Als Moskau von Europa träumte
von Hélène Richard
Der Zustand der russisch-europäischen Beziehungen macht sich mitunter in unangenehmen Regungen bemerkbar – etwa in einem Kribbeln im Bein, während man in einem Vorraum des russischen Föderationsrats wartet. Senator Alexei Puschkow macht keinen Hehl aus seinem Misstrauen gegenüber den westlichen Medien: „Wenn Sie nur ein, zwei Zitate wollen, haben Sie genau 15 Minuten Zeit“, warnt er. Der ehemalige Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses der Duma (Unterhaus des Parlaments) moderiert seit 20 Jahren die Sendung „Postscriptum“ beim Moskauer Fernsehsender TWZ. Am Ende dauert das Gespräch anderthalb Stunden.
Der frühere Redenschreiber von Michail Gorbatschow beurteilt die Politik seines ehemaligen Mentors im Rückblick als „naiv“. Gorbatschow sei „lediglich ein Experte für Landwirtschaftsfragen innerhalb der Partei gewesen, bevor er an die Macht kam“. Puschkow selbst ist glühender Anhänger der Außenpolitik Wladimir Putins, weshalb er seit der Ukraine-Krise von 2014 auf der Liste von Leuten steht, die nicht mehr in die USA, nach Kanada und Großbritannien einreisen dürfen.
Puschkows Karriere steht sinnbildlich für die Geschichte seines Landes. Gorbatschow wollte Russland wieder in die große Familie europäischer Nationen integrieren. Damit stand er in der Tradition von „Westlern“, die seit Peter dem Großen (1682–1725) auf den Anschluss Russlands an Europa hinarbeiteten – im Gegensatz zu den slawophilen Vorkämpfern eines russischen Sonderwegs. Ende der 1980er Jahre sah es so aus, als könnte diese Orientierung nach Westen allgemein an Akzeptanz gewinnen, womit das leidige Blockdenken auf der internationalen Bühne vorbei gewesen wäre. Ohne das Scheitern dieses Traums von Europa lässt sich die das aktuelle Verhalten Russlands kaum verstehen.1
Bei seinem ersten Auslandsbesuch, in Frankreich im Herbst 1985, prägte Gorbatschow die Formulierung vom „gemeinsamen Haus Europa“. Dass dies in Paris geschah, war kein Zufall. Bereits Charles de Gaulle hatte die Idee eines Europas „vom Atlantik bis zum Ural“ verteidigt: ein „Europa der Vaterländer“, frei von jeglicher Bevormundung, in dem Russland dem Kommunismus entsagt hätte – den der General im Übrigen für eine vorübergehende Erscheinung hielt. Zu de Gaulles Zeiten kam diese Vision für Moskau jedoch kaum in Betracht: Die Sowjetunion hielt damals an der Teilung Europas und insbesondere Deutschlands fest, die das Fundament ihrer Präsenz im Herzen des Alten Kontinents war.
Die Rede vom „gemeinsamen Haus“ setzte auch auf eine Lockerung der Bande zwischen Washington und seinen europäischen Verbündeten, um die USA an den Verhandlungstisch zu zwingen. Aus Sicht Moskaus war es angesichts der hohen Militärausgaben höchste Zeit, das Wettrüsten zu beenden. Das Konzept der friedlichen Koexistenz auf der Basis eines strategischen Gleichgewichts stand ohnehin auf wackeligen Beinen. Zweimal wäre die Welt fast in die Luft geflogen: im September 1983, als Stanislaw Petrow einen vermeintlichen Atomschlag der USA als Fehlalarm erkannte; und zwei Monate später, als die Sowjets das Nato-Manöver „Able Archer 83“ für einen verkappten Angriff hielten.
„Wissenschaftler machten sich gerade daran, das Szenario vom ,nuklearen Winter‘ zu erforschen“, erinnert sich Puschkow. „Ich gehörte zu denen, die den Kalten Krieg beenden wollten.“ Auch Gorbatschow und US-Präsident Ronald Reagan waren sich bei ihrem ersten Treffen in Genf im November 1985 einig, dass ein Atomkrieg nur Verlierer haben würde.
