12.07.2018

Schluss mit hyggelig

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Schluss mit hyggelig

Dänemark und die Grenzen der Wohlfahrt

von Mathias Greffrath

Ecaterina Vrana, I’m missing my sixteens, 2018, Öl auf Leinwand, 180 x 220 cm
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Das vertraute dänische Gefühl fängt gleich hinter der Grenze an. Mehr Platz für Knie und Ellbogen im Eisenbahnwaggon. Kleine schwarze Plastiktüten unter dem Sitz, mit dem Merkspruch: „Müll in die Tüte, Tüte in die Hand. Hand aufs Herz. Wo soll das enden? Auf dem Bahnsteig. Im Mülleimer. Danke.“ An den Stadträndern, rechts und links der Bahntrasse gepflegte, eingezäunte Gärten und überall die roten Fahnen mit dem weißen Kreuz. Keine Graffiti an der Bahnhofswand. Nicht die ekligen Croissants von Crobag, sondern eine duftende Bäckerei und ein sauberer Supermarkt im Bahnhof von Vejle. Die Kassiererin guckt erstaunt: „Sie wollen mit Bargeld zahlen?“ ­

Das dänische Gefühl ruht auf soliden Zahlen: die höchsten Mindestlöhne, die bestausgestatteten Schulen, die niedrigste Arbeitslosigkeit, der geringste Abstand der Einkommen, die größte Zufriedenheit, die glücklichste Bevölkerung – aus diesem Land kommen nur Erfolgsmeldungen.

Außerdem haben sie großzügig Boatpeople aus Vietnam aufgenommen und Radikale, die in Deutschland nach 1972 nicht in den öffentlichen Dienst durften. Ein Land, das 80 Jahre lang von der Sozialdemokratie geprägt wurde. Die zehn reichsten Dänen: kein Spekulant darunter, nur produzierendes Kapital. Sie haben es sich erarbeitet, das dänische Gefühl. Es war nicht immer so.

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Die Mauer ist solide, mehr als mannshoch, schwer zu überwinden, auch ohne den Stacheldraht, der sie früher krönte. Einst trennte sie die Arbeitsamen von den „arbeitsfähigen, aber faulen und unwilligen Subjekten“. Die Mauer zerteilt den Hof der ehemaligen Fattig-og Arbejdsanstalt, der Fürsorgeeinrichtung in der Kleinstadt Svendborg im Süden der Insel Fünen. Als sie 1872 in Betrieb genommen wurde, ging es um einen hochmodernen Versuch, den Armen aus der Schande herauszuhelfen: mit Arbeit, Gebet, Enthaltsamkeit. Wer würdig war, dessen Fenster blickten in die Stadt, wer asozial war, schaute auf den Hof.

Dreizehn Stunden am Tag mussten die Insassen für Unterkunft und Essen arbeiten, der Ausgang war streng reglementiert. Die letzten Bewohner wurden 1974 umquartiert. Seitdem ist Fattiggården ein Museum über die Frühzeit des dänischen Sozialsystems.

Ein helles Museum, mit originellen Exponaten: eine Zigarrenkiste voller Sturmfeuerzeuge, die den Rauchern abgenommen wurden; ein paar Männermagazine aus den 1950er Jahren mit üppigen, wohlbekleideten Frauen; Arrestzellen und die Arbeitsräume, in denen Holzstäbchen von Lutscher- und Speiseeisresten gereinigt und der Produktion wieder zugeführt wurden.

Ein Raum ist dem Obdachlosenmagazin Hus Forbi gewidmet, und einer der Statistik. Von 1999 bis 2011 hat sich die Zahl der offiziell Armen mehr als verdoppelt. Bei der Planung von Ausstellungen lädt das Museum Experten ein – nicht Professoren, sondern Obdachlose, Exalkoholiker, Fürsorgeklienten. „Wer, wenn nicht die, weiß, wie es ist“, sagt Esben Hedegaard, der Direktor des Museums. „Die Tragetasche haben wir zum Ersten Mai bedrucken lassen“, erklärt der freundliche Kassierer Henrik Taft im Museumsshop. Es sollen „wenige zu viel und ebenso wenige zu wenig haben“ steht darauf – ein Satz von Frederik Severin Grundtvig. „Der ist für uns so etwas wie Goethe bei Ihnen.“

