13.09.2018

Tödliche Belagerungen

zurück

Tödliche Belagerungen

Assad und seine Helfer wie auch die US-Koalition gegen den IS setzten auf die Einkesselung des Gegners

von Patrick Cockburn

November 2013: Kämpfer der Freien Syrischen Armee (FSA) in Rakka NOUR FOURAT/reuters
Audio: Artikel vorlesen lassen

Die Straße nach Rakka führt durch eine überraschend idyllische Landschaft. Die einstige De-facto-Hauptstadt des Islamischen Staats (IS) in Syrien liegt in einer weiten Ebene, die sich nördlich des Euphrat erstreckt. Als wir uns der Stadt nähern, müssen wir mehrmals anhalten, weil Schafherden die Straße blockieren.

Uns erscheint es wie ein mutmachendes Zeichen der Rückkehr zur Normalität. Aber die Einheimischen klären uns auf, dass die Schäfer ihre Herden hier aus weniger erfreulichen Gründen weiden lassen: Vor 2011 waren dies bewässerte Anbauflächen. Aber nach sechs Jahren Krieg gibt es in den Bewässerungskanälen gar kein oder nur stehendes Wasser, weil niemand die Kanäle instand hält und weil es keinen Strom gibt, um das Wasser vom Euphrat in das Kanalnetz zu pumpen. Die gigantischen Getreidesilos rechts und links der Straße stehen ungenutzt da, einige sind durchlöchert von Bomben- oder Granattreffern.

Je weiter wir nach Rakka hineinfahren, desto schlimmer wird das Bild der Zerstörung. Die meisten der wenigen noch intakten Häuser hat die SDF (Syrian Democratic Forces) in Beschlag genommen. Die SDF ist die kurdisch-arabische Armee, die Rakka im Oktober 2017 nach viermonatiger Belagerung einnehmen konnte, mit Unterstützung durch die US-Luftwaffe. Sie besteht zu gleichen Teilen aus Arabern und Kurden, aber alle Kommandeure, die wir trafen, waren Kurden.

Vor dem Krieg hatte Rakka rund 300 000 Einwohner, einige der Flüchtlinge sind zurückgekehrt. Auf den Straßen ist dennoch fast niemand zu sehen. Hinter einem SDF-Wachposten arbeitet sich eine alte Frau durch die Trümmer eines zerbombten Gebäudes, auf der Suche nach Metallstücken, die sie verkaufen kann. Einer ihrer Söhne wurde durch eine Mine getötet, erzählt sie, und dass sie Geld braucht, um für seine Frau und seine Tochter Essen zu kaufen.

Im Zentrum von Rakka sind alle Gebäude zerstört oder irreparabel beschädigt: Einige haben direkte Bombentreffer abbekommen, andere bestehen nur noch aus Fassaden. Doch ab und zu gibt es Spuren von Leben: ein paar Leute vor einem Laden, der Tee und Falafel verkauft; ein kleiner Generator, der die einzige funktionierende Verkehrsampel von Rakka mit Strom versorgt. Etwas weiter liegt der Al-Naim-Platz; hier hat der IS seine Hinrichtungen veranstaltet und die Köpfe seiner Opfer auf einem Metallzaun aufgespießt.

Der IS (arabisches Akronym: Daesh) ist verschwunden, nicht aber die Atmosphäre des Terrors, die er während seiner vierjährigen Herrschaft erzeugt hat. Die Angst wird bleiben, hören wir immer wieder: „Daesh ist in unseren Herzen und Gedanken.“ Die Furcht ist verständlich, aber die Bedrohung ist wohl eher langfristig als unmittelbar. Die SDF-Kommandeure berichten, dass der IS keine Guerillaangriffe unternimmt; und die Gerüchte über „Schläferzellen“ erweisen sich stets als Legenden.