Gorbatschow wollte ein gemeinsames Haus Europa
Im Oktober 1986 bei ihrem zweiten Treffen in Reykjavík unterbreitete Gorbatschow den mutigen Vorschlag, innerhalb von fünf Jahren die nuklearen Arsenale um die Hälfte zu reduzieren und sie binnen weiterer fünf Jahre ganz zu vernichten. Reagan stimmte zu, beharrte jedoch auf dem Aufbau eines (nie realisierten) weltraumgestützten Raketenschutzschilds. Aus sowjetischer Sicht kam das der Ansage eines neuen Wettrüstens gleich.
Um die Spirale des Misstrauens zu durchbrechen, machte Gorbatschow einseitige Zugeständnisse. Der Washingtoner Vertrag über nukleare Mittelstreckensysteme vom 8. Dezember 1987 sah die Vernichtung von 1846 sowjetischen Raketen vor – mehr als doppelt so viele, wie auf Seiten der USA liquidiert werden sollten.
Das Konzept vom „gemeinsamen Haus Europa“ erlangte 1988 aufgrund der Probleme innerhalb des sozialistischen Blocks strategische Bedeutung. Die sowjetische Planwirtschaft war in den Augen Gorbatschows nur noch mit der Zulassung von Privateigentum und einer teilweisen Öffnung in Richtung Markt vor dem Zusammenbruch zu retten. Die Forderungen nach mehr Demokratie in Osteuropa bestärkten ihn darin, dass auch eine politische Öffnung alternativlos war. Der Exdiplomat Wladimir Lukin erwartete damals eine „Rückkehr nach Europa“ und damit in eine Zivilisation, „an deren Peripherie wir lange verharrt hatten“ (siehe Kasten).
Auch Alexander Samarin, erster Botschaftsrat Russlands in Paris, sagt heute: „Das System war am Ende, und es gab keinen Zweifel daran, dass der Kommunismus abgeschafft werden musste.“ Er erinnert daran, dass sein Land, das seit 1998 der Welthandelsorganisation (WTO) angehört, mittlerweile „kapitalistisch“ und „antiprotektionistisch“ ist. Ein anderer Exdiplomat, der anonym bleiben will, meint rückblickend: „Allen war klar, dass wir in einer Sackgasse steckten. Aber niemand dachte, dass wir solche Zugeständnisse machen müssten.“
Seit der Niederschlagung des „Prager Frühlings“ 1968 betrachtete Gorbatschow die „Breschnew-Doktrin“ über die begrenzte Souveränität der „Bruderstaaten“ als hinfällig.2 Er unterstützte Reformer und lehnte militärische Interventionen ab. So auch nach dem Mauerfall: Gorbatschow befürwortete die Idee eines neutralen Deutschlands (oder einer Doppelmitgliedschaft in der Nato und im Warschauer Pakt), eingebettet in eine gesamteuropäische Sicherheitsstruktur auf Basis der 1975 gegründeten Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE).
Die Gründungsurkunde der KSZE, die von 35 Staaten unterzeichnete Schlussakte von Helsinki, war Resultat eines Tauschgeschäfts zwischen den beiden Blöcken und zugleich der Gipfel der Entspannungspolitik; bevor 1979 die Ost-West-Spannungen aufgrund der sowjetischen Intervention in Afghanistan wieder zunahmen.
Die Länder des Westens bekräftigten in der Schlussakte das von Moskau beharrlich verteidigte Prinzip der Unverletzlichkeit der Grenzen, womit sie auch die deutsche Teilung sowie die sowjetische Gebietserweiterungen in Zentral- und Osteuropa anerkannten. Im Gegenzug verpflichtete sich der Ostblock zur stärkeren Respektierung der Menschenrechte und Grundfreiheiten. Als einziges dauerhaftes Gremium, in dem die USA, Kanada, die Sowjetunion und alle europäischen Länder zusammenkamen, war die KSZE in den Augen Moskaus der Grundstein für eine Annäherung zwischen den beiden Europas.
