Appell aus Paris
Leider keine Zeit: Das ist eine Antwort, die jeder kennt, dessen Anliegen oder dessen Arbeit nicht die gebührende Aufmerksamkeit zuteil wird. Niemand findet mehr die Zeit, sich in ein „dickes“ Buch zu vertiefen, durch die Straßen zu schlendern oder ein Museum zu besuchen, einen Film von mehr als neunzig Minuten Länge anzusehen oder einen Zeitungsartikel zu lesen, der nicht direkt in sein Interessengebiet fällt. Was immer wir gerade tun – stets und ständig werden wir unterbrochen und abgelenkt, weil irgendwer oder irgendetwas anderes unsere Aufmerksamkeit in Anspruch nehmen will.
Dieser Zeitmangel ist nicht zuletzt die Folge von neuen Technologien, die angeblich dazu dienen, Zeit zu sparen. Wir reisen schneller, wir kommen schneller an die gewünschten Informationen, unsere Kommunikation hat sich beschleunigt – und das alles scheint lächerlich wenig zu kosten. Aber zugleich stehen nun alle unter permanentem Zeitdruck: Wir haben mehr Aufgaben in derselben Zeit zu bewältigen als je zuvor. Immer online, niemals im Verzug – niemals Zeit.1 Dazu kommt noch etwas anderes: zu wenig Geld. Auch wenn eine Zeitschrift wie Le Monde diplomatique heute weniger kostet als eine Packung Zigaretten – für viele Arbeitnehmer und allemal für viele Arbeitslose und Rentner stellt das eine nicht unerhebliche Ausgabe dar.
Daraus erklärt sich das schwindende Interesse an den kommerziellen Presseerzeugnissen. Viele Leser haben sich abgewendet, weil dieses Fenster zur Welt sich nur öffnet, wenn der Zusteller pünktlich ist oder wenn man zum Zeitungskiosk geht; aber damit hat man noch eine weitere Aufgabe auf dem überfüllten Terminkalender, noch etwas, das man lesen muss – und das auch noch Geld kostet. Xavier Niel, Betreiber des Mobilfunkanbieters Free und Miteigentümer von Le Monde, geht davon aus, dass Zeitungen überhaupt nur noch ein Menschenalter lang existieren werden.
Wenn die Verleger mit dem Angebot auf Computerbildschirmen und Tablet-PCs Geld verdienen könnten, müsste man sich vielleicht keine Sorgen machen. Ein Medium löst das andere ab, und das hätte sogar einige Vorteile: Wissenschaft, Kultur, Unterhaltung, Information – alles wäre schneller zugänglich, sogar an entlegenen Orten. Es wird der Demokratie nicht schaden, sollten dabei einige Periodika auf der Strecke bleiben, deren Zweck vornehmlich darin besteht, den Eigentümern Profit oder Einfluss zu sichern. Nur bieten die neuen Informationstechnologien nicht so viele Arbeitsplätze für Journalisten und nicht so hohe Einkommen wie einst. Wer nicht unentgeltlich arbeiten will – wie die meisten Blogger, die von anderen Einkünften leben –, sieht sich damit konfrontiert, keine berufliche Zukunft mehr zu haben.
Früher waren im Zug, in der Metro, im Café, bei politischen Veranstaltungen die Presseerzeugnisse allgegenwärtig. Wird man in Zukunft an solchen Orten noch etwas anderes sehen als kostenlose Zeitungen? Zahlen belegen, dass dies kein falscher Alarm ist: In Westeuropa und den USA sind die Auflagen in den vergangenen fünf Jahren um 17 Prozent gesunken, und dieser Trend setzt sich fort.
Als Gegenmittel gilt ein fragwürdiger Journalismus, der mit reißerischen Titelseiten arbeitet und sich um Persönlichkeitsrechte nicht schert oder in wilden Artikeln alle möglichen Themen – wie Provokationen von Karikaturisten oder Versammlungen islamistischer Splittergruppen – zu etwas ganz Großem aufplustert, das mit den „dunkelsten Jahren unserer Geschichte“ verglichen wird. Dieser Dauerlärm setzt sich in den Nachrichtensendern fort.
Es ist wird immer einfacher, mit irgendeiner Schrecklichkeit die Aufmerksamkeit in den Medien zu erregen und solche Nachrichten zu verbergen, die dem Leser mehr abverlangen, als den Gefällt-mir-Button unter einem wutschäumenden Blog zu drücken. So nimmt der Anteil der Peinlichkeiten und Katastrophenmeldungen in der Presse ständig zu, denn die meisten Verleger hoffen, wenigstens für ein paar Stunden irgendeinen Hype zu erzeugen. Aber kann man wirklich glauben, auf diese Weise eine zahlende Leserschaft zu halten, die genau dieses Angebot anderswo reichlich und umsonst findet?
