Die Ohnmächtigen von Tripolis
In Libyen wollen viele Gruppen den Aufbau eines funktionierenden Staats verhindern von Patrick Haimzadeh
Libyen hält sich nicht an Vorhersagen. Das kam bei den westlichen Medien erst so richtig nach dem furchtbaren Anschlag auf das Konsulat in Bengasi an, bei dem der US-Botschafter Christopher Stevens und drei seiner Mitarbeiter am 11. September getötet wurden. Seitdem interessiert sich der Westen wieder für die Sicherheit in Libyen. Dabei hatte sich die Lage schon seit dem Sturz des Gaddafi-Regimes kontinuierlich verschlechtert.
Zuletzt war Libyen im Juli in den Schlagzeilen gewesen, als die Parlamentswahlen einen Sieg der „liberalen“ Allianz von Mahmud Dschibril über die Partei der Muslimbruderschaft brachten. Die Allianz hatte 39 von 80 Sitzen errungen, die Bruderschaft kam auf 17. Weil sie die Komplexität der politischen Landschaft Libyens nicht verstanden, beschränkten sich viele ausländische Beobachter auf die Wahlanalyse und erklärten Dschibril umstandslos zum neuen Mann für Libyens Zukunft.
Das war zumindest verfrüht. Denn die neue Nationalversammlung erkor Mohammed Magarief zu ihrem Präsidenten, dessen moderat islamistische Partei Nationale Front bei den Wahlen nur drei Sitze errungen hatte. Und am 12. September wählte das Parlament zunächst Mustafa Abu Schagur zum Ministerpräsidenten, der zwei Stimmen mehr als Dschibril bekommen hatte. Doch das Parlament verweigerte Schagur, der vor allem von den islamistischen Kräften unterstützt wird, die Zustimmung zu seinem „Krisenkabinett“ und setzte den Ministerpräsidenten bereits am 7. Oktober wieder ab.
Die Komplikationen bei der Bildung der ersten „demokratischen Regierung“ zeigen, wie schwierig es ist, Libyens politische Landschaft mit den im Westen üblichen Kategorien zu erfassen. Denn nur zu oft durchkreuzen lokale oder tribale Treuepflichten und Rivalitäten die simple Gegenüberstellung von „Liberalen“ und „Islamisten“.
Die beiden Kandidaten für den Posten des Regierungschefs versuchten ihre Wahl durch das Parlament mit Hilfe klientelistischer Versprechungen abzusichern. Inhaltliche Debatten spielten keine Rolle. Bei der Ausarbeitung der künftigen libyschen Verfassung dagegen wird die Frage nach dem Stellenwert der Religion eine zentrale Rolle spielen. Vorerst bleibt allerdings unklar, wie und von wem die sechzigköpfige Expertenkommission für die Ausarbeitung der Verfassung berufen werden soll: per Volksabstimmung oder durch das Parlament?
Obwohl das Parlament erst vor kurzem gewählt wurde, scheint es den Bezug zur libyschen Bevölkerung bereits verloren zu haben: Mahmud Dschibril, der Wahlsieger vom Juni, wurde in der neuen Regierung nicht berücksichtigt. Über die Durchsetzungsfähigkeit des Kurzzeitregierungschefs Schagur machten sich die meisten Libyer sowieso keine Illusionen. Man traute ihm nicht zu, den Staat wiederaufzubauen und das Land zu einen. Er war schließlich Mitglied der Übergangsregierung gewesen, die an der Sicherheitsfrage gescheitert war. Seine Kritiker warfen ihm noch seine Nähe zu den Golfstaaten vor, wo er als Forscher und Ingenieur gearbeitet hat, und überhaupt seine lange Abwesenheit: Nach 30 Jahren lebt er erst seit Mai 2011 wieder in Libyen.