1990 war Gorbatschow nicht der Einzige, der sich für eine gesamteuropäische Lösung aussprach. Viele der neuen osteuropäischen Machthaber waren pazifistisch geprägte Exdissidenten und wollten nicht direkt ins westliche Lager wechseln, sondern eine neutrale, entmilitarisierte Region aufbauen. Der frisch gewählte tschechoslowakische Präsident Václav Havel brüskierte die USA mit seiner Forderung nach einer Auflösung der beiden Militärbündnisse und einem Abzug aller ausländischer Truppen aus Zentraleuropa. Ähnlich irritiert war Bundeskanzler Helmut Kohl über Äußerungen des DDR-Ministerpräsidenten Lothar de Maizière, der ein neutrales Deutschland befürwortete.
Mitterrand war gegen die Osterweiterung der Nato
In Polen, dem ersten Ostblockland, in dem nichtkommunistische Parteien zur Wahl antreten durften, unterstützte Staatspräsident Jaruzelski den Vorschlag Gorbatschows, die Truppen des Warschauer Pakts in Ostdeutschland bis zur Gründung einer gesamteuropäischen Sicherheitsstruktur aufzustocken. Erst im Februar 1991 wurde diese Option hinfällig, als sich Ungarn, Polen und die Tschechoslowakei zur Visegrád-Gruppe zusammenschlossen: Aus Angst vor einem Gegenschlag Moskaus waren sie bereit, unter den schützenden Schirm der USA zu flüchten.
Die politischen Eliten Westeuropas wiederum standen vor dem Problem, wie man die Grundlagen für ein neues, von Washington unabhängigeres Großeuropa schaffen konnte, ohne die Existenz der Nato infrage zu stellen. François Mitterrand wollte das wiedervereinigte Deutschland in ein erweitertes europäisches Sicherheitssystem integrieren und auch für Russland einen Platz freihalten. „Das Europa, das wir seit einem halben Jahrhundert kennen, ist Geschichte“, sagte er in seiner Neujahrsansprache am 31. Dezember 1989. „Gestern noch war es abhängig von den beiden Supermächten. Nun wird es zu seiner eigenen Geschichte und seiner eigenen Geografie zurückkehren, so wie man zu sich nach Hause zurückkehrt.“
In diesem Sinne glaubte Mitterrand, im Lauf der 1990er Jahre werde – auf der Basis des Helsinki-Abkommens – eine echte europäische Konföderation entstehen, die „alle Staaten unseres Kontinents“ vereint. Um die Sowjetunion nicht zu isolieren, dachte er an ein Europa der „konzentrischen Kreise“: eine um die ehemaligen Ostblockstaaten erweiterte gesamteuropäische Struktur mit einem „aktiven Kern“, bestehend aus den damals zwölf Mitgliedstaaten der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG). Auch Margaret Thatcher wollte Deutschland – angesichts seines absehbaren Machtzuwachses – in den europäischen Rahmen einspannen. Im Februar 1990 wies sie ihren Außenminister Douglas Hurd an, sich in den Verhandlungen für einen „erweiterten europäischen Bund“ einzusetzen, „dem die osteuropäischen Länder und langfristig auch die Sowjetunion angehören“.3
Diese zeitweilige Übereinstimmung konnte Gorbatschow jedoch nicht zu seinen Gunsten nutzen. Bestärkt durch den Sieg der CDU bei den ersten freien Wahlen in der DDR, plädierte Helmut Kohl für eine glatte Einverleibung der DDR durch die BRD. Die Zeit arbeitete für Kohl und seinen wichtigsten Verbündeten, US-Präsident George H. Bush. Die Sowjetunion benötigte Geld; und da Washington seinen alten Feind unmöglich selbst finanzieren konnte, gebot man der Bonner Regierung, sich großzügig zu zeigen. Deutschland sagte der UdSSR 13,5 Milliarden D-Mark zu, um damit den Abzug ihrer Truppen zu finanzieren.