Natürlich vor allem im Netz: Den 35 Millionen Franzosen, die täglich eine Zeitung lesen, stehen heute schon 25 Millionen Internetnutzer gegenüber (natürlich mit Schnittmengen), die täglich mindestens ein Presseportal aufrufen. Den Netzsurfern schien es bislang selbstverständlich, sich in einer Welt ohne Geld zu bewegen – außer natürlich, wenn sie den neuen Computer, das aktuelle Smartphone oder Tablet zu hohen Preisen kaufen. Denen, die Informationen recherchieren, verifizieren und redigieren, bringt die Gemeinde der Online-Leser kaum etwas ein. Nach und nach entsteht eine parasitäre Wirtschaftsstruktur, in der die einen den ganzen Profit einstreichen und die anderen die Kosten der „kostenlosen“ Information zu tragen haben.2
Die britische Tageszeitung The Guardian beispielsweise ist durch ihren Internetauftritt die Nummer eins in Großbritannien geworden und liegt weltweit auf Platz drei. Dennoch – oder soll man sagen: gerade deswegen – machte das Unternehmen im vergangenen Jahr Verluste in Höhe von 57 Millionen Euro und entließ rund 100 Journalisten. Das Internetgeschäft der Zeitungen verlangt bislang noch immer große Investitionen; der Zuwachs in diesem Bereich geht aber einher mit dem Rückgang des Kioskverkaufs. In Großbritannien lesen zwar fast 6 Millionen wöchentlich wenigstens einen Artikel im Guardian, aber nur 211 000 kaufen ihn täglich. Es ist diese kleine und schwindende Lesergemeinde, die den Internetnutzern die kostenlose Lektüre finanziert. Irgendwann wird diese Reise für alle zu Ende zu sein, weil es keinen Treibstoff mehr gibt.
Auch im Bereich der Werbung geht die Rechnung der Verleger nicht auf. Anfangs glaubte man, das Geschäft mit dem kostenlosen Internetangebot nach der wirtschaftlichen Logik der kommerziellen Radiosender und der Gratiszeitungen aufziehen zu können, die an U-Bahn-Stationen verteilt wurden. Dabei weiß man, wie es um die Programme der Privaten (RTL, Europe 1, NRJ und so weiter) bestellt ist: Sie sind nur noch Intervalle zwischen ohrenbetäubenden Werbespots.
Das Informationsangebot im Netz macht deutlich, dass es so nicht funktioniert. Auch wenn die Websites der Zeitungen hohe Besucherzahlen verzeichnen – die Werbeeinnahmen fließen eher spärlich. Den großen Gewinn machen vielmehr die Suchmaschinen im Netz. Marc Feuillée, Präsident des französischen Verbands der Zeitungsverleger (SPQN), sieht diese Unternehmen als die „höchste Instanz der Werbebranche; sie sind der Moloch, der fast die gesamten Etats unserer Inserenten an sich zieht“. Die Zahlen sind eindeutig: „Von 2000 bis 2010 ist der Umsatz der Suchmaschinenbetreiber im Bereich der Werbung von 0 auf 1,4 Milliarden Euro gestiegen, Die Presse hat [online] nur einen Zuwachs von 0 auf 250 Millionen Euro erzielt.“3
Zeitungen im Internet
Google weiß (ebenso wie Facebook) so genau Bescheid über unsere Vorlieben und Lektüregewohnheiten als Nutzer, dass die Firma für ihren gewaltigen Bestand an persönlichen Daten jederzeit Abnehmer in der Werbebranche findet, die sich derer bedienen, um ihre Zielgruppen besser ansteuern zu können. Google erweist sich auch als Meister in der Kunst, die Steuervorteile von Irland bis zu den Bermudas zu nutzen. Das multinationale Unternehmen findet alle Schlupflöcher, um trotz satter Gewinne fast keine Steuern zu zahlen.
Der Presse dagegen geht es schlecht, und die meisten Zeitungen versuchen, das durch etwas geschönte Verkaufszahlen zu kaschieren.
Wir, Le Monde diplomatique, wollen ganz offen sein, dafür sind wir ja bekannt: Seit Januar 2012 ist die verkaufte Auflage der französischen Ausgabe um 7,2 Prozent gesunken. Zeit und Geld sind knapp geworden; wir sind etwas entmutigt angesichts einer Krise, die genau so verläuft, wie wir es – früher als die meisten – vorhergesehen hatten, die wir aber auch nicht im Alleingang bewältigen können. Diese wirtschaftliche und soziale Herausforderung, auf die politische Antworten nicht gefunden wurden, hat auch uns getroffen.
Zu den sinkenden Verkaufserlösen kommt der erneute Rückgang der Werbeeinnahmen. Den vielen Lesern, die solche Einnahmen nicht besonders schätzen, hatten wir einst versprochen, dass die Werbung nie mehr als 5 Prozent unseres Umsatzes ausmachen sollte. 2012 werden es nicht einmal 2 Prozent sein. Dank unserer klaren Linie in der Preispolitik – wir verkaufen unser Produkte nicht zum Schleuderpreis, und wir bieten unseren Abonnenten nichts anderes an als die bestellten Publikationen – und auch dank der jährlichen Spendenkampagne, die uns zur Finanzierung neuer Projekte dient, halten sich die Verluste in Grenzen. Dennoch wird die französische Le Monde diplomatique 2012 Verlust machen, und ob sich das im kommenden Jahr ändert, bleibt ungewiss.
