren erlebt hat. An jenem „schwarzen Montag“ starben in den Ortschaften Mati und Neos Voutzas – nur 30 Kilometer vom Athener Stadtzentrum entfernt – in knapp zwei Stunden mehr Menschen als im gesamten Katastrophensommer 2007. Damals wüteten die Brände in drei Regionen (Attika, Euböa, Peloponnes) über 6 Tage und forderten 70 Todesopfer.

Die Tragödie hat landesweit Bestürzung und Trauer ausgelöst. Aber sie hat auch die Regierung Tsipras in Bedrängnis gebracht, die wegen ihres Krisenmanagements und einer verunglückten Kommunikationsstrategie heftig kritisiert wurde.1 Nach neuesten Umfragen bescheinigen drei von vier Griechen ihrer Regierung, dass sie in dieser Krise ein schlechtes Bild abgegeben hat. Das finden auch 56 Prozent der Befragten, die bei den letzten Wahlen im September 2015 für Tsipras und die Linkspartei Syriza gestimmt haben.2

Dieses negative Urteil trägt dazu bei, dass die Syriza in den Umfragen derzeit um etwa 10 Prozentpunkte hinter der oppositionellen Nea Dimokratia (ND) zurückliegt. Das bedeutet mit hoher Wahrscheinlichkeit, dass nach den nächsten Wahlen, die frühestens im März und spätestens im September 2019 stattfinden werden, die konservative ND allein oder mit einer Koalition regieren wird.

Dass am 23. Juli wichtige staatliche Krisenmechanismen versagt haben, steht außer Zweifel. Dennoch ist die Behauptung, die aktuelle Regierung sei für die Tragödie verantwortlich, in doppelter Hinsicht „ungerecht“.

Zum einen, weil die Feuerwand, die von orkanartigen Winden in Richtung der ostattischen Küste getrieben wurde, durch nichts und niemanden aufzuhalten war. So lautet jedenfalls das einhellige Urteil der Experten und der eingesetzten Feuerwehrleute. Zum anderen aber, weil die schärfste Kritik an der Regierung Tsipras ausgerechnet von den politischen Kräften kommt, die in den letzten Jahrzehnten die Bedingungen für „Natur“-Katastrophen wie Waldbrände, Überflutungen und Erdrutsche geschaffen haben.

Damit sind wir bei der „systemischen“ Dimension der Katastrophe. Die vielen Toten in den Wohngebieten zwischen dem Bergkamm des Pendeli und der ostattischen Küste hätte es nicht gegeben ohne jene infrastrukturelle Ursünde, die seit Jahrzehnten von allen Regierungen ermöglicht, gefördert oder toleriert wurde. Gemeint ist die illegale Bautätigkeit, die unter dem Begriff „avthaireto“ läuft, was „willkürlich“ oder „ordnungswidrig“ bedeutet.

Die Zahl dieser ungenehmigten Bauvorhaben summiert sich im ganzen Land auf etwa 1,4 Millionen. In den meisten Fällen handelt es sich um (häufig beträchtliche) Abweichungen von der Baugenehmigung, in jedem vierten Fall liegt nicht einmal ein Baugesuch vor.

Wie ist es um das Unrechtsbewusstsein der avthaireto-Besitzer bestellt? Drei Tage nach der Katastrophe vom 23. Juli berichteten zwei Reporterinnen der Zeitung Efimerida ton Syntakton (EfSyn) aus Mati, der am schwersten betroffenen Gemeinde. Eine Hausbesitzerin, die mit dem Leben davongekommen war, empörte sich: „So viele Jahre wohne ich hier und zahle Steuern und alles Mögliche sonst. Und warum zahle ich? Damit es einen Staat gibt! Und dann verarschen sie uns alle: die da oben, die jetzt dran sind, und die davor und überhaupt alle. Hatten sie keine Wettervorhersage, keine Vorhersage für die gefährdeten Zonen? Hatten sie keinen Rettungsplan? Wer ist denn dafür zuständig, wenn nicht der Staat? Aber wenn der Staat nur will, dass ich zahle, dann werde ich zur Anarchistin ...“

Die Wut der Frau ist verständlich, ihre Kritik an „dem Staat“ berechtigt. Doch in einem Punkt hat sie unrecht: Sie muss nicht erst zur Anarchistin werden, sie ist es schon. Zumindest wohnt sie in einer Anarchistensiedlung. Anarchie bedeutet „ohne Obrigkeit“, herrschaftsfrei. Im Wortsinne heißt anarchia allerdings „ohne Regeln“. Also „Gesetzlosigkeit“. In diesem Sinne war die Siedlung Mati von Anfang an ein anarchisches Unterfangen.