Allerdings sind die SDF-Offiziere Kurden, die eine arabische Stadt kontrollieren. Sie wissen, dass das nicht von Dauer sein kann und sie nicht immer die Möglichkeit haben werden, Luftunterstützung von den USA anzufordern. Selbst wenn der IS nicht zurückkommt, bleibt Rakka mit seiner Lage am Euphrat-Ufer stets gefährdet, weil es zwischen zwei gegnerischen Lagern eingekeilt ist: den von den USA unterstützten Kurden im Westen und den Assad-Truppen im Osten, die Russland und Iran auf ihrer Seite haben.

Viele andere Städte in Syrien und im Irak liegen ebenfalls nach langer Belagerung in Schutt und Asche, wie der Vorort Daraya bei Damaskus oder die Altstadt von Mossul. Aber in Rakka erstreckt sich die Zerstörung auf die gesamte Stadt. Es gibt keinen Ort mehr, der als Basis für den Neuaufbau dienen könnte. Die UN-Leute sagen, dass es schwierig ist, Gebäude für die Verteilung von Hilfsgütern zu finden, der IS habe überall Sprengfallen hinterlassen. Aus demselben Grund lässt sich die Stromversorgung nicht wiederherstellen. Obwohl die Belagerung seit Monaten beendet ist, ist von Wiederaufbau nichts zu sehen.

Rakka – 35 000 Granaten auf das Stadtgebiet

„Nach dem Krieg waren wir alle bei null, und bei null sind wir noch immer“, sagt ein arabischer Arzt. Es gibt keine Impfstoffe, und nur ältere Frauen und Kinder erhalten die Erlaubnis, auf das von den syrischen Regierungstruppen gehaltene Südufer des Euphrat überzusetzen, um sich in einem Krankenhaus in Damaskus behandeln zu lassen. „Das Regime glaubt, dass hier jeder ein Terrorist ist“, meint der Arzt. Und ein Kurde, der für die Araber wenig übrighat, behauptet: „In Rakka waren sie schon immer Faschisten.“

Die SDF und die von den USA organisierten Koalitionstruppen gingen anscheinend davon aus, dass in einer Stadt, die länger als alle anderen vom IS besetzt war, der Rückhalt für die Islamisten besonders groß war – und die Bevölkerung daher ihr Schicksal verdient habe. Die Frontsoldaten der SDF haben immer wenn sie auf Widerstand stießen, alliierte Luftunterstützung angefordert. Während der Belagerung schlugen im Stadtgebiet 35 000 Artilleriegranaten ein, sagt ein US-Offizier. Inzwischen hat man neun Massengräber entdeckt, von denen nur eines geöffnet wurde. 553 Toten fand man darin: zivile Bombenopfer, IS-Kämpfer und vermutlich Patienten eines nahe gelegenen Krankenhauses.

Die Koalitionstruppen behaupten trotz aller gegenteiligen Beweise, sie hätten in Rakka wie in Mossul versucht, zivile Opfer zu vermeiden. In Mossul konnten das Militär noch argumentieren, die schweren Verluste unter der Zivilbevölkerung seien unvermeidlich gewesen, weil der IS bis zum bitteren Ende gekämpft und versucht habe, jede flüchtende Person zu töten.1 Aber für Rakka gilt dieses Argument nicht. Hier endete die Belagerung mit einer grausamen Wendung: Die Bewohner der Stadt erwarteten, dass man sie im Zuge des Waffenstillstands mit Bussen evakuieren würde, stattdessen wurden die IS-Kämpfer mit ihren Familien weggebracht.