Ein kleiner Hoffnungsschimmer zeigt sich aber auch: In den nächsten Monaten wird in Paris eine neue Online-Ausgabe gestartet, die den Lesern erlaubt, jederzeit zwischen dem Format der gedruckten Ausgabe mit dem gewohnten Seitenlayout und einer für die Bildschirmdarstellung optimierten Fassung zu wechseln. Außerdem ist eine Ausgabe für die Darstellung auf Tablets und E-Books in Vorbereitung. Unser Archiv stößt auf großes Interesse, und der Verkauf unserer letzten DVD übertraf alle Erwartungen. Zudem wollen wir unseren Abonnenten das Angebot machen, für eine geringe Gebühr jederzeit auf alle Artikel zugreifen zu können, die seit der ersten Ausgabe im Mai 1954 publiziert wurden. Für alle Leser, nicht nur für Abonnenten, wird es demnächst möglich sein, zu einem Pauschalpreis einige Tage lang unsere Archive zu nutzen. Natürlich hat uns dieser neue Internetauftritt, der voraussichtlich Anfang des kommenden Jahres verfügbar sein wird, viel Mühe gekostet – wir hoffen, daraus Einkünfte zu erzielen, mit denen wir unsere Unabhängigkeit verteidigen können.
Doch wir müssen auch den Verkauf der Zeitung stärken. Das heißt zunächst, dass sie bekannt sein muss – und hier wirkt sich der Niedergang der Vertriebsnetze negativ aus: Immer mehr Kioske und Zeitungsläden haben in den letzten Jahren schließen müssen, in den kleinen Läden am Ende der Kette arbeiten Menschen unter schlechten Bedingungen bei unzumutbaren Arbeitszeiten. Aber genau dort finden wir den ersten Zugang zu unseren Lesern. Wie sonst erfahren Menschen, die unser Blatt noch nicht abonniert haben, was wir an Recherche, Analyse und Reportagen bieten?
Le Monde diplomatique, die wichtigste weltweit erscheinende Zeitung Frankreichs mit 51 Ausgaben in dreißig Sprachen, hat im gut funktionierenden Referenzsystem der Medien in Frankreich offenbar keine Chance.3
Letztlich ist das aber nicht so entscheidend: Unser soziales Netzwerk sind die Leser. Sie, die Leser, haben es in der Hand, diese Monatszeitung bekannt zu machen, ihre Werte, ihre intellektuelle Neugier und ihr Engagement anderen nahezubringen. Und sie zu überzeugen, dass man nicht auf jede aktuelle Polemik reagieren, nicht bei allem folgenlos mitmachen, nicht alles mitnehmen muss, ohne etwas zu behalten. Dass es vielleicht – einmal im Monat – guttut, die Orte lautstarker Auseinandersetzungen zu verlassen und in Ruhe nachzudenken.
Wozu dient eine Zeitung? Um zu lernen und zu verstehen. Um etwas Zusammenhang in das Getrommel der Welt zu bringen, statt nur Informationen anzuhäufen. Um Konflikte zu überdenken und deren Kontrahenten zu kennen und bekannt zu machen. Um nicht mit einer Macht solidarisch zu sein, die die Werte verrät, die sie zu vertreten behauptet. Um die identitäre Festschreibung des „clash of cultures“ zurückzuweisen, in der vergessen wird, dass zum Erbe des „Westens“ die Plünderung des Sommerpalasts in Peking und die Umweltzerstörung gehört, aber auch Gewerkschaften, Ökologie und Feminismus; dass es nicht nur den Algerienkrieg gab, sondern auch die „Kofferträger“. Und dass in den Ländern des „Südens“, die den Kolonialismus abgeschüttelt haben, vormoderne religiöse Kräfte und gierige Eliten ebenso präsent sind wie Bewegungen, die sie bekämpfen. Es gibt den taiwanesischen Konzern Foxconn und die Arbeiter von Shenzen.
Wozu dient eine Zeitung? In Zeiten der Resignation und des Rückzugs kann sie neue Wege sozialer, wirtschaftlicher und ökologischer Verhältnisse erkunden.4 Sie kann Austeritätspolitik bekämpfen, eine kraft- und ideenlose Sozialdemokratie anspornen und tadeln: In dieser Zeitung wurde die Idee einer Besteuerung von Finanztransaktionen (Tobin-Steuer)5 und das Konzept einer Obergrenze für individuelle Einkommen erstmalig verbreitet.6 Eine Zeitung kann eben auch etwas anderes sein als das Sprachrohr von Industrie und Handel; kein Feind all derer, die die Erde vor Schaden bewahren und eine bessere Welt wollen.
Die Verantwortung für den Fortbestand einer solchen Zeitung sollte also nicht allein auf der kleinen Gruppe ihrer direkten Mitarbeiter ruhen. Wir verlassen uns auch auf Sie, unsere Leser. Gemeinsam nehmen wir uns die Zeit, die wir brauchen. Serge Halimi