Der direkte Weg nach Harvard
US-Unis bevorzugen Kinder von Alumni
von Richard D. Kahlenberg
Seit der Unabhängigkeit von der britischen Krone 1776 lehnt man in den USA die Adelsherrschaft und ihr Prinzip der Erbfolge ab. Thomas Jefferson, einer der Gründerväter der Vereinigten Staaten, schrieb, man strebe eine „natürliche Aristokratie“ nach „Tugend und Talent“ an, und nicht, wie in Großbritannien, eine „künstliche Aristokratie“ nach Herkunft und Vermögen.
Diesem theoretischen Bekenntnis widersprachen in der Praxis allerdings Amerikas Sklavenhaltergesellschaft und die Rassendiskriminierung. Weniger offensichtlich, aber genauso antiegalitär ist bis heute das Auswahlverfahren an den besten Universitäten des Landes: Seit Anfang des 20. Jahrhunderts ist die familiäre Herkunft ein entscheidendes Kriterium. Junge Studienanwärter, deren Eltern schon dieselbe Uni besucht haben, werden bei der Einschreibung bevorzugt. So hat sich an den Unis, aus deren Absolventen sich meist auch das politische Spitzenpersonal rekrutiert, eine Art akademischer Geburtsadel etabliert.
Drei Viertel der 100 renommiertesten Universitäten – egal ob privat oder staatlich – praktizieren dieses ungerechte Auswahlverfahren namens legacy preference. Auch an fast allen der 100 besten Liberal Arts Colleges, die vor allem allgemeinbildende Bachelor-Studiengänge anbieten, kommt es zur Anwendung. Neben Schulnoten, Hautfarbe und Geschlecht beziehen die Unis auch die Familie des Bewerbers bei ihren Zulassungen mit ein – ohne jedoch transparent zu machen, wie viel jedes einzelne Kriterium ausmacht.
Eines ist jedoch sicher: Je prestigeträchtiger die Hochschule, desto mehr Kinder früherer Absolventen tummeln sich auf dem Campus. Nach einer aktuellen Umfrage des Harvard Crimson hat von 29 Prozent der Studienanfänger bereits ein Elternteil in Harvard studiert.1
An den renommierten Unis, die sich ohnehin nicht gerade durch sozioökonomische Diversität auszeichnen, befördert die Bevorzugung des Alumni-Nachwuchses die Reproduktion der Eliten. Während Harvard 2017 stolz verkündete, in diesem Jahr sei die Mehrzahl der Erstsemester nicht weiß2 gewesen, zeigt eine Studie aus demselben Jahr, dass über die Hälfte der Harvard-Studierenden zu den 10 Prozent der reichsten US-Familien gehören.3
Die universitäre legacy preference ist ein fast ausschließlich US-amerikanisches Phänomen. Um den Anteil vor allem jüdischer Emigranten an den vornehmen Hochschulen der Ostküste zu begrenzen, die nicht selten die Sprösslinge der protestantischen Eliten überflügelten, führten die Universitäten nach dem Ersten Weltkrieg Quoten für jüdische Bewerberinnen und Bewerber ein. Nach Protesten gegen diese antisemitische Zulassungspraxis verlegten sich die Rektoren auf andere Kriterien wie etwa den „Charakter“.
„Charakter“ hatten nach dieser Vorstellung aber ausschließlich die Söhne und Töchter aus den reichen und einflussreichen Familien. Mittels der legacy preference wurden sie bei der Einschreibung bevorzugt, und im gleichen Zuge sollte die Zahl der jüdischen Studierenden weiterhin begrenzt werden.