Mit dem Vertrag zur Reduzierung strategischer Waffen (Strategic Arms Reduction Treaty, START) erreichte der Westen 1991 eine drastische Verringerung des sowjetischen Atomwaffenarsenals. Dann kollabierte eine „Volksdemokratie“ nach der anderen. Als Gorbatschow beim Londoner G7-Gipfel im Juli 1991, wenige Tage nach Auflösung des Warschauer Pakts, finanzielle Unterstützung forderte, gab es keinerlei konkrete Angebote.
Der Zusammenbruch der Sowjetunion im Dezember 1991 bedeutete für das gesamteuropäische Projekt das endgültige Aus. 1997 wurden die ersten ehemaligen Volksdemokratien in die Nato integriert, 2004 auch die baltischen Exsowjetrepubliken (siehe Karte). Die Aufnahme in die EU erfolgte in zwei Schüben, 2004 und 2007.
1993 empörte sich Mitterrand über die Osterweiterungspläne der Nato, da ihm eine eher politische als militärische Allianz vorschwebte. Auch in den USA warnten einige Stimmen, dass die Expansionsdynamik auf russischer Seite genau die nationalistische Reaktion auslösen könnte, die es zu verhindern galt. Sogar George F. Kennan, der geistige Vater der Containment-Politik (zur Eindämmung des „sowjetischen Imperialismus“), befand 1997: „Die Ausweitung der Nato war der verhängnisvollste Fehler der amerikanischen Politik in der gesamten Ära nach dem Kalten Krieg.“
Kennan prophezeite, dass sich diese Entscheidung „nachteilig auf die Entwicklung der russischen Demokratie auswirken“ werde, indem sie „die Atmosphäre des Kalten Kriegs“ wiederbelebte. In Moskau werde man die Entscheidung der Nato als „Zurückweisung durch den Westen“ verstehen und bemüht sein, Sicherheitsgarantien in Zukunft von anderer Seite zu erhalten.4
Auch Jack Matlock, US-Botschafter in Moskau zwischen 1987 und 1991, kritisierte rückblickend, viele US-Politiker hätten das Ende des Kalten Kriegs als einen militärischen Sieg betrachtet. Dabei hätte die Hauptfrage damals lauten müssen, „wie die Vereinigten Staaten die Unabhängigkeit der Länder Zentraleuropas gewährleisten können und zugleich ein Sicherheitssystem für Europa entwerfen, das den Europäern die Hauptverantwortung für die Zukunft ihres Kontinents überträgt“.5
In den 1990er Jahren war das vom wirtschaftlichen und sozialen Chaos geschwächte Russland außerstande, seine geopolitischen Interessen zu verteidigen. Dass seine Reaktionen so zaghaft ausfielen, hatte jedoch auch mit dem Bestreben zu tun, seinen Supermachtstatus durch eine enge Partnerschaft mit den USA zu bewahren. In dieser Hinsicht gab es auch hoffnungsvolle Anzeichen: Moskau konnte mit dem Segen Washingtons seine in den ehemaligen Sowjetrepubliken gelagerten Atomwaffen sicherstellen; Russland behielt seinen Sitz im UN-Sicherheitsrat und wurde 1998 in die G7, den Club der kapitalistischen Großmächte, aufgenommen.
„Damals herrschte eine euphorische Stimmung“, erinnert sich Anatoli Adamischin, sowjetischer Vizeaußenminister von 1986 bis 1990. „Wir glaubten, wir säßen ein einem Boot mit dem Westen.“ Die russische Führungsriege nahm die Nato-Osterweiterung zunächst nicht als militärische Bedrohung war. Sie war vor allem darauf bedacht, die drohende Isolation des Landes zu verhindern. Im Dezember 1991 äußerte Boris Jelzin erstmals den Wunsch, „auf lange Sicht“ der Nato beizutreten. Sein Außenminister Andrei Kosyrew dachte darüber nach, das Bündnis den Entscheidungen der KSZE unterzuordnen, die damals gerade in die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) transformiert wurde.