Ich hatte von Grundtvig noch nie etwas gehört, aber ohne diesen Bischof, Schriftsteller und Philosophen kann man das dänische Gefühl kaum verstehen. Hier ist die Sozialdemokratie aus dem pietistischen Protestantismus hervorgegangen1 , aus der Armenpflege, den Volkshochschulen, den Genossenschaften, dem sozial aktiven Christentum und einer Vorstellung von Demokratie, in der die gewöhnlichen Menschen gleichberechtigt sein sollten mit den „Gescheiten, Gebildeten und Wohlhabenden“, wie Grundtvig es formulierte.

Der Egalitarismus, aber auch die konservative Fürsorgementalität, das hohe Maß an sozialer Sicherheit mit seiner Kehrseite, der Konformität, sind bis heute die emotionale Grundlage des dänischen Sozialstaats. Der wird nicht als Dienstleister begriffen, sondern als Gemeinschaft und als Voraussetzung der Bürgerschaftlichkeit: Nur wer frei von Sorge ist, kann Bürger sein. Deshalb zahlen Dänen nicht nur mehr Steuern als andere Europäer, sondern, wenn man sie fragt, zahlen sie sie auch gern, betrachten sie als Investition ins gute Leben.

So jedenfalls war es bis vor Kurzem, sagt Hedegaard. Seit den 1990er Jahren schleiche sich etwas ein: An die Stelle der Solidarität trete immer stärker das Gefühl, nicht genug zu haben, die Angst, etwas zu verlieren. Schwer zu messen, aber spürbar. „Vielleicht“, so überlegt der Direktor des Fürsorgemuseums, „liegt es ja daran, dass die Zeit der Not so lange her ist. Ich bin in den 1970er Jahren zur Schule gegangen, Armut war damals noch nicht so weit entfernt. Meine Mutter kam vom Bauernhof. Und die wusste noch, wie es ist, wenn man hungrig zu Bett geht.“

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„Der Zaun ermöglicht ihnen, sich frei zu bewegen“, sagt Annette Søby, die Projektleiterin im Bruyghus. Das Grundstück vor dem Heim, mit seiner grünen Mulde, dem Teich und dem Bach, erinnert an einen Dorfanger. Nur, um den Anger herum wachsen ein paar Hecken, und hinter den Hecken ein Zaun. Damit niemand verloren geht. Denn fast alle Bewohner des Bruyghus haben Alzheimer-Demenz.

Ein Gemüsegarten entsteht gerade, mit Beeten für Karotten, Kartoffeln, Salat. Vor dem Bauwagen können sie miteinander grillen, gleich daneben steht der Hühnerstall. Die Bewohner zahlen Miete und Verpflegung, rund 2000 Euro im Monat – selbst bei der Mindestrente bleiben da noch 500 Euro Taschengeld. Und die Pflegekosten werden in voller Höhe von der Gemeinde getragen – überall in Dänemark. Fast dreimal so viel Steuergeld wie in Deutschland ist den Dänen ein würdiges Lebensalter wert.2 Das macht sich vor allem im Personalschlüssel bemerkbar: Auf die 125 Bewohner im Bruyghus kommen 120 Betreuer und drei Krankenschwestern, die in Schichten arbeiten.

Im Restaurant – das Wort Speisesaal wäre unangemessen – unterhalten sich ein paar Bewohner lebhaft. „Hier gibt es jede Woche einmal Livemusik, dann tanzen wir und trinken ein paar Schnäpse“, erzählt die Projektleiterin Søby. Sie sagt „wir“, das fällt mir auf. Aber – Schnaps im Altersheim? „Ja, warum nicht?“ Sie sieht mich etwas ratlos an. „Wieso sollen wir denn nichts trinken. Wir mögen es gemütlich.“ Dann sagt sie das Zauberwort: „Wir Dänen haben es gern hyggelig.“

Es sich hyggelig machen, heißt natürlich auch: Tür zu. Um 17.30 Uhr sind die Straßen von Svendborg leergefegt. Die Geschäfte schließen, die Dänen sind daheim. Nur vor der Hafenbar sitzen noch ein paar Gestalten mit Bierflaschen und blinzeln in die Sonne.