Auch ein Jahrhundert später diskriminiert dieses Privileg Minderheiten beim Zugang zu den Topuniversitäten. Nach Angaben der Anwälte John Brittain und Eric Bloom sind insgesamt 12,5 Prozent der Bewerber an Eliteuniversitäten Afroamerikaner, Latinos oder Native Americans. Unter den Bewerbern, die das ererbte Privileg geltend machen können, machen sie jedoch nur 6,7 Prozent aus.4
Anhänger der legacy preference behaupten, sie sei nur ein Kriterium unter vielen, um zwischen Bewerbern mit gleicher Qualifikation zu entscheiden. Der in Princeton lehrende Soziologe Thomas Espenshade fand jedoch heraus, dass man an den zehn renommiertesten Hochschulen auch beim allgemeinen Eignungstest (Scholastic Assessment Test, SAT) als „Sohn oder Tochter von“ einen Bonus von 160 Punkten (von maximal 1600) erhält.5 Dem SAT-Test müssen sich die meisten der Studienbewerber in den USA unterziehen.
2011 zeigte eine Untersuchung an 30 Eliteeinrichtungen, dass bei gleicher Qualifikation die Kinder von Alumni eine um 45 Prozentpunkte höhere Chance hatten, zugelassen zu werden, als Studienanwärter ohne den entsprechenden familiären Hintergrund.6 Mit anderen Worten: Ein Studienbewerber, der nach Noten und Profil (SAT-Ergebnisse, sportliche Leistungen, Geschlecht und so weiter) eine 40-prozentige Chance auf Zulassung hat, erhält beim Nachweis familiärer Verbindungen zur Uni mit 85-prozentiger Wahrscheinlichkeit einen Studienplatz.
Proteste gegen die alten Privilegien
„An den Eliteuniversitäten stellen die Kinder ehemaliger Absolventen 10 bis 25 Prozent der Studierenden“, schätzt der Journalist Daniel Golden. „Die Tatsache, dass sich dieser Anteil von Jahr zu Jahr kaum ändert, lässt auf ein informelles System interner Quoten schließen.“ Im Gegensatz dazu zählt etwa das California Institute of Technology, an dem die legacy preference nicht angewandt wird, nur 1,5 Prozent Kinder von ehemaligen Absolventen.
Zur Verteidigung der legacy preference bringen seine Befürworter an, es stärke die Verbindung der Studierenden zu ihrer Uni. Später, als Alumni, ließen sie ihr großzügigere Spenden zukommen. Für diese These liegen jedoch keine empirischen Daten vor.
Der Unternehmensberater Chad Coffmann (Global Economics Group) untersuchte die Spenden ehemaliger Absolventen der 100 besten Universitäten im Zeitraum zwischen 1998 und 2007. Dabei kam heraus, dass Hochschulen, die Alumni-Kinder bevorzugen, im Schnitt zwar eine höhere Summe von ihren Ehemaligen bekommen (317 statt 201 Dollar pro Alumnus und Jahr). Das sei aber vor allem darauf zurückzuführen, dass ihre Absolventen schlicht reicher sind. Die Erhebung fand keinen Beweis dafür, dass die Politik familiärer Bevorzugung das individuelle Verhalten der Spender beeinflusst.
Angenommen, es gäbe doch einen positiven Spendeneffekt, wäre er ohnehin ein Fall für die Steuerfahnder: Die Finanzämter müssten sich dann nämlich fragen, ob diese Spenden dann noch von der Steuer abgesetzt werden dürfen, wie es derzeit der Fall ist. Sollten die großzügigen Spender im Gegenzug einen Vorteil erhalten, dann dienten ihre Zuwendungen für die Universitäten aber nicht mehr allein wohltätigen Zwecken. Eine steuerlich absetzbare Spende darf aber nicht dem Spender selbst zugutekommen.
Die Privilegierung der alten Eliten, die im akademischen System der USA seit einem Jahrhundert fest verankert ist, stößt zunehmend auf Kritik. Im Februar 2018 begannen Studentengruppen an über einem Dutzend Unis gegen den Nepotismus zu protestieren. In Princeton, Yale, Cornell, Brown, Columbia und an der University of Chicago forderten sie, dass die Studierenden darüber abstimmen sollten, ob sie das Bonussystem für „Söhne und Töchter von“ gerecht finden.