Diese mangelnde Verankerung der technokratischen Elite, die weder über Verbindungen in den Staatsapparat noch über einen verlässlichen Sicherheitsapparat verfügt, erklärt zum Teil die aktuelle Situation in Libyen. Was die Sicherheitslage betrifft, so gehen die bewaffneten Konflikte inzwischen über reine Stammesrivalitäten hinaus. Immer wieder kommt es zu Vergeltungsaktionen zwischen verschiedenen Milizen, und politische Gegner werden umgebracht.
Der Anschlag auf das US-Konsulat gehört zu einer ganzen Serie von Angriffen, die im Januar 2012 begannen und die Handschrift salafistisch-dschihadistischer Gruppen tragen. Sie richten sich gegen Vertreter westlicher Staaten – im Juni wurde der Konvoi des britischen Botschafters beschossen, dabei wurden zwei Leibwächter verletzt – oder westliche Einrichtungen. Zu all diesen Operationen bekannte sich die Brigade von Scheich Omar Abderrahman aus Ägypten, der wegen seiner Beteiligung am Bombenanschlag auf das World Trade Center 1993 derzeit eine lebenslange Haftstrafe in den USA absitzt. Die Gruppe Abderrahmans ist in der gesamten Kyrenaika und insbesondere in der ostlibyschen Stadt Derna verwurzelt.
In den letzten Monaten häuften sich die Angriffe auf Marabut-Gräber1 und Sufi-Mausoleen (türbe), die in den Augen der Salafisten gegen die orthodoxe Lehre des Ur-Islam verstoßen. Die salafistische Miliz Ansar al-Scharia (Getreue der Scharia), die ihre Hochburg in Bengasi hat, beteiligt sich zwar an diesen Aktionen, ist aber gleichzeitig immer bemüht, sich von den antiwestlichen Angriffen zu distanzieren. Die schwer bewaffneten Mitglieder dieser Miliz, von denen einige bereits in den 2000er Jahren im Irak und in Afghanistan kämpften, hatten sich von Anfang an dem Aufstand gegen das Gaddafi-Regime angeschlossen und an allen Kämpfen bis zur Einnahme von Syrte im Oktober 2011 teilgenommen.
Unter dem Banner der Brigade „Schutzschild Libyens“ hat sich die Gruppe in diesem Jahr neu formiert. Und zwar offiziell auf Geheiß des libyschen Verteidigungsministeriums, das die Kämpfer nach Kufra und Sebha schickte, um dort nach den gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Tubu und lokalen arabischen Stämmen die Ordnung wiederherzustellen.
Als die Brigade im Juli 2012 nach Bengasi zurückkehrte, wurde sie vom „Kommando für präventive Sicherheit“, das aus ehemaligen islamistischen Kämpfern besteht, mit dem Schutz der Stadt betraut. Die Einheiten des „Schutzschild Libyens“ genießen heute also den offiziellen „Segen der Revolution“ und haben entsprechenden Einfluss in den noch im Aufbau befindlichen Ministerien für Inneres und Verteidigung.
Ähnlich sind die Machtverhältnisse in den Städten Tripolis und Misurata. Sie beruhen häufig auf Absprachen zwischen einigen salafistischen Milizen und den obersten Sicherheitsräten der Städte, die offiziell dem Innenministerium unterstehen. Tatsächlich aber unterliegen sie einzig dem Befehl ihrer Chefs, wobei auch die häufig der islamistischen Bewegung entstammen. In den letzten Monaten gab es zahlreiche Fälle, bei denen mitten in den Zentren von Bengasi, Tripolis und Zliten am helllichten Tage Marabut-Grabstätten und andere Sufi-Einrichtungen zerstört wurden, ohne dass die Milizen des jeweiligen städtischen Sicherheitsrats eingegriffen hätten.