Die ohne UN-Mandat erfolgte Nato-Intervention in Exjugoslawien 1999 führte Russland den eigenen Machtverlust vor Augen. Der Nordatlantikpakt wirkte auf Moskau wie der bewaffnete Arm eines selbstgewissen Siegers, der seine Macht auch außerhalb seiner Einflussgebiets geltend machen wollte. „Die Bombardierung Belgrads durch die Nato war eine herbe Enttäuschung für alle, die wie ich an das Projekt eines ,gemeinsamen Hauses Europa‘ glaubten“, berichtet Juri Rubinski, der von 1987 bis 1997 als Botschaftsrat in Paris tätig war. „Die durch Gorbatschow ausgelöste Europa-Begeisterung wirkte trotzdem noch viele Jahre fort.“
Der Amtsantritt des ehemaligen KGB-Agenten Wladimir Putin im Jahr 2000 gilt gemeinhin als Bruch mit der Jelzin-Ära, die vermeintlich prowestlicher und demokratischer war. Dabei wird jedoch übersehen, dass Putin in seiner ersten Amtszeit einen durchaus europafreundlichen Vorstoß unternahm. In seiner Rede im Deutschen Bundestag am 25. September 2001 forderte er Europa auf, es solle „seine eigenen Möglichkeiten mit den menschlichen, territorialen und natürlichen Ressourcen Russlands sowie mit den russischen Wirtschafts-, Kultur- und Verteidigungspotenzialen vereinigen.“
Nach den Terroranschlägen vom 11. September schlug Russland ein von der Anti-Hitler-Koalition des Zweiten Weltkriegs inspiriertes Bündnis gegen Terrorismus vor. Als Antwort kündigten die USA zwei Monate später den Ausstieg aus dem ABM-Vertrag an, den Breschnew und Nixon 1972 unterzeichnet hatten. Damit war klar, dass die USA erneut nach militärischer Überlegenheit strebten.
Putin schlug einen Sicherheitspakt vor
Diesen Unilateralismus verurteilte Putin im Februar 2007 auf der Münchner Sicherheitskonferenz: „Man versucht uns neue Demarkationslinien und Mauern aufzudrängen.“ 2008 setzte er dann seine Truppen in Marsch, um die Offensive des georgischen Präsidenten gegen Südossetien zu stoppen. Indirekt ging es bei der Intervention auch darum, eine Ausdehnung der Nato in den Kaukasus zu unterbinden. Putin blieb dennoch gesprächsbereit und schlug im November 2009 sogar einen europäischen Sicherheitsvertrag vor. Das Angebot wurde ignoriert.
Während Russland mit einigen ehemaligen Sowjetrepubliken (Kasachstan, Kirgistan, Tadschikistan, Armenien, Ukraine und Weißrussland) das Projekt eines regionalen Wirtschaftsbündnisses vorantreibt, stößt es im Osten Europas damit auf Ablehnung. Doch auch dieses Vorhaben bedeutet nicht, dass Moskau der EU den Rücken zukehrt, die nicht nur sein wichtigster Handelspartner ist, sondern auch der Hauptabnehmer von russischem Gas. Dank der Gaslieferungen glaubt man, bessere Bedingungen für eine Partnerschaft mit der EU aushandeln zu können.
Die Russen halten den Europäern bis heute vor, sie bei den Gesprächen über das EU-Assoziierungsabkommen mit der Ukraine ausgeschlossen zu haben. Moskau war der Meinung, aufgrund seiner historischen und wirtschaftlichen Beziehungen mit Kiew hätte es in diese Verhandlungen einbezogen werden müssen. In Europa ist man anderer Meinung. „Schon die Vorstellung eines russischen Einflussgebiets wird als illegitim angesehen“, schreibt der britische Politikwissenschaftler Richard Sakwa. „Wie die legitimen Interessen Russlands aussehen und wie es diese äußern darf, ist hingegen weiterhin unklar.“6
„Die paneuropäische Strömung ist seit der Krim-Frage gespalten“, räumt Juri Rubinski ein. Die Führung in Moskau hegt keine Illusionen mehr, erneut eine privilegierte Beziehung zu Europa aufbauen zu können, solange die Europäer auf der Linie der USA liegen. Voraussetzung für einen neuen Anlauf wäre ohnehin, dass Moskau als ebenbürtiger Partner anerkannt wird.
