13.09.2018

Chagall und die Russische Revolution

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Chagall und die Russische Revolution

von Lionel Richard

Chagall als Volkskommissar für die Schönen Künste 1919 in Witebsk akg © Marc Chagall/VG Bild-Kunst, Bonn 2018
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An einem Herbstmorgen im Jahr 1918 betritt ein etwa dreißigjähriger Mann mit einem dicken Paket unter dem Arm das Volkskommissariat für Bildungswesen in Moskau. Der Mann kommt aus der weißrussischen Stadt Witebsk – 500 Kilometer und mehr als zehn Zugstunden von der neuen Hauptstadt entfernt. Er ist Maler und möchte mit dem Volkskommissar für das Bildungswesen Anatoli Lunatscharski sprechen, den er vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs in Paris kennengelernt hat, und ihm eine Auswahl seiner neuesten Werke zeigen.

Chagall wurde als ältestes von neun Kindern 1887 in einem Vorort von Witebsk geboren. Seine Familie war arm. Dennoch erhielt er Zeichenunterricht, was ihm den Weg an die Kunsthochschule in Sankt Petersburg öffnete. In Sankt Petersburg besuchte er außerdem regelmäßig die Kurse von Léon Bakst, Lehrer an der privaten Kunstschule von Jelisaweta Swanzewa und Bühnenbildner der Ballets Russes. Als Bakst im Januar 1910 nach Paris reiste, um dort an der Oper ein Drame lyrique zu inszenieren, kam Chagall mit. Er wohnte in der Künstlerkolonie La ­Ruche in der Nähe von Montparnasse und verkehrte mit der Avantgarde seiner Zeit, etwa mit Modigliani und Picasso.

Im Juni 1914 fuhr Chagall von Paris nach Berlin, wo die Galerie der Zeitschrift Der Sturm seine Bilder ausstellte. Danach reiste er nach Witebsk zurück. Dort wollte er seine Jugendliebe Bella Rosenfeld, die Tochter eines reichen Schmuckhändlers, heiraten.

Dann brach der Erste Weltkrieg aus. Nach seiner Hochzeit, die am 25. Juli 1915 erfolgte, war eine Rückkehr nach Frankreich nicht mehr möglich. Seinen Kriegsdienst leiste Chagall als Gehilfe in einem Armeebüro in Petrograd, wie Sankt Petersburg von 1914 bis 1924 hieß.

Er und seine Frau lebten in Pe­tro­grad, als die Revolutionäre dort die Macht übernahmen. Chagall hatte zahlreiche Selbstporträts und Bilder von Juden bei alltäglichen Beschäftigungen angefertigt, doch die Ergebnisse befriedigten ihn nicht. Im März 1918 kehrte das Paar nach Witebsk zurück. „Hier entfalte ich mich – wie die Tabakblüte – des Abends und des Nachts ... Ich arbeite“, schrieb er am 12. März 1918 an die Kunstfunktionärin Nadeschda Dobitschina zurück nach Petrograd.1

Aber konnte er im Ernst glauben, ein Maler könne in Witebsk allein von seinen Bildern leben? Mit diesem Ehrgeiz wäre er ziemlich sicher gescheitert. Warum also nicht versuchen, von den Reformen der Kunstausbildung zu profitieren; sich auch in Witebsk für eine Transformation zu engagieren, die in Moskau und Petrograd bereits im Gange war.

Lunatscharski ist dafür die richtige Adresse. Chagall ist für die Maßnahmen, die Lenin und seine Regierungen durchsetzen. Zu tief verspürt er den Nachhall der ewigen Pogrome und antisemitischen Demütigungen. Wie könnte er sich nicht hinter eine Revolution stellen, die die Juden endlich zu vollwertigen russischen Staatsbürgern gemacht hat?

Lunatscharski hat den Ruf eines „liebenswürdigen und wenig sektiererischen Mannes“.2 Er ist begeistert von Chagalls Werken. Unverzüglich verfasst er den Erlass 3051, in dem es heißt: „Der Genosse Marc Chagall wird zum Volkskommissar für die Schönen Künste im Gouvernement Witebsk berufen. Allen revolutionären Kräften wird hiermit empfohlen, Genosse Chagall volle Unterstützung zu gewähren.“3

Aufgrund seines neuen Postens ist Chagall auch für die Festlichkeiten zum ersten Jahrestag der Revolution zuständig. Er leitet den Bau von sieben hölzernen Triumphbögen in Witebsk und lässt in den Straßen 450 riesige revolutionäre Plakate an die Hausfassaden kleben. 350 nach seinen Vorlagen bemalte Banner flattern im Wind. Die Leute sehen sich umringt von roten Pferden, grünen Kühen, blauen Vögeln auf weißen Wolken und Reitern, die rote Fahnen schwenken.