Deshalb sind es häufig Zivilisten, die sich organisieren, um den Milizen entgegenzutreten. Am 21. September attackierten mehrere tausend Bewohner von Bengasi drei Kasernen von salafistischen Milizen (darunter auch ein Quartier der Ansar al-Scharia) und forderten deren Auflösung. Nach dieser bewaffneten Auseinandersetzung, bei der nach offiziellen Angaben 11 Menschen starben, erklärte die Regierung erneut, sie werde diejenigen Milizen auflösen, „die nicht dem Innen- und dem Verteidigungsministerium unterstehen“.
Auch außerhalb der Städte haben sich Zivilisten gegen die Milizen organisiert und die Gräber ihrer Heiligen mit der Waffe in der Hand verteidigt. So geschah es zum Beispiel am 7. September im Dorf al-Radschma, etwa 50 Kilometer von Bengasi entfernt. Einige Tage zuvor wollten Salafisten die denkmalgeschützten Mosaike der römischen Ruinen von Silin, etwa 100 Kilometer östlich von Tripolis, und ein Marabut-Grab in der Küstenstadt Sorman zerstören. Doch das konnten die Einheimischen verhindern.
Das System Gaddafi bestand im Grunde nur aus einer Fassade offizieller staatlicher Institutionen, deren Macht in der Realität sehr begrenzt war. Könnte es sein, dass das Post-Gaddafi-Libyen auf ein ähnliches System hinausläuft, mit politischen Institutionen, deren Macht nur auf dem Papier existiert? Die diplomierten Technokraten und Minister, die den Großteil ihres Lebens im Exil verbracht haben, beziehen ebenso wie die Abgeordneten ein Monatsgehalt von 9 000 libyschen Dinar (etwa 6 000 Euro) und logieren das ganze Jahr über in den 250-Dollar-Suiten der 5-Sterne Hotels von Tripolis. Aber sie haben keinerlei Kontrolle über die Sicherheitsorgane, die das Gewaltmonopol des Staats durchsetzen sollen.
Es sind ganz unterschiedliche Akteure, die ein Interesse daran haben, den Aufbau eines starken Staats mit allen Mitteln zu verhindern: Von den kleinen Chefs der lokalen salafistischen Gruppen über bestimmte Einheiten des Innen- und Verteidigungsministeriums, die den Salafisten ideologisch nahestehen, bis hin zu den mafiösen Gruppen, die von der allgemeinen Unsicherheit profitieren und florierende Geschäfte aufgebaut haben.
Der große Verlierer ist der Rest der libyschen Bevölkerung, deren hohe Wahlbeteiligung am 7. Juli ein Vertrauensbeweis für ihre zukünftigen Volksvertreter war.2 Ein Jahr nach dem Sturz des Gaddafi-Regimes ist das Leben in Libyen durch vier Hauptmerkmale gekennzeichnet: eine zunehmend prekäre Sicherheitslage, sich verschlechternde Lebensbedingungen, fehlende staatliche Strukturen und die Attacken der Salafisten, deren Ideologie die allermeisten Libyer nicht teilen. Angesichts dieser nicht gerade optimistischen Perspektive könnte es sein, dass sich die Leute immer mehr zurückziehen.
Der neue Ministerpräsident wird von Washington gedrängt, massiv gegen die Verantwortlichen des tödlichen Anschlags auf Christopher Stevens vorzugehen. Auch deshalb scheint Schagurs Handlungsspielraum zumindest kurzfristig sehr begrenzt zu sein. Und dann kommt auch noch erschwerend hinzu, dass dem Regierungschef zuverlässige militärische Einheiten fehlen, die sich in der bergigen Region auskennen, in der sich die Abderrahman-Brigade aufhält, die den Anschlag auf Stevens organisiert haben soll. Im Hinblick auf die Souveränität des neuen Libyen wäre es das allerschlimmste Szenario, wenn die USA beschließen würden, zu „gezielten Tötungen“ von vermeintlichen Terroristen durch Drohnen überzugehen, wie sie es schon in Afghanistan und im Jemen getan haben.