Dieser Deal zwischen den überlebenden IS-Kämpfern und den Belagerungstruppen ist in einem Bericht von Amnesty International vom 5. Juni 2018 dokumentiert.2 Daraus geht hervor, dass es Anfang Oktober 2017, als der IS in einem Stadtviertel eingekesselt war und die dortigen Zivilpersonen an der Flucht hinderte, bereits Versuche gab, einen Waffenstillstand auszuhandeln. Diese wurden jedoch von ausländischen (vor allem saudischen und tunesischen) IS-Milizionären torpediert, als sie herausfanden, dass nur syrische Kämpfer die Stadt unbehelligt verlassen sollten. Da die ausländischen IS-Kämpfer befürchteten, allesamt exekutiert zu werden, brachen sie den Waffenstillstand und nahmen die SDF mit MGs und Mörsern unter Feuer. Am 14. Oktober kam ein zweites Waffenstillstandsabkommen zustande. Die Koalition und die SDF präsentierten es als humanitäre Vereinbarung mit dem Ziel, „das Risiko ziviler Opfer zu verringern“. In Wirklichkeit geschah das Gegenteil: Es waren die IS-Kämpfer, einschließlich der Saudis und Tunesier, mitsamt ihren Waffen und ihrer Munition, die in andere IS-kontrollierte Gebiete des Landes transportiert wurden.

In dem Amnesty-Bericht wird eine Mutter von zwei Kindern namens Jamila zitiert: „Als wir hörten, dass es einen Waffenstillstand gibt und wir Rakka verlassen dürfen, dachten wir, dass das für uns gilt; aber als die Busse kamen, merkten wir, dass sie für Daesh da waren. Wir mussten selbst sehen, wie wir aus der Stadt kamen.“ Nach solchen Erfahrungen haben die Menschen in Rakka das Gefühl, dass sich niemand um sie schert. Sie sagen, sie haben Angst vor allen: vor dem IS, vor den Kurden und vor Assad.

Rakka ist nur ein Beispiel. Eine lange anhaltende Belagerung wie diese ist typisch für das militärische Geschehen in Syrien und im Irak. Belagerer und Belagerte waren von Ort zu Ort verschieden: mal die syrische und die irakische Armee, mal die kurdische SDF, mal der IS oder syrische Oppositionsgruppen, mal die Milizen der irakischen Schiiten und die libanesische Hisbollah. Gewinnen konnten die Belagerungstruppen aber immer nur mit Unterstützung aus der Luft, durch Artillerie und durch Militärberater, die ihnen jeweils entweder von der US-geführten Koalition, von Russland oder von Iran gestellt wurden.

Die Kämpfe liefen stets auf ähnliche Weise ab, egal ob es sich um die Belagerung von Ramadi und Mossul (im Irak) oder von Aleppo und der Ost-Ghuta (in Syrien) handelte. Stets kamen nur wenige Kampftruppen zum Einsatz, denn beide Seiten konnten sich die schweren Verluste nicht leisten, die es im Straßenkampf mit einem gut ausgebildeten Gegner gegeben hätte. Die Angreifer setzten auf Artillerie und Luftschläge, um die Verteidiger zur Aufgabe zu zwingen. Diese Strategie blieb am Ende immer erfolgreich. Aber der Sieg wurde stets teuer mit großer Zerstörung und vielen zivilen Opfern erkauft. Die beteiligten Luftstreitkräfte haben das entweder geleugnet oder bewusst verharmlost – mit der Behauptung, die modernen Lenkwaffensysteme ermöglichten ein chirurgisch präzises Bombardieren. Doch die Rui­nen im Ostteil von Aleppo, in Rakka, Mossul und in der Ost-Ghuta erinnern heute stark an die Bilder von Hue 1968 oder Hamburg 1945.

Oft ist es unmöglich, die einander widersprechenden Behauptungen zu verifizieren, solange die Belagerungen andauern. Die tatsächliche Zahl der getöteten und verletzten Zivilisten lässt sich erst im Nachhinein ermitteln; aber dann hat das Interesse der Öffentlichkeit nachgelassen und richtet sich auf andere, neue Themen. Der ausführlichste Bericht über die zivilen Opfer der US-geführten Kampfs gegen den IS ist im November 2017 im Magazin der New York Times erschienen.3 Die Autoren Azmat Khan und Anand Gopal haben sich in mehreren von der US-Koa­li­tion bombardierten Gegenden umgesehen. Auch in der Stadt Quaiyara, südlich von Mossul, wo die U.S. Air Force nach eigenem Angaben eine Zivilperson getötet hat, während die irakische Armee behauptet, es habe keine zivilen Toten gegeben.

