09.08.2018

Mao und die Stalinfrage

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Mao und die Stalinfrage

von Serge Halimi

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Ja, das Datum bleibt in Erinnerung, aber aus einem anderen Grund, als Fejtö dachte: Heute ist es ein Gedenktag für das Massaker von Paris, bei dem die Pariser Polizei zahlreiche algerische Demonstranten getötet hat. In seinem Buch meinte Fejtö, der Tag markiere „das Ende der sowjetischen Vorherrschaft über die internationale kommunistische Bewegung“.1 Damals stand Generalsekretär Nikita Chruschtschow am Rednerpunkt des XXII. Parteitags der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU) und wetterte in Anwesenheit der westlichen Presse gegen die prochinesischen albanischen Kommunisten.

Was dieses historische Zerwürfnis betrifft, das 1969 sogar zu bewaffneten Auseinandersetzungen führte, so sind im Rückblick zwei Dinge verblüffend: Zum einen das Vergessen: Kein Mensch spricht mehr von der ideologischen Auseinandersetzung zwischen China und der Sowjetunion, obwohl diese vor knapp 50 Jahren die kommunistische Bewegung gespalten und die internationale Politik noch weitere 25 Jahre beeinflusst hat. Zum anderen das Geheimnis: Heute wissen wir, dass sich das Verhältnis zwischen den beiden größten kommunistischen Parteien der Welt und den Staaten, die sie regierten, schon seit 1956 verschlechtert hatte.

Die Öffentlichkeit jedoch erfuhr erst fünf Jahre später, worum es bei den Meinungsverschiedenheiten im Einzelnen ging. Laut Fetjö waren beide Seiten bis zum 17. Oktober 1961 bemüht, ihre Streitigkeiten gleichsam klandestin auszutragen: „Kritik, Vorwürfe und Beschwerden wurden in kryptischen Formulierungen ausgedrückt, gerade eben verständlich genug, um den Adressaten eine unmissverständliche Botschaft zu übermitteln.“2

Die Chinesen verurteilten den „Revisionismus“ der jugoslawischen Führung umso schärfer, je mehr sich Moskau und seine Bruderparteien wieder auf Tito zubewegten. Und die Sowjets nahmen die Albaner aufs Korn, weil diese auf Pekinger Linie lagen. Die kollektive Disziplin ging damals (es gab ja noch kein Twitter) allerdings so weit, dass selbst Chruschtschows Rede vom Februar 1956, in der er vor den erstarrten Parteitagsdelegierten die Verbrechen seines Vorgängers Joseph Stalin offenbarte, über Wochen geheim blieb.

Die Verurteilung des Stalinismus durch Chruschtschow war der Auftakt zum Zerwürfnis zwischen China und der Sowjetunion. Mao wollte nicht hinnehmen, dass eine so wichtige Entscheidung mit weitreichenden Konsequenzen für den gesamten Kommunismus allein von den sowjetischen Genossen getroffen wurde. Auch die Kritik am „Personenkult“ fand der chinesische Parteiführer nicht so wichtig. Aber sein Hauptbedenken war, der Vorstoß von Chruschtschow könnte alle kommunistischen Parteikader schwächen, die Stalin unterstützt hatten – also fast alle, die ihn überlebt hatten.

Nun hatte sich Mao sowieso nie an die – zumeist katastrophalen – Ratschläge seiner sowjetischen Genossen gehalten. Das hat auch Stalin selbst bestätigt. Obwohl er es nicht mochte, wenn man seine Autorität infrage stellte, erzählt er 1948 amüsiert, die Chinesen hätten nicht auf ihn gehört, „als wir ihnen schonungslos sagten, dass wir für den Volksaufstand in China keinerlei Erfolgschance sehen, dass sie folglich einen Modus Vivendi mit Tschiang Kai-schek finden müssten, indem sie in dessen Regierung eintreten und ihre eigene Armee auflösen sollten“. Aber, erzählte Stalin weiter, „sie taten das Gegenteil, und heute kann alle Welt sehen, dass sie dabei sind, Tschiang Kai-schek zu besiegen.“3

Die „Stalin-Frage“ war ein Text der Kommunistischen Partei Chinas (­KPCh) vom 13. September 1963 betitelt, der die Differenzen mit der KPdSU ausführlich darlegte. Aber im Streit der beiden Parteien ging es auch um ein zweites wichtiges Thema: die „friedliche Koexistenz“. Nach Ansicht der chinesischen Kommunisten hatte der sowjetische Staats- und Parteichef 1956 auf dem XX. Parteitag der KPdSU „irrige Ansichten“ „über Imperialismus und über Krieg und Frieden“ geäußert.4

Worum ging es? Moskau hatte gerade die fixe Idee der Stalinzeit überwunden, dass man von Feinden umzingelt sei. Chruschtschow war überzeugt, das sowjetische Modell mit seinen durchaus realen Vorzügen könne für weitere Staaten attraktiv werden, und zwar auch ohne Konfrontation mit dem Imperialismus.

Ohnehin trug die Sowjetunion mit ihrer Verfügung über Atomwaffen, die „keine Klassenunterschiede machen“, gemeinsam mit den USA die Verantwortung für den Weltfrieden, wie die Kubakrise von 1962 zu bestätigen schien.

Mao lehnte diese Analyse als „revisionistisch“ ab. Für ihn hatten „die sozialistischen Kräfte gegenüber dem imperialistischen Lager eine erdrückende Übermacht errungen“, die sie auch nutzen sollten. Chruschtschow dagegen laufe Gefahr, die revolutionären Bewegungen in der Dritten Welt zu „lähmen“, weil er den US-amerikanischen „Papiertiger“ fürchte, aber auch verdächtige Beziehungen zu westlichen Staatschefs unterhalte.

Das Risiko eines Atomkriegs hatte Mao bereits 1957 relativiert: „Wenn eine Hälfte der Menschheit vernichtet würde, dann bliebe immer noch die andere Hälfte, aber der Imperialismus wäre vollständig zerstört, und es gäbe in der ganzen Welt nur noch Sozialismus. Ein halbes oder ganzes Jahrhundert später wäre die Bevölkerung wieder gewachsen, und sogar um mehr als die verlorene Hälfte.“

Glaubte Mao das wirklich? Oder wollte er nur, dass die „Imperialisten“ im Ernstfall von seiner Unbeugsamkeit ausgingen? Das ist heute ziemlich egal. Denn Russland wie China, die sich heute auch in Sachen Atomkrieg einig sind, haben maßgeblich dafür gesorgt, dass die Chancen für einen „weltweiten Sozialismus“ seit 1961 kaum gestiegen sind.⇥Serge Halimi

1 François Fejtö, „Chine–URSS. La fin d’une hégémonie. Les origines du grand schisme communiste, 1950–1957“, Paris (Plon) 1964.

2 François Fejtö, „Chine–URSS. Le conflit. Le déve­loppe­ment du grand schisme communiste, 1958–1965“, Paris (Plon) 1966.

3 Zitiert in: Vladimir Dedijer, „Tito“, Berlin (Ullstein) 1953.

4 „Ursprung und Entwicklung der Differenzen zwischen der Führung der KPdSU und uns“, von den Redaktionen der Renmin Ribao („Volkszeitung“) und der Hongqi („Rote Fahne“), 6. September 1963 (auf Deutsch nachzulesen unter: www.bannedthought.net/China/Mao­Era/­Great­Debate/German/Polemik-uber-die-general­linie.pdf, S. 31).

Aus dem Französischen von Sabine Jainski

Le Monde diplomatique vom 09.08.2018, von Serge Halimi