Die Ortschaft entstand in den 1960er Jahren auf freiem Felde. Städter aus dem nahen Athen kauften große Grundstücke, auf denen sie Sommerhäuser bauten. Als Schattenspender pflanzten sie schnell wachsende, aber leicht entflammbare Kiefern. Mit dem Ausbau der Straße von Rafina nach Marathon dehnte sich die Bebauung rasch ostwärts aus. Direkt an der Küste entstanden die ersten großen Villen, geschützt durch Zäune und Mauern. Große Teile der Uferzone wurden damit zum Meer hin abgesperrt; ungeachtet der Vorschrift, dass alle 50 Meter ein freier Zugang zum Strand existieren muss. Das wurde am 23. Juli, am schwarzen Montag, vielen Menschen zum Verhängnis, die sich vor dem Feuer nicht ins Meer retten konnten.

Der steigende Bedarf der Athener Mittelschichten an Sommerhäusern ließ eine Anlage entstehen, die von keiner raumplanerischen Instanz genehmigt worden wäre. Um mehr Bauplätze zu schaffen, wurde das Land in immer kleinere Parzellen aufgeteilt, die oft hinter dem Hauptgrundstück lagen. Das erklärt, warum viele Häuser nur über Sackgassen von zwei, drei Metern Breite erschlossen sind.

Wie konnte eine solche Wohnsiedlung derart wildwüchsig entstehen? Warum wurde das Ortsgebiet nie in den Bebauungsplan der Großkommune Marathon integriert? Weil die meisten Hauseigentümer von Mati dagegen waren. Dass sie ihre Anarchie nicht aufgeben wollten, hatte offensichtliche Gründe.

Ein Bebauungsplan bedeutet immer, dass die Eigentümer Teile ihrer Grundstücke an die öffentliche Hand abtreten müssen, um den Aufbau einer regulären Infrastruktur (Straßennetz, öffentliche Plätze und Versorgungseinrichtungen) zu ermöglichen.

Doch der wichtigste Grund war, dass bei der Erstellung eines Bebauungsplans der legale Status der Grundstücke erfasst wird. Genau daran hatten die „Anarchisten“ von Mati kein Interesse, wenn ihr Besitz ein avthaireto, also ein „willkürliches oder „ordnungswidrig“ errichtetes Gebäude war.

Das galt zumindest bis 2011. Seitdem ermöglicht ein Gesetz, dass die Besitzer von avthaireta den irregulären Status ihrer Häuser „regeln“ können. Bei kleineren Verstößen gegen die Bauvorschriften sieht das Gesetz eine Geldstrafe vor, bei groben Verstößen droht der Abriss. Der ist zwingend vorgeschrieben, wenn ein Haus im Wald, in einem Naturschutzgebiet, in einem Flussbett oder zu nah am Strand errichtet wurde.

In ganz Griechenland wurden seit 2011 etwa 970 000 Anträge auf Legalisierung von irregulären Bauten eingereicht, davon jeder zehnte in Attika.3

In Mati sind nach Angaben der Technikkammer Griechenlands (TEE) 327 der rund 700 Gebäude als avthaireta registriert. Fast jedes zweite Gebäude wurde also ordnungswidrig errichtet. Wichtiger ist eine andere Zahl: 156 der 327 Gebäude fallen unter die Kategorie 5, bei denen meist gar keine Baugenehmigung vorliegt. Das sind 48 Prozent aller avthaireta. Damit liegt der Anteil der „schweren Fälle“ fast doppelt so hoch wie im Landesdurchschnitt.

Eine weitere Besonderheit: In Mati handelt es sich bei 86 Prozent aller illegalen Strukturen um Ferienhäuser, während in ganz Griechenland etwa 70 Prozent aller gemeldeten avthaireta Erstwohnsitze sind. Der Stadtsoziologe Nikos Belavilas spricht von einem „zweiten Athen“, das sich „anarchisch und planlos“ im Großraum Attika herausgebildet hat. Mati ist für ihn das klassische Beispiel für jene irregulären Siedlungen, die vorwiegend aus Zweithäusern bestehen und die drei Merkmale gemeinsam haben: fehlende Infrastruktur; zu enge Straßen und keine öffentlichen Plätze; zugebaute Strände.