In einem Bauernhaus am Skovbostrand, ein paar Kilometer außerhalb, wohnte von 1933 bis 1939 Bertolt Brecht mit Helene Weigel und seinen Mitarbeiterinnen Ruth Berlau und Margarete Steffin. Hier entstanden seine Theaterstücke „Leben des Galilei“ und „Furcht und Elend des Dritten Reiches“ und die „Svendborger Gedichte“. Zum Beispiel „Über die Bezeichnung Emigranten“:

Immer fand ich den Namen falsch, den man

uns gab: Emigranten.

Das heißt doch Auswandrer. Aber wir

Wanderten doch nicht aus, nach freiem

Entschluß

Wählend ein anderes Land. Wanderten wir

doch auch nicht

Ein in ein Land, dort zu bleiben, womöglich

für immer

Sondern wir flohen. Vertriebene sind wir,

Verbannte.

Das reetgedeckte Haus steht nicht mehr so einsam wie in den 1930er Jahren, und ein paar hundert Meter weiter liegt eine dieser graugestrichenen Wohnanlagen in Strandnähe, wie überall in Europa, und rundherum viele rote Dänenfahnen. Selbstverständlicher kommen sie mir vor, nicht so ostentativ wie unsere Kleingartenbeflaggungen.

Ein frischer Baumstumpf glänzt hell – war das der Birnbaum, unter dem Brecht und Walter Benjamin Schach spielten? „Es ist hier angenehm“, so hatte Brecht Benjamin eingeladen. „Gar nicht kalt, viel wärmer als in Paris. Wir haben Radio, Zeitungen, Spielkarten, Öfen, kleine Kaffeehäuser, eine ungemein leichte Sprache, und die Welt geht hier stiller unter. Außerdem verschafft einem die Svendborger Bibliothek jedes Buch.“

Dänemark war Transitland, als Zufluchtsort für Emigranten nicht sehr beliebt, vor allem wegen seiner restriktiven Haltung bei Visa für Kommunisten und Juden. Arbeitsgenehmigungen gab es vor allem für Sozialdemokraten und Intellektuelle. Flüchtlinge konnten nicht mit staatlicher Unterstützung rechnen. Als die deutsche Armee das Land 1940 besetzte – da lebten nur noch 1550 Flüchtlinge im Land –, verschifften die Dänen ihre jüdischen Bürger in einer Nacht-und-Nebel-Aktion nach Schweden. Brecht zog weiter nach Finnland.

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Das Büchereigesetz aus dem Jahr 1920 verpflichtet alle Kommunen, öffentliche Büchereien zu betreiben, und garantiert allen Bürgern den freien Zugang zu Kultur und Informationen. Zwei Drittel der Dänen nutzen öffentliche Bibliotheken.

Die prächtige moderne Bibliothek von Aarhus, direkt am Hafen, sieht ein wenig wie ein Terminal aus. Auf den bequemen roten Couchen schmökern Menschen aller Altersstufen, an den Tischen wird wissenschaftlich gearbeitet oder im Internet recherchiert, in einer schalldichten Koje, mit weichen Teppichen ausgelegt, können Kinder oder Liebespaare sich Märchen anhören.

Dies ist die größte Bibliothek Skandina­viens, aber sie hat auch einen Yogaraum und einen Turnraum für Kinder. Im Café findet Sprachunterricht statt, und im Erdgeschoss kann man seinen Ausweis abholen, seinen Führerschein verlängern, Behördendinge aller Art erledigen.

Dann und wann schlägt eine große Glocke im zweiten Stock: In einem der Krankenhäuser der Stadt ist ein neuer Bürger geboren worden, die Eltern dort haben auf einen Knopf gedrückt, um das schöne Ereignis hier auf der Bürgerbildungsinsel im Hafen publik zu machen.