Das war bislang nicht der Fall. Was Russland angeboten wurde, resümiert Richard Sakwa, war nicht etwa eine wichtige Rolle im transformierten und erweiterten „Greater West“, sondern lediglich „ein Beitritt zum historischen Westen, und zwar mit subalternen Status“. Genau das will Moskau heute nicht mehr: „Wir werden niemanden anflehen“, sagte Außenminister Sergei Lawrow mit Blick auf die 2014 erlassenen Wirtschaftssanktionen der EU, nachdem er sich im Februar 2018 mit seinem belgischen Amtskollegen getroffen hatte. Sollte es also tatsächlich zu einer neuen Partnerschaft kommen, hätte sie nichts mehr mit Gorbatschows Vision einer Rückkehr nach Europa gemein.
„Die Welt hat sich verändert. Die Zeiten der Blöcke und festen Bündnisse sind vorbei“, sagt Fjodor Lukjanow, Chefredakteur der Fachzeitschrift Russia in Global Affairs. Ähnlich sieht es auch Botschaftsrat Alexander Samarin: „Falls die Europäer sich besinnen, wären wir immer noch bereit, ein Großeuropa aufzubauen. Wir können uns zum Beispiel gut eine Annäherung und Harmonisierung zwischen Europäischer Union und Eurasischer Union vorstellen.“
Russland betrachtet Europa heute nach wie vor als wichtigen Partner, aber nicht mehr als historisches Schicksal. Für Lawrow ist und bleibt die russische Kultur „ein Zweig der europäischen Kultur“. Dennoch sei es heute nicht mehr möglich, zwischen Russland und der EU ähnliche Beziehungen wie zur Zeit des Kalten Kriegs zu entwickeln, als diese im Zentrum des Weltgeschehens standen: „Wir müssen die gewaltigen Prozesse im Asien-Pazifik-Raum, im Nahen Osten, in Afrika und in Lateinamerika zur Kenntnis nehmen.“7
Russland sieht sich selbst als wichtigen Akteur in einer multipolaren Welt. Die EU hat seit Eurokrise und beschlossenem Brexit in den Augen vieler Russen an Attraktivität verloren. Und über Donald Trumps Drohungen, die Bande zwischen Europa und den USA zu kappen, können sie sich nur amüsieren. „Wer will schon ein sinkendes Schiff betreten“, meint in seinem Pariser Büro Gilles Rémy, Leiter eines Beratungsunternehmens für französische Investoren in der ehemaligen Sowjetunion. „Die Russen sind von Begeisterung zu Mitleid übergegangen.“
Glaubt man Putins persönlichem Berater Wladislaw Surkow, so bedeutete die Krim-Annexion für Russland „den Abschluss seiner epischen Reise gen Westen, das Ende seiner vielen vergeblichen Versuche, in die westliche Zivilisation aufgenommen zu werden, in die ,gute Familie‘ der europäischen Völker einzuheiraten.“ Das heutige Russland hat seine „geopolitische Einsamkeit“ angenommen.
Aus dem Französischen von Richard Siegert
Falsche Versprechen
von Hélène Richard
Wladimir Putin ließ seiner Empörung über die westlichen Staats- und Regierungschefs freien Lauf: „Sie haben uns ein ums andere Mal betrogen, Entscheidungen hinter unserem Rücken gefällt, uns vor vollendete Tatsachen gestellt. So war es bei der Nato-Osterweiterung und beim Aufbau militärischer Infrastrukturen an unseren Grenzen.“ Das Zitat stammt aus der Rede vom 18. März 2014, in der Russlands Präsident die Annexion der Krim rechtfertigte.
