Neue Uniform, alte Korruption
In der Ukraine kommt die überfällige Reform der Nationalpolizei nicht voran
von Sébastien Gobert
Am 31. Oktober 2017 wurde in Kiew der 29-jährige Oleksandr Awakow von Fahndern des ukrainischen Antikorruptionsbüros (Nabu) verhaftet. Er stand im Verdacht, in eine Betrugsaffäre um die Lieferung von Rucksäcken an die Streitkräfte verwickelt zu sein, bei der es um 450 000 Euro ging. Die Verhaftung war ein Paukenschlag, denn der junge Mann ist der einzige Sohn des mächtigen Innenministers Arsen Awakow. Nur Minuten nach der Festnahme waren Einheiten von Polizei und Nationalgarde unterwegs, um Durchsuchungen zu verhindern und die Arbeit der Fahnder zu erschweren.
Das Nabu war im April 2015 im Zuge einer Antikorruptionskampagne gegründet worden, auf Druck von Nichtregierungsorganisationen, EU-Kommission und Internationalem Währungsfonds, und gilt als heute die unabhängigste Institution in diesem Bereich. Die Hindernisse, die den Ermittlern im Fall Awakow in den Weg gelegt wurden, sind Beweis dafür, dass die Politik auch vier Jahre nach dem Sturz von Präsident Wiktor Janukowitsch „unsere Ordnungskräfte als ihren bewaffneten Arm nutzt, um ihre eigenen Interessen zu sichern“. So beschrieb es der Abgeordnete Mustafa Nayyem, Mitinitiator der Bürgerproteste Euromaidan, im November 2013.
Oleksandr Awakow kam nach ein paar Tagen wieder frei, ohne Kautionsforderung. Am 7. November 2017 überstand sein Vater ein Misstrauensvotum in der Rada, dem ukrainischen Parlament. Er stand in der Kritik, weil die Reform der ukrainischen Nationalpolizei, eines der dringlichsten Anliegen der Protestbewegung, nicht vorankam. Awakow sah jedoch „keinerlei Grund, sein Amt niederzulegen“. Der dubiose, seit Langem politisch aktive Geschäftsmann ist seit seiner Ernennung im Februar 2014 zum zweitwichtigsten Mann im Staat aufgestiegen – nach dem Milliardär Petro Poroschenko, der nach den Bürgerprotesten 2013/14 an die Macht gelangt war.
Dass Polizisten seinem Sohn zu Hilfe geeilt waren, wollte Awakow lieber nicht kommentieren; er gibt sich gern als aufgeklärter Reformer. „Wir haben inzwischen 25 bis 30 Prozent der Polizeireform umgesetzt“, verkündete er am 11. November 2017, und er wolle sie auch zu Ende führen.1 Seine Kritiker, wie Denis Kobsin, Leiter des Sozialforschungsinstituts in Charkiw, widersprechen: „Die Reform, so wie wir sie uns 2014 erhofft haben, hat noch gar nicht begonnen.“ Kobzin sieht lediglich Schönfärberei und oberflächliche Maßnahmen, die den eigentlichen Misserfolg kaschieren sollen, wie etwa die neue Streifenpolizei, die zu Fuß oder motorisiert die öffentliche Ordnung auf den Straßen aufrechterhalten soll.
Am 4. Juli 2015 enthüllte die Regierung bei strahlendem Sonnenschein auf dem Sophienplatz in Kiew das „neue Gesicht der Polizei“. Hunderte junger Rekruten, darunter 30 Prozent Frauen, standen aufgereiht neben ihren nagelneuen Toyota Prius und legten ihren Amtseid ab. Ukrainische und internationale Würdenträger zeigten sich begeistert. Die Zeremonie stand unter der Oberaufsicht von Vizeinnenministerin Ekaterina Zguladze-Glucksmann. Die Reformerin aus Georgien hatte es angeblich geschafft, die notorisch korrupte Polizei des Landes umzukrempeln und zu modernisieren. Sie war wie viele andere Georgier seit 2014 dem Beispiel ihres Expräsidenten Micheil Saakaschwili gefolgt und in die ukrainische Politik gegangen.
Die Hundertschaften junger Rekruten sollten die Beamten der umstrittenen „Straßeninspektion“ (DAI) ersetzen und dem alten System der Misswirtschaft, Korruption und Gewalt ein Ende bereiten. An jenem Tag hatten sich Leute aus der versammelten Menge Arm in Arm mit den frisch Vereidigten fotografiert, was dem jungen Corps den Spitznamen „Selfie-Brigade“ einbrachte. „Es herrschte allgemeine Euphorie“, erinnert sich Kobzin. „Aber sie haben diesen Moment nicht für tiefgreifende Veränderungen genutzt.“
Um die 12 000 jungen Polizisten einzuarbeiten, blieben die alten DAI-Kader weiter im Dienst – mit dem Effekt, dass sich ein System fortsetzte, das man doch abgeschafft glaubte. Viele hatten auch den Eindruck, dass die neuen Streifenpolizisten ohnehin in der Masse der 128 000 Nationalpolizei-Mitarbeiter untergingen. Weil die Reform zudem auf Beamte beschränkt war, die in direkten Kontakt mit der Bevölkerung stehen, hatte sie keinerlei Auswirkungen auf die Korruption der Führungsetage.