Nach ausführlichen Interviews mit Einwohnern von Quaiyara kamen die beiden Autoren auf ganz andere Zahlen: „Was wir herausfanden, war ernüchternd. Während der zwei Jahre, in denen der IS die Innenstadt – eine Fläche von etwa einer Quadratmeile – besetzt hielt, hatte es 40 Luftangriffe gegeben, bei 13 davon wurden insgesamt 43 Zivilisten getötet: 19 Männer, 8 Frauen und 16 Kinder unter 14 Jahren.“ Das bedeutet, dass jeder fünfte Luftangriff in dieser Gegend den Tod von Zivilpersonen zur Folge hatte. Khan und Gopal beschreiben die Anti-IS-Kampagne als „den am wenigsten transparenten Krieg in der neueren Geschichte der USA“.

In Syrien begannen die Belagerungen schon 2012, ein Jahr nach Beginn des Aufstands gegen das Regime. Damals zog Assad seine Truppen aus vielen der durch die Opposition dominierten Zonen ab und beschränkte sich auf die Kontrolle der strategisch wichtigen städtischen Gebiete, des Fernstraßennetzes und der militärischen Einrichtungen. Oppositionelle Hochburgen wie Duma in der Ost-Ghuta wurden zunächst nur durch Straßensperren abgeriegelt und sporadisch mit Artilleriefeuer belegt. Als ich im Februar 2012 nach Duma fuhr, gaben sich die syrischen Soldaten an den Checkpoints ganz locker. Sie hatten kaum etwas zu tun, während die UN-Vermittler versuchten, für die Bevölkerung der Gegend den Zugang zu Krankenhäusern in Damaskus auszuhandeln und die Freilassung von Verhafteten sowie die Wiederaufnahme der öffentlichen Dienstleistungen zu erreichen.

Im Laufe der nächsten sechs Jahre verwandelten sich solche halbdurchlässigen Blockaden in regelrechte Belagerungsringe, nicht nur in Duma, sondern auch in Aleppo, Homs und anderswo. Für Assad hatte diese Methode den Vorteil, dass seine schlecht ausgebildeten Wehrpflichtigen die Abriegelung der Oppositionsgebiete übernehmen konnten, während gut ausgebildete und ausgerüstete Einheiten als Stoßtrupps eingesetzt wurden, die rasch verlegt werden konnten.

Aber auch für die Kräfte der Opposition hatte der Belagerungskrieg eine attraktive Seite: Sie hatten Territorien im Herzen von Damaskus, Homs und Aleppo befreit, in denen sie das Sagen hatten und von wo aus sie das Regime zu Fall zu bringen wollten. Aber ihre Kräfte waren verstreut. Und es gelang ihnen nicht, die befreiten Gebiete zu verbinden, was es den Regierungstruppen ermöglichte, ihre Enklaven eine nach der anderen einzunehmen.

Die Entscheidung, bestimmte Gebiete zu verteidigen oder zu belagern, hatte oft mit religiösen oder ethnischen Loyalitäten zu tun. Beide Lager spielten diesen Faktor herunter; die Regierung (die von Alawiten dominiert wird) wie auch die Opposition (bei der Sunniten vorherrschen). Tatsächlich aber waren die Gräben zwischen den Gemeinschaften eine der zentralen Ursachen für den syrischen Bürgerkrieg. Sie bestimmten auch den Verlauf der militärischen Fronten, die sich im Zickzack durch Damaskus und Homs zogen, ähnlich wie einst in Belfast oder in Beirut.