Die Entgegnung der Nato folgte kurz darauf in der Nato Review durch Michael Rühle, Leiter des Referats Energiesicherheit, der den „Mythos“ eines „angeblichen Versprechens“ entzauberte: „Es gab nie politische oder rechtlich bindende Zusagen des Westens, die Nato nicht über das wiedervereinigte Deutschland hinaus nach Osten auszuweiten.“ Entscheidend ist dabei das Wort „bindend“. Dank kürzlich freigegebener Dokumente lässt sich die Diskussion von damals nachzeichnen und der Umfang der politischen Verpflichtungen ausloten (siehe: „Nato Expansion: What Gorbachev Heard“).
Am 9. November 1989 fiel die Berliner Mauer. Die Debatte über ökonomische Reformen in der DDR entwickelte sich schnell zu einer Debatte über eine Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten – wenig später stand bereits ein Nato-Beitritt Gesamtdeutschlands zur Diskussion. In dieser Übergangsperiode gaben alle europäischen Staats- und Regierungschefs vor, in besonderem Maße auf Gorbatschow Rücksicht zu nehmen; ebenso US-Außenminister James Baker. Am 9. Februar 1990 bekräftigte Baker, in den 2+4-Gesprächen das Verbot einer Nato-Erweiterung vereinbaren zu wollen: „Die Jurisdiktion der Nato wird sich nicht einen Zentimeter ostwärts bewegen“, beteuerte er insgesamt dreimal.
Diese Zusicherung stand in einem besonderen Kontext. Baker hatte Gorbatschow nämlich gefragt, was ihm im Fall einer Wiedervereinigung lieber wäre, „ein vereinigtes Deutschland außerhalb der Nato und ohne US-Streitkräfte oder ein vereinigtes Deutschland, das seine Verbindung zur Nato aufrechterhält, aber mit der Garantie, dass die Nato sich nicht über die derzeitige Grenze nach Osten ausbreiten wird.“ Gorbatschow hatte erwidert, „es verstehe sich von selbst, dass jedwede Ausdehnung der Nato-Zone inakzeptabel ist.“
Einen Tag später, am 10. Februar 1990, reiste Helmut Kohl nach Moskau, um Gorbatschow ebenfalls zu beruhigen. „Wir gehen davon aus, dass die Nato ihren Aktionsradius nicht ausweitet“, versicherte der Bundeskanzler und fügte hinzu: „Ich kann die Sicherheitsinteressen der Sowjetunion gut nachvollziehen.“
Dass all diesen Zusagen keine schriftliche Vereinbarung folgte, hat Wladimir Putin seinem Vorgänger in einem Interview mit Oliver Stone vorgehalten: „Das war ein großer Fehler. Gorbatschow hat lediglich mit ihnen gesprochen und ist davon ausgegangen, dass diese Worte ausreichen. Aber so läuft es nicht, in der Politik muss man alles aufschreiben.“
Die einzige schriftliche Zusage erfolgte im Rahmen des 2+4-Vertrags, der am 12. September 1990 in Moskau unterzeichnet wurde. Sie bezog sich jedoch nicht auf die Erweiterung der Nato allgemein, sondern nur auf das Gebiet der ehemaligen DDR nach Abzug der sowjetischen Truppen: „Ausländische Streitkräfte, Atomwaffen oder Trägersysteme werden in diesem Teil Deutschlands weder stationiert noch dorthin verlegt.“
Da die Deutschen befürchteten, die Sowjets könnten doch noch ihre Unterschrift verweigern, fügten sie eine Zusatzklausel an: „Alle Fragen in Bezug auf die Anwendung des Wortes ‚verlegt‘ werden von der Regierung des vereinten Deutschlands in einer vernünftigen und verantwortungsvollen Weise entschieden, wobei sie die Sicherheitsinteressen aller Vertragspartei berücksichtigen wird.“
Diese Vereinbarung galt exklusiv für das vereinte Deutschland. Über den weiteren Weg anderer Länder des Warschauer Pakts wurden keine schriftliche Vereinbarung getroffen. ⇥Philippe Descamps