Eine solche Wohnanlage gleicht einem „Pferch“, der im Ernstfall für seine Bewohner zur Falle wird, konstatiert Evthimios Lekkas, Geologieprofessor und Experte für die Vorbereitung auf Naturkatastrophen. Das beantwortet auch die Frage, die unsere Anarchistin von Mati gestellt hat: Hatten „die da oben“ keinen Rettungsplan?

Ein Notfallplan für besonders gefährdete Gebiete ist in Griechenland per Gesetz vorgeschrieben. Eigentlich. Warum wurde ein solcher Plan für Mati nie entwickelt? Die lokalen Behörden und die Experten wussten schon immer, dass dieses Wohngebiet nicht zu evakuieren ist. Eine Falle ist eine Falle, sagt der Waldbrandexperte Gavril Xan­tho­pou­los: „Eigentlich muss der Staat den Bürgern sagen: Ich kann euch nicht schützen, wenn ihr im Wald gebaut habt.“

Natürlich müsste „der Staat“ genau das verhindern. Der griechische Staat tat das Gegenteil. Er hat das illegale Bauen gefördert. Aber allein die Regierungen – jeglicher politischen Couleur – für den Wildwuchs verantwortlich zu machen, greift zu kurz.

Schon vor dem schwarzen Montag von Mati hat der Kolumnist Pantelis Boukalas seine Mitbürger an die „Geschäftsbeziehung“ erinnert, die sie als Wähler mit „ihrem Staat“ eingehen. In der Kathimerini vom 5. Juli verwies er auf eine andere „Naturkatastrophe“, die im November 2017 die Gemeinde Mandras im Westen Attikas „heimgesucht“ hat. Damals waren nach starken Regenfällen 24 Menschen mitten im Dorf in den reißenden Fluten umgekommen. Auch in Mandras schrieben die Betroffenen die Verantwortung ausschließlich der Obrigkeit zu – um sich selbst zu entlasten, wie Boukalas sagt: Sie vergessen ihre Rolle als „Bürger, der zum Kunden wird und sich mit der harten Währung seiner Stimme alle möglichen Dinge erkauft“. Unter anderem die Tolerierung seiner unverantwortlichen Handlungen.

Ein Tauschgeschäft namens Klientelismus

So gesehen ist die Raum-Unordnung in Attika ein „Ausdruck der Gesellschaft selbst“.4 Die Athener Familien, die ein Sommerhaus im Grünen und in Meeresnähe wollten, wählten jahrzehntelang Regierungen, die bei Gesetzesvorstößen beide Augen zudrückten. Ein probates Tauschgeschäft, das man Klientelismus nennt. Dabei blieben die irregulären Bauten nicht nur unangetastet, sie wurden sogar mit öffentlichen Dienstleistungen wie Wasser-, Strom- und Telefonanschlüssen versorgt.

Damit entsteht zwischen Bürgern und Obrigkeit eine schizophrene Beziehung. Ein Mann, der am 23. Juli in Mati sein Haus abbrennen sah, hat dieses gespaltene Verhältnis zu seinem Staat so ausgedrückt: „Sie legen dir Wasser und Strom, und alle drei Jahre machen sie ein Gesetz zur ‚Regelung‘ der avthaireta, und dann sagen sie: ‚Es geschieht dir recht, dass du abgebrannt bist, weil du ja keine Genehmigung hattest.‘ “

Vor fast 20 Jahren hat ein Reporter der Zeitung To Vima die von oben begünstigte Anarchie genau dort recherchiert, wo im Juli 2018 der Feuersturm gewütet hat. Im Februar 1999 beschrieb er die Küstenregion um Rafina und Marathon als einen „Dschungel“, in dem Bauunternehmer und Kommunalpolitiker graue Geschäfte verabreden, die von Konkurrenten, die nicht zum Zug gekommen sind, als „Skandale“ aufgedeckt werden.

Damals wurde ein Strafverfahren gegen den Gouverneur von Ostattika eingeleitet, der 3500 illegalen Häusern den Anschluss an das Wasser-, das Strom- und das Telefonnetz bewilligt hatte. Ermöglicht wurde dies durch eine Ausnahmeklausel im Umweltschutzgesetz von1995, das zum Beispiel für „unheilbar Kranke“ eine Versorgung mit Strom und Wasser erlaubte.