In den von Regierungsseite gehaltenen Gegenden wohnten die Minderheiten, also Alawiten, Kurden, Christen, Drusen, Ismailiten und Schiiten, die zusammen etwa 40 Prozent der syrischen Bevölkerung ausmachen. In Damaskus erklärte mir ein Geschäftsmann, die Schwäche des Anti-Assad-Lagers bestehe darin, dass die „im Exil lebenden Führer keinen ernsthaften Plan entwickelt haben, um das Vertrauen der Minderheiten zu gewinnen“.

In den Enklaven der Opposition lebten überwiegend Sunniten. Aber auch unter ihnen gibt es die Trennung zwischen Arm und Reich, zwischen Städtern und Dorfbewohnern. Zum Beispiel hegten die wohlhabenden säkularen Sunniten im regierungstreuen West-Aleppo keine großen Sympathien für die armen und frommen Sunniten im von Rebellen gehaltenen Ostteil.

Die Regierung setzte Artillerie und die Luftwaffe auch dazu ein, um die Zivilbevölkerung aus den Oppositionsgebieten zu vertreiben. Nach dem Ende der Bombardierung wurde alle Leute, die geblieben waren, als Feinde des Regimes behandelt – obwohl sie vielleicht nur zu arm waren, um anderswo überleben zu können. Vorstädte wie Daraya im Süden von Damaskus wurden so zu Geisterorten; mit leeren ausgeplünderten Gebäuden und ohne jedes Leben.

2014 war ich in Homs, der drittgrößten Stadt Syriens und Zentrum der ursprünglichen Rebellion. Damals wurde die Altstadt, in der sich die Aufständischen verschanzt hatten, von Assad-Truppen beschossen. Ich unterhielt mich mit einem Armeeoffizier, der 30 Monate lang an der Belagerung von Homs mitgewirkt hatte. Er rollte eines seiner Hosenbeine hoch und zeigte mir, wo ihn ein Heckenschütze getroffen hatte. „Sie kamen durch einen Tunnel, der hinter unseren Linien endete und griffen uns von hinten an“, erzählte er und stellte zufrieden fest, dass alle Rebellen, die an dieser Operation beteiligt gewesen waren, am Ende tot waren: Die Belagerungen haben bewirkt, dass der Hass auf beiden Seiten der Front nur noch stärker wurde. Und sie brachten eine allgegenwärtige Angst hervor.

In Homs waren die Territorien der Pro- und Antiregierungskräfte besonders kompliziert verschachtelt. Als ich ein Militärkrankenhaus im Westen der Stadt besuchen wollte, wo die Sunniten sich noch gegen die Assad-Truppen behaupten konnten, bekam ich zwar die Erlaubnis, aber der Beamte sagte: „Wir können niemanden finden, der Sie begleitet, weil es so gefährlich ist.“ Als wir losfuhren, stellten wir fest, dass das Gebiet um das Krankenhaus von Rebellen kontrolliert wurde. Und die Wachposten des Krankenhauses waren so verängstigt, dass sie uns nicht hereinließen.

Syrien war schon immer ein tief gespaltenes Land. 2012 zeigten mir junge Leute in Duma leerstehende Häuser, die Mitgliedern der Muslimbruderschaft gehört hatten. 30 Jahre zuvor hatte man sie versiegelt, als Strafe für den Aufstand der Muslimbrüder gegen das Regime. Schon lange vor Ausbruch des Bürgerkriegs herrschte in Syrien eine große Verbitterung über die Privi­le­gien und die Macht der alawitischen Elite, der ein Großteil der Staatsführung angehört.