Um halb neun eine freundliche Ansage: „Die Bibliothek wird geschlossen, aber Sie können noch bis 22 Uhr im Wohnzimmer bleiben.“ Wohnzimmer, das ist die Hälfte des Erdgeschosses, wo man in einem der roten Sessel weiterlesen kann oder noch einen Kaffee trinken. Ab jetzt ist nur noch ein Techniker im Haus, der schließt ab.

Ob Bücher gestohlen werden, frage ich, und ernte einen erstaunten Blick. „Letzte Woche hätten Sie hier sein müssen“, sagt Marie Østergaard, die Direktorin, „da waren 8000 Sänger hier im Haus, Chöre aus der ganzen Stadt und wer sonst noch Lust hatte zu singen. Von mittags bis Mitternacht. Alle kamen mit dem dänischen Oberschulgesangbuch, diese Tradition ist noch lebendig. Viele dieser global ausgerichteten jungen Menschen wollen sich in ihrer Kultur verankern.“

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„Neuseeland und wir liegen in der Digitalisierung ganz vorn. 90 Prozent der Bürger kriegen keine Post mehr von uns. Nur noch wer will.“ Hosea Dutschke ist gerade im Büro angekommen, mit dem Fahrrad, er ist der Chef von 7000 Angestellten im Gesundheits- und Pflegewesen der Stadt Aarhus. Dutschke, so sagt er selbst von sich, ist Bürokrat. Und einer, der Effizienz liebt: „Da liegen wir im Weltbank-Ranking auf Platz drei.“

In seinem Buch „Rudi und ich“, einem sehr intimen und klugen Buch der andauernden Trauer und Erinnerung an seinen Vater Rudi Dutschke, findet sich der Satz: „Ich bin ein Bürokrat. Bin dafür angestellt, den amtierenden Volksvertretern bei der Umsetzung ihrer Politik zu helfen. Das ist Demokratie – und das ist schön. Ein Bürokrat für das Schöne zu sein ist nicht das Schlechteste.“3

Dutschke glaubt an das dänische System der Pflege. Es geht einfacher, wenn es der Staat in der Hand hat. „Es entfällt der Einfluss der Versicherungswirtschaft“, sagt er, „die Vielzahl der Unternehmer, die Gewinn machen müssen. Aber vor uns liegt das Problem einer älter werdenden Gesellschaft und knapperer Mittel. Mit Rationalisierung, mit Technik wird man einiges auffangen können, und wir werden uns wohl auch an Pflegeroboter gewöhnen müssen.“

Von Dutschkes 7000 Mitarbeitern kommen 13 Prozent aus Ländern der Dritten Welt – offizieller Sprachgebrauch in Dänemark: aus dem nichtwestlichen Ausland –, das entspreche etwa ihrem Anteil in der Stadt. Und natürlich wachse ein Problem heran mit denen, die nicht integriert sind, die Sprache nicht sprechen, unqualifiziert sind. Und da sind auch noch die Grönländer. Wie genau sich hier Fremdenfeindlichkeit und Angst um den eigenen Wohlstand mischen, kann mir Dutschke nicht sagen.

Im Vordergrund steht in allen Gesprächen, die ich führe, immer das kühle materielle Argument: Wenn 80 Prozent der Dänen arbeiten und einzahlen, aber nur 50 Prozent der Migranten Arbeit haben, dann ist das eine Belastung. Die Parteien, sagt Dutschke, hätten das Problem lange verdrängt. „Nun hat uns die Dänische Volkspartei mit ihrer massiven Anti-Migranten-Politik gezwungen, uns ehrlich zu machen. Hier in Dänemark wird jetzt wenigstens über das Problem geredet. Die Schweden lügen sich immer noch etwas in die Tasche.“

Der Ökonom Torben Andersen von der Universität Aarhus sieht das System unter Stress. Mit dem liberalen deutschen Ökonom Hans-Werner Sinn hat er das dänische Sozialmodell analysiert. Titel: „Zu schön, um wahr zu sein?“4 Andersen lacht: „Der Sinn wollte gar nicht glauben, dass man mit so hohen Staatsausgaben dennoch ein so solides Wirtschaftswachstum verbinden kann.“

Doch der öffentliche Sektor ist auch einer der Gründe dafür, dass Dänemark die Krise der 1990er Jahre relativ unbeschadet überstanden hat. Die Qualität der kommunalen Dienste – relativ gesehen fünfmal so viele Beschäftigte, zehnmal so hohe Ausgaben wie in Deutschland – sorgt nicht nur für eine höhere Lebensqualität, sondern stabilisiert auch die Beschäftigung.