Diese Ausnahmen waren nur für „sozial sensible Fälle“ vorgesehen. Explizit ausgeschlossen waren avthaireta, die in Wald- oder Aufforstungszonen, in einem Flussbett oder direkt am Meer errichtet waren. Dann aber verfügte Umweltminister Kostas Laliotis (Pasok), dass über die „Ausnahmen“ auf lokaler Ebene entschieden wird. Damit war die Ausnahmeklausel ausgehebelt. Zur Bewilligung eines Strom- oder Telefonanschlusses verlangten die örtlichen Behörden lediglich eine schriftliche Versicherung des Antragstellers, dass sein Haus nicht in einer geschützten Küstenzone, in einem Waldgebiet oder einem Bachbett steht.

Auch in Mati fühlten sich die Hausbesitzer durch die Obrigkeit „legalisiert“. Hätten ihnen die Behörden von Ostattika damals Strom und Wasser verweigert, hätten sie Zeter und Mordio geschrien und den menschenfeindlichen Staat verdammt. Denselben Staat, dem sie heute vorwerfen, sie nicht vor dem Höllenfeuer geschützt, gewarnt oder evakuiert zu haben.

Vor der Katastrophe wollen sie den schlanken, besser noch den blinden Staat. Nach der Katastrophe verlangen sie den starken und wachsamen Staat. Wer immer in Griechenland bei einer Katastrophe an der Regierung ist, bekommt den Zorn der „schizophrenen Bürger“ zu spüren. Jetzt wird es die Regierung Tsipras treffen.

Allerdings ist Mitleid mit ihr nicht angebracht. Bis zum 23. Juli haben beide von der Syriza geführten Regierungen das klientelistische Spiel mit den Wählern mitgemacht. Die nationale Umweltkrise – als Resultat der staatlich gebilligten Anarchie – geht damit auch auf das Konto der Tsipras-Regierung.

Es stimmt zwar, dass ihr der heillose Zustand von den Regierungen der Nea Dimokratia und der Pasok hinterlassen wurde. Aber die Syriza-Minister waren im Juli 2018 bereits 30 Monate im Amt. In dieser Zeit haben sie die Bestimmungen zur „Regelung“ von irregulären Bauten übernommen und sogar zugunsten der Hausbesitzer gemildert.

Noch schwerer wiegt, dass auch die Tsipras-Regierung viel zu wenige Abrissbeschlüsse umgesetzt hat. Dabei wäre die konsequente Ahndung krasser Gesetzwidrigkeiten das einzige Mittel gewesen, um von weiteren irregulären Bauvorhaben abzuschrecken. In Attika gibt es etwa 3200 avthaireta, für die eine „rechtskräftige“ Verfügung vorliegt.5 Aber seit Januar 2015 haben lediglich 60 Abrisse stattgefunden. Darüber sind die Umweltexperten der Syriza seit Langem sauer. Ihre Forderung „Schickt die Bulldozer“ wurde von der Regierung ignoriert. Und von örtlichen Parteifunktionären sogar unterlaufen.

Auf spektakuläre Weise geschah dies im September 2015, kurz nach Bildung der zweiten Tsipras-Regierung. Die Provinzverwaltung von Attika, an deren Spitze eine Syriza-Gouverneurin steht, hatte Bulldozer geschickt, um zehn in einem Waldgebiet gebaute Häuser abzureißen. Für die lag seit 2006 ein rechtskräftiges Urteil vor.

Die Aktion wurde von empörten Bürgern und Lokalpolitikern verhindert, die dem Abrisskommando den Weg versperrten. Mit von der Partie war der Syriza-Abgeordnete Giorgos Pan­tzas, der die Abrissverfügung als „Justizirrtum“ bezeichnete und behauptete, Innenminister Kouroumblis habe den Aufschub der Aktion angeordnet (was rechtlich gar nicht möglich war).

Tags darauf legte der Syriza-Minister eine Gesetzesänderung vor, die einer Generalamnestie gleichkam: Alle Abrisse in Attika seien aufzuschieben, bis ein rechtsgültiges Waldkataster erstellt sei. Damit adoptierte Kouroumblis die Taktik der bürgerlichen Parteien und der Kommunen, die das Zustandekommen eines Katasters der bewaldeten und aufzuforstenden Flächen systematisch hintertrieben. Im Herbst 2015 waren in ganz Attika erst 6 von 154 Waldgebieten erfasst, weil die kommunalen Grundbuchämter die Ratifizierung der bereits erstellten Waldkarten jahrelang verweigert hatten.