Auch außerhalb des Campus bekam die Protestbewegung – teils unerwartete – Verbündete. Im Oktober 2017 erklärte William Dudley, der damalige Präsident und CEO der Federal Reserve Bank of New York, die legacy preference sei „vollkommen ungerecht. Um eine größere soziale Mobilität zu ermöglichen, gehören solche Regeln abgeschafft. Wollen wir an unseren großen Universitäten wirklich an einem System festhalten, das im Grunde nichts anderes heißt als ‚Aufnahme gegen Spenden‘?“7
Vielleicht wird darüber in naher Zukunft die Justiz entscheiden müssen. Bis heute wurde das Prinzip der legacy preference nur ein einziges Mal vor einem Bundesgericht verhandelt. 1975 klagte Jane Cheryl Rosenstock gegen die University of North Carolina, die ihre Bewerbung abgewiesen hatte. Rosenstock sah ihre von der Verfassung verbrieften Rechte verletzt, weil andere Bewerber – darunter Kinder ehemaliger Absolventen – bevorzugt wurden. Ihre Klage wurde abgewiesen. Rosenstocks schlechte Ergebnisse beim SAT (850 von 1600 Punkten) waren dabei sicher nicht von Vorteil für den Prozessverlauf. Jedoch wollte der Richter auch die legacy preference nicht prinzipiell infrage stellen. Dem allgemeinen Verständnis folgend ging er davon aus, dass die Regelung zur Finanzierung der Universitäten unentbehrlich sei.
Die Anwälte Steve Shadowen und Sozi Tulante sind, wie viele ihrer Zunft, der Meinung, dass die legacy preference an den Universitäten gegen die Verfassung verstößt, konkret gegen deren 14. Zusatzartikel. Dieser Artikel sollte ursprünglich Afroamerikaner vor Diskriminierung schützen. Nach Potter Stewart, ehemaliger Richter am obersten Gerichtshof, verbiete er aber ganz allgemein jede „Bevorzugung aufgrund familiärer Abstammung“. Der Einzelne sollte nach seinen eigenen Verdiensten beurteilt werden und nicht nach denen seiner Eltern.
Auch die Politik könnte bald eingreifen. Nach Umfragen sind drei von vier US-Amerikanern gegen das Privileg. So könnte der Kongress etwa allen staatlich geförderten Universitäten untersagen, in ihren Zulassungsverfahren Bewerber aufgrund ihrer Abstammung zu bevorzugen.
Der Streit über die legacy preference zeigt insgesamt, welche Bedeutung in den USA der Zugang zu den Eliteuniversitäten hat. Wer dort studiert, hat enorme Vorteile. Eine durchschnittliche Uni gibt etwa 12 000 Dollar pro Jahr für die Ausbildung eines Studierenden aus, in der Ivy League, der acht der besten Universitäten angehören, sind es bis zu 92 000 Dollar. Nach dem Abschluss können Absolventen dieser Unis mit 45 Prozent mehr Gehalt rechnen als ihre Altersgenossen, die an einer weniger renommierten Hochschulen studiert haben.
Nach den Berechnungen von Thomas Dye haben die Hälfte der großen US-amerikanischen Unternehmer und etwa 40 Prozent der Spitzenpolitiker an einer der zwölf wichtigsten Universitäten des Landes studiert.8 Wer von ihnen nur wegen seines Familiennamens dort angenommen wurde, ist nicht bekannt.
7 Rede am 6. Oktober 2017, www.newyorkfed.org.
8 Thomas Dye, „Who’s Running America? The Obama Reign“, Boulder (Paradigm Publishers) 2014.
Aus dem Französischen von Sabine Jainski
Richard D. Kahlenberg ist Bildungsexperte und forscht an der Century Foundation in New York. Er ist Herausgeber des Bands „Affirmative Action for the Rich: Legacy Preferences in College Admissions“, New York (Century Foundation) 2010.