Hinzu kommt ein hohes Maß an Konsensbereitschaft, das auch die berühmte „Flexicurity“ ermöglicht hat: Dänischen Arbeitnehmern kann leicht gekündigt werden, sie erhalten aber über 80 Prozent ihres Gehalts als Arbeitslosengeld, und eine effektive Arbeitsverwaltung und die gute allgemeine Ausbildung sorgen dafür, dass sie schnell wieder in Arbeit kommen. 20 Prozent der Arbeitnehmer wechseln so jedes Jahr ihren Arbeitsplatz.

Wo sonst in der Welt gibt es eine Gewerkschaftschefin, die der Financial Times einen Brief schreibt, in dem sie das Sozialmodell ihrer Regierung preist? „Es gibt“, sagt der Ökonom Anderson, „bei uns keine hässlichen Kapitalisten, die den öffentlichen Sektor abbauen wollen, und niemand will die Steuern senken, bis auf ein paar Ultras.“

Das System ruht auf qualifizierten Arbeiternehmern, weswegen der Mindestlohn etwa anderthalbmal so hoch ist wie in Deutschland. Aber es funktioniert nur, wenn die meisten Menschen in Beschäftigung sind und die hohen Steuern zahlen.5 Der unqualifizierte Arbeitslose passt nicht ins System. Der unqualifizierte Arbeitslose, das ist der Migrant.

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Die Migrationsfrage ist – wie in allen europäischen Ländern – seit den 1990er Jahren zunehmend zur Münze im parteipolitischen Kampf um Prozente geworden. Für radikale Sprüche gibt es immer noch schnellere Schlagzeilen als für die Suche nach konstruktiven Lösungswegen.

Oft geht es ohnehin nur um publikumswirksame Parolen, die – jedenfalls bis jetzt – ohne Chance auf Verwirklichung sind. Die rechtspopulistische Dänische Volkspartei hat im Europarat den Vorschlag eingebracht, Menschenrechte im vollen Umfang nur noch dänischen Staatsbürgern zu gewähren – um die Barrieren für Abschiebungen zu senken. Und ihr Sprecher hat den ohnehin sinnlosen Plan, Wildschweine durch einen kilometerlangen Zaun von Dänemark fernzuhalten, mit der Bemerkung kommentiert, man könnte den Zaun ja auch noch ein wenig höher bauen, um auch andere am Grenzübertritt zu hindern.

„Ich will Dänemark unattraktiv für Asylsuchende machen“, lautet das Credo der Integra­tions­ministerin Inger Støjberg. Die fünfzigste Verschärfung im Ausländerrecht feierte sie mit einer Geburtstagstorte; inzwischen sind es 89 Maßnahmen, mit denen die Einwanderung gebremst und die Integration forciert werden soll.6

Der offizielle Plan der liberalkonservativen Regierung heißt „Dänemark ohne Parallelgesellschaft – keine Ghettos im Jahr 2030“. Er sieht vor, Migranten aus tatsächlichen oder vermeintlichen Brennpunkten zu evakuieren, um das Mischungsverhältnis von Migranten und ethnischen Dänen, von Sozialfällen und Integrierten zu verbessern.

Bislang wurde jedoch lediglich eine Verordnung erlassen, nach der Migrantenkinder ab dem zweiten Lebensjahr in eine Kita gehen müssen – bei Nichtbefolgung werden Sozialleistungen gekürzt. Seit Juni gilt das Tragen von Burka und Nikab als Ordnungswidrigkeit und wird mit einer Geldstrafe geahndet.