Gegen den Coup des Innenministers rebellierten allerdings „grüne“ Sy­ri­za-­Abgeordnete. Die Gesetzesänderung wurde auf Geheiß von Tsipras zurückgezogen. Dennoch setzt Kouroumblis die Abrissaktion „vorübergehend“ aus. Seitdem ward in Rafina kein Bulldozer mehr gesehen.

Im Herbst 2015 hat die Tsipras-Regierung eine einmalige Chance verpasst. Die Umsetzung rechtskräftiger Abrissverfügungen hätte Nachahmungstäter nachhaltig abgeschreckt. Noch wirksamer wäre allerdings ein Gesetz, das Experten und Umweltorganisationen seit Jahren fordern. Es müsste nur einen Satz enthalten: „Ein abgebranntes Waldgebiet darf nicht bebaut werden, es ist vielmehr aufzuforsten.“ Punkt.

Ein solches Gesetz wäre ein erster, aber entscheidender Schritt zur Überwindung des Klientelsystems, das die Beziehung zwischen Staat und Gesellschaft seit Gründung des neugriechischen Staats bestimmt.6 Es ist natürlich eine Illusion, dass eine „linke“ Regierung diese resistente Realität von heute auf morgen verändern könnte. Aber sie sollte wenigstens damit beginnen. Zumal, wenn es gilt, „Naturkatastrophen“ zu verhindern, deren Ursachen alles andere als natürlich sind. Dass die Tsipras-Regierung nichts gegen dieses wahrhaft unheilvolle System der avthaireta unternommen und stattdessen die gesetzlosen Zustände sogar noch stabilisiert hat, ist deshalb ein unverzeihliches Versäumnis.

Das gilt nicht nur für Ostattika und die Waldbrände. Auch die schon erwähnte Überflutung des Ortskerns von Mandras im November 2017 hatte eine „menschliche“ Ursache: Das natürliche Bett von zwei Flüssen, die den Ort durchziehen, war seit Langem überbaut oder zubetoniert.

Zu den Gebäuden, die den Ablauf des Wassers verhinderten, gehörten Fabriken, Tankstellen, Mehrfamilienhäuser – und die Garage für den kommunalen Lkw-Fuhrpark. Einer der Hauptsünder war also die Gemeinde selbst. Und die Provinzregierung von Attika, die von der Tsipras-Partei gestellt wird, hatte diese Zustände nie kontrolliert.7

Warten auf die Bulldozer

In vielen Berichten und Vermutungen über das „Versagen“ der Regierung am schwarzen Montag taucht der Vergleich mit dem Fall Mandras auf – und der Hinweis auf die Gefahr, die auch in Mati mit den ersten herbstlichen Regenfluten droht. Denn die illegale Bebauung ist die Hauptursache für die Sommerkatastrophe Waldbrand wie auch für die Winterkatastrophe Überflutung.

Immerhin hat die Regierung inzwischen angekündigt, man werde alle avthaireta abreißen, die in Waldgebieten oder Flussbetten stehen oder den Zugang zur Küste verbauen. „Wenn es sein muss, werden wir hart durchgreifen“, verkündete Tsipras drei Jahre nachdem die Bulldozer in Rafina von einem Syriza-Politiker gestoppt und von der Syriza-Regierung abgezogen worden waren. Jetzt sollen die Bulldozer wieder anrücken. Ist das der Beginn einer neuen Politik?

Die ersten Erläuterungen klangen verwirrend. Am 2. August verwies die Regierung auf die 3200 Bauten in ganz Attika, für die rechtskräftige Abrissverfügungen vorliegen, davon 2500 in Waldgebieten und 700 in der geschützten Küstenzone. Für die Durchführung werde man 5 Millionen Euro bereitstellen. Auf die Frage, wann die Aktion losgehen, meinte Umweltminister Stathakis: „demnächst oder allenfalls in wenigen Wochen“.

Die ersten Bulldozer wurden am 18. September im Westen Attikas aufgefahren. Die Fernsehteams übertrugen live, wie die Beachbar eines Hotels abgeräumt wurde, die gesetzwidrig direkt auf dem Strand errichtet war. Die Abrissverfügung lag seit 1997 vor.

Der Besitzer des Hotels erzählte einem Reporter von Kathimerini, vor einigen Monaten sei ein Beamter der Baubehörde aufgetaucht und habe ihm angeboten, für einen höheren Geldbetrag könne er die Abrissakte „verschwinden lassen“. Sollte das unzüchtige Angebot tatsächlich erfolgt sein, ist es seit dem 23. Juli hinfällig geworden. Nach der Katastrophe von Mati muss der Staat endlich Flagge zeigen. Wie energisch er durchgreift, ist allerdings auch eine finanzielle Frage. Und bekanntlich ist beim griechischen Staat von 2018 das Geld knapp.