Im Dezember 1918 fordert Chagall per Dekret alle bildenden Künstler auf, sich am Aufbau einer Akademie in Witebsk zu beteiligen. In der früheren Villa eines Bankiers gründet er die erste Staatliche Schule für Schöne Künste, organisiert nach den Prinzipien der freien Ateliers, wie sie auch in Moskau und Petrograd eröffnet wurden. Für die Aufnahme ist kein Diplom mehr nötig. Einziges Studienziel ist, zu kreativer Spontaneität anzuregen, und das im Einklang mit dem wahren Leben der Menschen.

Binnen kurzer Zeit schreiben sich fast 500 Studenten ein. Unter den Lehrern sind auch avantgardistische Künstler. Im Sommer bewirbt sich der in Darmstadt ausgebildete Architekt Lazar Lissitzky, der sich El (nach Eliezer) nannte. Wegen des Numerus clausus für jüdische Studenten hatte er an einer deutschen Universität studieren müssen, dann aber 1915 sein Architektendiplom in Moskau erhalten.

Lissitzky bewundert die Fantasie in Chagalls Werken. Gleichzeitig begeistert er sich für die Schriften eines anderen Malers, dessen abstrakter Stil Chagall diametral entgegensteht: Kasimir Malewitsch, mit dem Lissitzky einen Briefwechsel führt. Malewitsch ist ein Führertyp, der Anhänger um sich versammelt. Er vertritt die Stilrichtung der „Suprematie“, will von null an eine neue Auffassung durchsetzen, die sich in der Vernichtung jeder figurativen Darstellung zugunsten „reiner“ und freier Formen ausdrückt.

Im Oktober 1919 soll Lissitzky nach Moskau zu Lunatscharski fahren. Die Schule in Witebsk braucht Material. Mit Chagalls Plazet wendet er sich an Malewitsch und überzeugt ihn, ebenfalls eine Stelle in Witebsk anzunehmen. Als Gründer und Leiter der Schule ist Chagall unangefochten, aber es kommt zu inhaltlichen Auseinandersetzungen mit Malewitsch, der die künstlerische Ausbildung am liebsten ganz abschaffen würde, um die Köpfe von „allem Akademischen zu reinigen“4 .

Am Ende kapituliert der traditionsbewusste Chagall und tritt von der Leitung zurück.5 Am 17. November 1919 schreibt er ein Gesuch an Ossip Brik, der für die Zweiten Künstlerischen Werkstätten in Moskau zuständig ist, mit der Bitte, ihm eine Malklasse zu geben, für deren Ausbildung wolle er im Dienste der Revolution und nach Maßgabe seiner „Kräfte und Fähigkeiten“ zu Verfügung stehen.

Sein Angebot bleibt ungehört. In Moskau findet er nur zeitweise Arbeit als Bühnenbildner beim Staatlichen Jüdischen Kammertheater. Bei der Erneuerung der Künste wird er nicht mehr gebraucht. Im Hinblick auf die herrschende Bewegung der „Künstlerischen Produktion“ fühlt er sich nicht auf der Höhe der Zeit.

Als man ihn 1921 als Zeichenlehrer in ein jüdisches Waisenhaus schickt, sieht Chagall keinen anderen Ausweg mehr, als Russland zu verlassen. Mit seiner Frau Bella und ihrer 1916 geborenen Tochter Ida geht er im Sommer 1922 nach Berlin. Hier organisiert er noch eine neue Ausstellung. Am 1. September 1923 nimmt die Familie den Zug Richtung Paris.

1 Siehe Alexandre Kamenski, „Marc Chagall: ‚Mit dem Herzen war ich immer hier...‘ “, in: Kunst und Literatur (Berlin, DDR), Heft 2, März/April 1988.

2 André Pierre, Le Populaire, 18. September 1921.

3 Der Erlass von Lunatscharski zu Chagalls Ernennung und die öffentliche Ankündigung von Chagall befinden sich im Stadtarchiv von Witebsk. Andrei Wosnessenski, „Ein Museum für Chagall!“, in: Kunst und Literatur, Heft 2, März/April 1988.

4 In Izobrazitelnoïe, Nr. 1, 1919; zitiert in: Jewgeni Kovtun, „L’avant-garde russe dans les années 1920–1930“, Bournemouth (Parkstone/Aurora) 1996.

5 Siehe Alexandra Schatskich, „Malewitsch in Witebsk“, in: Kunst und Literatur, Heft 5, September/Oktober 1989.

Aus dem Französischen von Claudia Steinitz

Lionel Richard ist Schriftsteller und Historiker. Dieser Text ist ein Auszug eines Beitrags zum internationalen Kolloquium „Hoffnungen, Utopien und Erbe der Russischen Revolution“, das im November 2017 in Brüssel stattfand.

Le Monde diplomatique vom 13.09.2018, von Lionel Richard