Unter dem Druck der allgemeinen Stimmung und ein Jahr vor den nächsten Wahlen haben nun auch die Sozialdemokraten ihre Position verschärft: Sie treten für Aufnahmezentren für Asylbewerber außerhalb von Europa ein – und sind damit zum europäischen Trendsetter geworden. Sie fordern wie die Konservativen schärfere Regeln für den Familiennachzug – und konterkarieren damit die Integrationsprogramme.

Sie wollen den Kindergartenbesuch obligatorisch machen und Schulen mit mehr als 50 Prozent Ausländeranteil abschaffen – das ist inzwischen nationaler Konsens. Und schließlich wollen sie die Geldleistungen an Migranten an eine 37-stündige Arbeitspflicht binden – um der besseren Integration willen und weil das dänische So­zial­system darauf beruht, dass „die große Mehrheit ihren Beitrag leistet“.

„Der neue Freiheitskampf“ heißt das Programm, das den Wohlfahrtsstaat bewahren soll,7 und bis auf die kleine linksgrüne „Einheitspartei“ sind alle Parteien für mehr oder weniger scharfe Grenzkontrollen und mehr oder weniger sozialpaternalistische Modelle der Integration. Auch die Direktorin der Dänischen Flüchtlingshilfe findet viele dieser Maßnahmen konstruktiv, Kritik übt sie nur am erschwerten Familiennachzug.8

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Feist wirkt der vollbärtige Mann am Cafétisch, ihm gegenüber kichert eine kindlich-blöde Frau. Der Kellner bringt ein Stück Torte, der Mann füttert die Nymphomanin, die sich unter dem Tisch selbst befriedigt, beide stöhnen, ältere Damen blicken indigniert, und am Nebentisch sitzt ein Mann, der in ein Notizheft schreibt.

Es ist der Schriftsteller Kasper Colling Nielsen, und die ganze Kaffeehausszene ist ein Werbespot für seinen Roman „Der europäische Frühling“:9 eine Dystopie über technischen Wahnsinn, hedonistische Dekadenz, verlogene Romantik – und die Oberschicht Europas, die in Gated Communities zieht. In diesem Buch errichten die dänischen So­zial­demokraten – noch bevor ihre echte Parteivorsitzende Jette Frederiksen den Vorschlag im Ernst machte – als Reaktion auf die zunehmenden ethnischen Konflikte in Europa und die anbrechende Völkerwanderung eine Containerstadt in Mosambik, in der Migranten eingezäunt, bewacht und von dänischen NGO-Idealisten betreut werden – die wird man dabei dann auch noch gleich los. Das Buch wurde zum politischen Knüller, Nielsen von Sozialdemokraten dafür gelobt.

In Kopenhagen treffe ich den Autor im Hinterhof seines Verlagshauses Gyldendal, dem ältesten und renommiertesten Dänemarks. „Das westliche Zivilisationsmodell ist zusammengebrochen“, sagt Nielsen, und seine Verzweiflung ist keine Pose. „Die Idee, dass die ganze Welt so denken und so leben wird wie wir, und unsere Idee der universalen Menschenrechte ist gescheitert. Vielleicht wollen diejenigen, die kommen, auch gar nicht so leben wie wir. Aber was immer wir tun, wir geben uns auf: Wenn wir unsere Grenzen öffnen, werden hunderte von Millionen kommen, von Not und Katastrophen getrieben; und wenn wir sie schließen, verraten wir unsere Werte. Wir bräuchten einen Philosophen, der uns das alles erklärt.“

Irgendwie sei es sinnlos geworden, zu kritisieren, wenn man keine Alternative anbieten könne. „Neulich habe ich einen Vortrag bei Amnesty gehalten: Wir auf der Linken müssen realistische Lösungen in der Migrationsfrage anbieten, habe ich gesagt, sonst machen es die anderen. Das ist nicht gut angekommen. Die glauben immer noch, es sei nur rechte Propaganda, zu sagen, man könne nicht alle reinlassen.“

Kürzlich hat Nielsen ein Theaterstück geschrieben, in dem die Wölfe in die Stadt eindringen und mit nichts zu bekämpfen sind – außer mit Poesie. Wenn man ihnen Gedichte vorliest, fliehen sie. Im „Europäischen Frühling“ sind es genmanipulierte sprechende Hunde und schreibende Elstern, die über Menschen- und Tierrechte philosophieren, und über Angst – die Furcht vor etwas, das wir nicht erkennen.