Sowohl bei den Bürgern als auch bei der Polizei selbst nahm die Unzufriedenheit mit der „Selfie-Brigade“ nach und nach zu, weshalb heute 20 Prozent der Stellen nicht besetzt sind. In der Enttäuschung über die „Selfie-Polizei“ kommt die allgemeine postrevolutionäre Ernüchterung zum Ausdruck. Die Regierung Poroschenko legt zunehmend autoritäre Züge an den Tag, und die meisten radikalen Reformer, ob Ukrainer oder Ausländer, haben sich inzwischen aus der Politik zurückgezogen. Auch Zguladze-Glucksmann legte im Mai 2016 ihr Amt nieder, im November folgte ihre Landsfrau Khatia Dekanoidse, die ein Jahr lang die Nationalpolizei geleitet hatte. Sie erklärte, die Einflussnahme von Ministerium, Parlament und Präsidialamt auf ihre Arbeit habe sie zu dem Schritt bewogen.
Aus Sicht der ehemaligen Polizeichefin wären radikale Schritte notwendig: „Man muss sowohl das Personal als auch die Funktionsweise des alten Systems loswerden, so wie es bei der Streifenpolizei gemacht wurde.“ Das gelte auch für die anderen Abteilungen, bis hin zur Generalstaatsanwaltschaft und den Gerichten. Es brauche einen Generationswechsel und eine neue Mentalität, „so wie wir es in Georgien geschafft haben“.
Die EU setzt auf langfristige Veränderungen
Im Sommer 2015 nahmen Kommissionen, in denen Vertreter aus der Zivilgesellschaft und den Behörden saßen, die Arbeit auf. Sie sollten herausfinden, welche der langjährig tätigen Beamten sich für den Einsatz bei der neuen Streifenpolizei eigneten: 68 135 Altpolizisten unterzogen sich einem Verfahren, bei dem ihre Loyalität, ihre juristischen Kenntnisse, ältere Korruptionsvorwürfe, Vorwürfe wegen Gewaltmissbrauchs sowie Einträge in sozialen Netzwerken überprüft wurden. Am Ende wurden 5257 entlassen, also 7,7 Prozent – ein durchaus vorzeigbares Ergebnis, das die Ukrainer jedoch nicht überzeugt hat.
Dekanoidse und Zguladze-Glucksmann wollen lieber nicht zu ihren Reformen Stellung nehmen. Überhaupt beschränkt sich der georgische Einfluss in der postrevolutionären Ukraine inzwischen offenbar auf die fantastischen Abenteuer des Micheil Saakaschwili, der im Februar nach Polen ausgewiesen wurde und jetzt in den Niederlanden lebt. Die westlichen Mächte unterstützen jedoch weiterhin den Wandel im Land. Ihre Zuwendungen belaufen sich – zusammen mit der Unterstützung durch den Internationalen Währungsfonds – auf mehr als 35 Milliarden Euro, die zahlreichen Kooperationsprojekte nicht mitgerechnet.
Die Beratende Mission der EU für eine Reform des zivilen Sicherheitssektors in der Ukraine (EUAM) setzt weniger auf schnelles Durchgreifen als auf langfristige Veränderungen. „Die Gründung einer neuen Streifenpolizei war nicht nur eine PR-Strategie, sie war notwendig“, erklärt der deutsche Missionsleiter Udo Möller, wobei er zugibt, dass bei der Methode „mit Komplikationen zu rechnen war“. Um eine neue Polizeikultur zu schaffen, setzt die EUAM auf Seminare, Fortbildungen oder Pilotprojekte, zu denen sie alte und neue Polizeikräfte einlädt. Die Regierung bleibt derweil ganz auf den Kampf gegen den äußeren Feind konzentriert – und erklärt, der Zeitpunkt für Reformen, die den Staatsapparat destabilisieren könnten, sei ausgesprochen ungünstig.
Die Polizeireform greift das oligarchische System selbst nicht an. Nach wie vor ringen politisch-wirtschaftliche Clans um die Kontrolle des Staats und seiner Schlüsselinstitutionen, vor allem der Generalstaatsanwaltschaft (Prokuratora). Der Prozess, mit dem sie von der Exekutive abgekoppelt werden sollte, begann 2015, ist aber noch längst nicht abgeschlossen. Der jetzige Generalstaatsanwalt Jurij Lutsenko übt Druck auf politische Gegner aus und verhindert Ermittlungen gegen Verbündete von Poroschenko.
Die USA und ihre Verbündeten erhöhen den Druck auf Kiew, weil sie ihre Investitionen absichern wollen. „Der Kampf der Ukraine gegen die Korruption ist genauso wichtig wie der Kampf gegen die russische Aggression“, erklärte John Sullivan, damals stellvertretender US-Außenminister, bei seinem letzten Staatsbesuch in der ukrainischen Hauptstadt am 21. Februar. Eine Regierung zu destabilisieren, der Washington im Dezember letzten Jahres noch Waffenlieferungen zugesagt hat, ist aber nicht in westlichem Interesse.
Arsen Awakow kontrolliert heute, ein Jahr vor der Präsidentschaftswahl, ein extrem mächtiges Innenministerium. Er ist Verbündeter, aber auch potenzieller Rivale des Präsidenten. Er koordiniert die Machtdemonstrationen nationalistischer Einheiten – wie etwa der rechtsextremen Nationalen Brigaden, die im Donbass an der Front kämpfen – oder gewalttätige Provokationen radikaler Gruppen, wie den Anschlag auf den Oppositionssender Inter im September 2016. Das bedeutet: Awakow unterstützt ein Netzwerk bewaffneter Gruppen, die neben den offiziellen Ordnungskräften existieren – und sich auf die Passivität oder das Wohlwollen der „Selfie-Polizei“ verlassen können.
1 Website des ukrainischen Innenministeriums, 11. November 2017.
Aus dem Französischen von Sabine Jainski
Sébastien Gobert ist Journalist und Mitbegründer des Journalistenkollektivs Daleko-Blisko.