Ost-Ghuta – Leben unter der Erde

In der vorwiegend sunnitischen Vorstadt Barzeh im Norden von Damaskus geht der Unmut der Bevölkerung bis die 1970er Jahre zurück. Damals konfiszierte Hafiz al-Assad, der im November 1970 durch einen Putsch an die Macht gekommen war, dort ein großes Stück Land für den Bau von zwei neuen Wohnsiedlungen für alawitische Funktionäre und Offiziere: Asch al-Warwar und Dahiyat al-Assad. Als die Protestbewegung von 2011 auch Barzeh erreichte, waren es die Milizen und paramilitärischen Einheiten aus diesen alawitischen Siedlungen, die sich mit Panzern und schweren Waffen den Demonstranten entgegenstellten. Aber die wehrten sich und konnten –dank der Unterstützung der Bevölkerung und ihrer besseren Ortskenntnisse – die Kontrolle über das Gebiet behaupten.

Dann blieb es längere Zeit ruhig. Allerdings hatten die Aufständischen die Hauptstraße nach Asch al-Warwar und Dahiyat al-Assad gesperrt, was die Regierungstruppen nicht hinnehmen wollten. Sie nahmen die Rebellen unter Artilleriefeuer und brachten Heckenschützen auf einem Hügel in Stellung. Später wollten viele geflohene Bewohner zurückkehren und es wurde ein Waffenstillstand vereinbart, der auch weitgehend hielt, weil es in Barzeh – im Gegensatz zu vielen anderen Kampfzonen – keine fanatischen ausländischen Dschihadisten gab.

Als die ersten Flüchtlinge zu ihren Häusern zurückkehrten, waren sie entsetzt über das Ausmaß der Zerstörung. Nach Aussage des Rebellenführers Abu Hamzi sind während der Belagerung 250 Menschen, darunter Frauen und Kinder, umgekommen. Die Regierung hatte versprochen, verhaftete Kämpfer freizulassen, aber am Ende kamen sie in Särge. Überlebende der Belagerung berichteten, dass sie nur deshalb nicht verhungert seien, weil sie sich von den Vorräten der geflohenen Familien ernähren konnten.

Bei all diesen Belagerungen lebten die Kämpfer wie die Zivilbevölkerung praktisch unter der Erde, um vor den Granaten und Bomben geschützt zu sein. Unter denselben primitiven und gefährlichen Bedingungen, die 2014 in Barzeh herrschten, hausten die Menschen 2016 im Osten Aleppos, 2017 in Mossul und Rakka und 2018 in der Ost-Ghuta.

Während der letzten Wochen der Belagerung der Ost-Ghuta hielt ich über Mittelsmänner Kontakt mit dem dortigen Journalisten Haytham Bakkar. Von ihm erfuhr ich, dass viele Familien ihre einstöckigen Häuser verlassen und Zuflucht in größeren Gebäuden gefunden hatten, die unterkellert waren. Wie Bakkar berichtete, waren die Bedingungen in diesen überfüllten Quartieren miserabel; er selbst lebte in einem Kellerraum zusammen mit einem halben Dutzend Fami­lien. Die Kinder weinten unentwegt, weil sie drei Tage nichts gegessen hatten: „Diese Keller sind feucht, es stinkt wegen der defekten Abwasserrohre, und es wimmelt von gefährlichen Insekten wie Skorpionen. Es gibt weder Tageslicht noch Strom, die Leute haben kleine Taschenlampen, damit sie etwas sehen.“

Bakkar wollte trotzdem unbedingt dort bleiben: „Wenn wir in ein sicheres Gebiet ziehen, dann bleiben wir vielleicht am Leben, aber irgendwann werden wir in den Fernsehnachrichten sehen, dass fremde Leute in unseren Häusern wohnen.“ Als Ost-Ghuta im April 2018 fiel, verlor ich für eine Weile den Kontakt zu Bakkar. Später hörte ich wieder von ihm, er war mit seiner Familie in die Türkei geflüchtet.