Dass Griechenland auch nach dem Ende der Sparprogramme verpflichtet ist, auf viele Jahre hinaus hohe Haushaltsüberschüsse zu erzielen, macht sich nicht nur bei der Ausstattung der Feuerwehr bemerkbar8 , sondern auch bei der „grünen Kasse“ des Umweltministeriums. Deshalb stehen für die Abrisse in diesem Jahr statt der vorgesehenen 5 Millionen Euro nur 1,5 Millionen zur Verfügung. Für Attika müssen 135 000 Euro reichen.

Damit sind – bei geschätzten Kosten von 9000 Euro pro Einsatz – gerade mal 20 Abrisse finanzierbar. Deshalb will man sich auf die haarsträubend illegalen Bauten konzentrieren, zum Beispiel im Flussbett von Mandras.

Eine entscheidende Frage ist auch, wie die Leute vor Ort reagieren. Ein strenges Vorgehen gegen gemeingefährliches Bauen wird zwar von allen Umweltorganisationen gefordert und von fast allen Experten unterstützt, aber keineswegs von einer Mehrheit der „schizophrenen Bürger“. Die werden die Erinnerung an den 23. Juli bald verdrängt haben, wie bei den meisten Natur- und anderen Katastrophen der Vergangenheit. Und sie werden ihren eigenen Anteil an der Verantwortung auf die Tsipras-Regierung abwälzen, in deren Händen die Katastrophe „zufällig“ ihren Lauf nahm.

Vom schwarzen Montag wird am Ende paradoxerweise die heutige Opposition profitieren. Noch im August 2016 hatte der ND-Vorsitzende Kyriakos Mitsotakis den Syriza-Umweltminister aufgefordert, in der Gegend von Marathon 23 Fluren, die als attraktives Bauland gelten, aus dem Waldkataster zu streichen. Zwei Jahre später kann er voller Zuversicht vorgezogene Wahlen fordern, um Tsipras und die Syriza für die Brandkatastrophe zu bestrafen.

Allerdings steht auch die nächste Regierung vor der Frage, was in Mati mit denjenigen abgebrannten Häusern geschehen soll, die ohne Baugenehmigung entstanden sind. Sie wurden nicht von Bulldozern, sondern von den Flammen zerstört. Aber ihre Besitzer tragen eine große Mitverantwortung für das Inferno, das ihnen am schwarzen Montag zum Verhängnis wurde.

1 Das Versagen der Regierung beschreibe ich in meinem Blog-Beitrag vom 13. August 2018 (www.monde-diplomatique.de/blog-nachdenken-ueber-griechenland). Hier finden sich auch Quellennachweise für die Zitate und Daten dieses Textes, der eine gekürzte und aktualisierte Version der Blog-Analyse ist.

2 Nach der letzten Umfrage (Pulse für Skai-TV vom 22. September) bewerten 72 Prozent der Befragten das Krisenmanagement der Regierung negativ und nur 17 Prozent positiv.

3 Die Zahl der Anträge entspricht nicht der Zahl der illegalen Strukturen. Die Dunkelziffer ist jedoch begrenzt, weil ein avthaireto ohne Antrag auf „Regelung“ weder verkauft noch als Banksicherheit verwendet werden kann. Zudem drohen bei Nichtanmeldung härtere Strafen.

4 So Ilias Beriatos, Professor für Umweltplanung in Athen (EfSyn, 30. Juli 2018).

5 EfSyn vom 3. August 2018. Bis zu einer rechtskräftigen Entscheidung vergehen zumeist 7 bis 8 Jahre; etliche Verfügungen liegen schon seit 20 Jahren vor.

6 Siehe meinen Blog-Text vom 14. Oktober 2016.

7 Die Aufsichtsbehörden blieben auch nach der Flut vom November 2017 untätig, worauf es Ende Juni 2018 zu einer neuen Überflutung kam (allerdings ohne Todesopfer).

8 Was der Sparzwang für den Katastrophenschutz bedeutet, wird am Ende meines Blog-Texts vom 13. August 2018 (siehe Anmerkung 1) dargestellt.

Le Monde diplomatique vom 11.10.2018, von Niels Kadritzke