„Der Begriff der Angst“, das war das zweite große Buch von Søren Kierkegaard, der vor 200 Jahren im ersten Stockwerk dieses ehrwürdigen Verlagshauses Gyldendal die Borgerdyd School besuchte, die Schule für Bürgertugenden. Alles kommt darauf an, auch das hat Kierkegaard geschrieben, „was es heißt, Mensch zu sein, und zwar nicht, was es heißt, überhaupt Mensch zu sein, sondern was es heißt, dass du und ich und er und sie, dass wir jeder für sich Menschen sind“.

Wir finden keinen schönen Abschluss an diesem warmen Sommertag. Nielsen schließt sein Fahrrad los, wir gehen die Klareboderne entlang, er zeigt mir das Café in der Buchhandlung Busck. Im Eingang liegen drei große Stapel mit den Büchern von Mike Wiking, dem Direktor des Kopenhagener Glücksforschungsinstituts. Was ist Hygge? Was ist der Weg zu Hygge? Macht Hygge glücklich? Es geht um Kerzen auf dem Tisch, um das Reduzieren von Ansprüchen, um die Freude an kleinen Dingen: das Sonnenlicht, das Smörrebröd, die Wellen des Ozeans und: nicht zu oft in die sozialen Netzwerke schauen.

Das vertraute dänische Gefühl. „Warum sollten wir sie nicht reinlassen?“, hatte Henrik Taft, der Kassierer im Museumsshop in Svendborg, gesagt und dabei ein wenig gezwinkert. „Ich lese immer, dass uns im Jahr 2030 70 000 Handwerker fehlen sollen. Wir haben die Hugenotten reingeholt und dann die Polen, warum denn nicht die Menschen aus den, wie sagen die Politiker immer, ‚nichtwestlichen Ländern‘?“ Und wie hält er es mit dem Kopftuch? „Bei dem ständigen Wind in Dänemark ist das ein sehr nützliches Kleidungsstück.“

1 Martin Frenzel, „Wenige zu viel und wenige zu wenig“, Jahrbuch für Christliche Sozialwissenschaft, Bd. 46, Münster 2005, S. 271–291.

2 Vgl. Cornelia Heintze, „Die Straße des Erfolgs. Rahmenbedingungen, Umfang und Finanzierung kommunaler Dienste im deutsch-skandinavischen Vergleich“, Marburg 2013.

3 Hosea Dutschke, „Rudi und ich“, Berlin (Ullstein) 2013, S. 213 f.

4 European Economic Advisory Group, The EEAG Report on the European Economy, „Denmark: Too Good to Be True?“, CESifo, München 2016.

5 Bernt Bratsberg und Knut Roed, „The Nordic welfare model in an open European labor market“, in: Nordic Economic Review, 2/2015, S. 19–43.

6 Ruben Karschnik, „Das offene Dänemark verstummt“, Zeit Online, 9. Juni 2018.

7 Vgl. Elisabeth Bauer und Kai Gläser, „Dänemark diskutiert weitere Verschärfung des Asylrechts“, Länderbericht der Konrad-Adenauer-Stiftung, 20. Februar 2018.

8 Siehe den Beitrag von Jana Sinram, „Unattraktives Dänemark. Asylpolitik zur Abschreckung“, Deutschlandfunk Kultur, 25. Juni 2018.

9 „Det europæiske forår“, Kopenhagen 2017.

Mathias Greffrath ist Soziologe und Journalist. Dieser Artikel geht auf einen Beitrag zurück, den Greffrath im Rahmen seiner Reihe „Euro­päi­sches Handgepäck“ für den Deutschlandfunk verfasst hat.

© LMd, Berlin

Le Monde diplomatique vom 12.07.2018, von Mathias Greffrath