Der Ausgang der Kriege in Syrien und im Irak wurde durch fünf Belagerungen entschieden: Kobani, Ost-Aleppo, Mossul, Rakka und Ost-Ghuta. Wie viele Gemeinsamkeiten es zwischen diesen Fällen gab, hat die Außenwelt nicht sofort erkannt, weil die Berichterstattung in den Medien sehr unterschiedlich war. Dass die Zivilbevölkerung in Aleppo und der Ost-Ghuta unter den Militäraktionen der syrischen Regierung und der Russen furchtbar gelitten hat, darüber wurde ausführlich berichtet, dokumentiert durch drastische Fotos und Videoaufnahmen von verletzen und sterbenden Kindern. Dieses Mate­rial verdankten die internationalen Medien ihren Zuarbeitern vor Ort, in der Regel oppositionellen Aktivisten, denn nur sie konnten sich in den von Dschihadisten gehaltenen Gebieten bewegen.

Ganz anders fiel die Berichterstattung über die Belagerungen von Mossul und Rakka aus. In beiden Fällen spielten die ausländischen Medien die Verluste unter der Zivilbevölkerung herunter. Oder sie gaben die Schuld den Dschihadisten, die Menschen als „lebende Schutzschilde“ benutzt und an der Flucht gehindert haben. In der Tat hat sich der IS nie darum geschert, wie viele Zivilisten in seinem Bereich getötet wurden.

In den letzten Monaten des Belagerungskriegs um Mossul und Rakka hatten die Koali­tion wie auch die syrische und die irakische Regierung ihre Bombenangriffe und ihren Artilleriebeschuss erheblich verstärkt. Warum sie das taten, haben sie nie zugegeben: Der IS und die anderen Dschihadisten entwickelten in den engen Straßen höchst raffinierte Techniken des Guerillakampfs, mit denen sie der irakischen Armee und den Bodentruppen der SDF schwere Verluste beibrachten. Die IS-Kämpfer bewegten sich sehr schnell – zu Fuß oder mit ihren Motorrädern – von Haus zu Haus; sie durchbrachen Wände und gruben Tunnel, was ihnen ermöglichte, Überraschungsangriffe zu starten, ohne aus der Luft entdeckt zu werden. Ihre Heckenschützen, ihre Artillerie und ihre Minenlegerspezialisten blieben nie lange an derselben Stelle. Wenn sie ein Haus als Opera­tions­basis benutzt hatten, zogen sie schnell weiter; die gegnerischen Vergeltungsschläge trafen dann nur noch die zurückgebliebenen Hausbewohner.

Mit dieser Taktik konnten die Dschihadisten die gegnerische Überlegenheit lange Zeit ausgleichen. Obgleich die US-Koalition behauptete, ihre Luftschläge seien sehr viel genauer als die der russischen und der syrischen Luftwaffe, haben sie am Ende ihre volle Feuerkraft eingesetzt, um die letzten hartnäckig verteidigten IS-Enklaven auszulöschen – ohne Rücksicht auf die Zahl der zivilen Opfer. Am Ende der Kämpfe in Rakka und in Mossul waren die Bilder der Zerstörung ganz ähnlich wie jene, die ich zuvor in Barzeh und Homs gesehen hatte. Und wie die Bilder, die wir demnächst nach der Bombardierung und Eroberung von Idlib zu befürchten haben.

1 Siehe Patrick Cockburn, „Die Belagerten von Mossul“, Le Monde diplomatique, September 2017.

2 „Syria: ‚War of annihilation‘: Devastating toll on civilians, Rakka – Syria“, www.amnesty.org/en/documents/mde24/8367/2018/en/.

3 „The Uncounted“, The New York Times Magazine, 16. November 2017, www.nytimes.com/interactive/2017/11/16/magazine/uncounted-civilian-casualties-iraq-airstrikes.html.

Aus dem Englischen von Niels Kadritzke

Patrick Cockburn ist Korrespondent des Independent und Autor, zuletzt erschien auf Deutsch: „Chaos und Glaubenskrieg“, Wien (Promedia) 2017.

© London Review of Books, www.lrb.co.uk, für die deutsche Übersetzung LMd, Berlin

Le Monde diplomatique vom 13.09.2018, von Patrick Cockburn