12.10.2012

Zug nach Süden

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Zug nach Süden

Für viele Afrikaner ist Südafrika das Gelobte Land. Eine Reportage über die Etappen einer schwierigen Reise von Guillaume Pitron

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Schon Mittag! Etienne Bokoli, der junge Übersetzer aus dem Kongo, wird ungeduldig. Die Wintersonne steht senkrecht über den Wellblechdächern von Messina, einem südafrikanischen Dorf an der Grenze zu Simbabwe. Und keine Spur von seinem Freund Babasar, der seit sieben Uhr mit hunderten Illegalen im Aufnahmezentrum für Flüchtlinge festgehalten wird. „Er hat heimlich die Grenze überquert und sich heute Morgen bei der Einwanderungsbehörde gemeldet. Er war so verstört, dass er nicht mal mehr Englisch konnte. Ich hab dann für ihn übersetzt“, erzählt Bokoli, der sich ein paar Rand1 für seine Dienste erhofft.

Ein Flug von Dakar nach Kinshasa, ein zweiter bis Lubumbashi im südlichen Kongo, dann einen Monat lang Irrfahrten durchs angrenzende Sambia und durch Simbabwe. „Jedes Jahr gelangen tausende Illegale aus dem Norden Schwarzafrikas nach Messina“, berichtet Mpilo Nkomo von der Internationalen Organisation für Migration (IOM). Für ein paar hundert Rand nehmen Fluchthelfer aus Simbabwe den dreifach verstärkten Stacheldrahtzaun an der südafrikanischen Grenze auseinander und helfen bei der Überquerung des Grenzflusses Limpopo. „Männer, Frauen und Kinder schwimmen nachts hier rüber“, berichtet Nkomo. Wer Pech hat, wird im Busch von Schleusern ausgeraubt oder von Krokodilen und Schwarzen Mambas angegriffen.

Wenn sie die Grenzpatrouillen hinter sich gelassen haben, drängen sie sich hinter den roten Gittern des Aufnahmezentrums. Von Mauretanien bis Somalia, vom Tschad bis Simbabwe sind hier alle Länder Afrikas südlich der Sahara vertreten. Nacheinander kommen sie mit einer vorläufigen Aufenthaltsgenehmigung wieder heraus. Unter ihnen ist auch Babasar. Er zittert immer noch allen Gliedern. Er hat es geschafft, aber die Angst, kurz nach der letzten Grenze verhaftet zu werden, ist er noch nicht los. Am Busbahnhof steigt er in ein Sammeltaxi. Bald ist der Kleinbus nur noch ein weißer Punkt auf der Straße nach Johannesburg.

Jede Woche, erzählt Bokoli, begegne er im Schnitt fünf Flüchtlingen aus Westafrika. „Vor allem Senegalesen und Ghanaer. Unglaublich, was sie für einen Weg zurückgelegt haben. Die Reise ist noch härter als das Leben, vor dem sie geflohen sind.“ Davon kann Ismaël Fofana in Johannesburg ein Lied singen. Er selbst kam vor einigen Jahren aus Abidjan hierher. Jeden Tag bekomme er Anrufe von zu Hause, von Leuten, die auch in Johannesburg leben wollen. „Ich warne sie, aber das ist ihnen egal. Spätestens seit der Fußball-WM 2010 träumen alle von Südafrika.“

In Abidjan, der größten Stadt der Elfenbeinküste, 9 000 Kilometer Asphalt- und Sandpisten von Johannesburg entfernt, erheben sich stolze, schon etwas verwitterte Hochhäuser über dem Golf von Guinea. Im April wartet die ganze Stadt unter der klebrigen Hitze auf die Gewitter, die die Regenzeit ankündigen. Sogar die Wôro Wôro, die Peugeots 504, die als Gemeinschaftstaxen dienen, scheinen langsamer zu fahren als sonst.

„In Abidjan kann man nicht leben, nur überleben.“ Razak Bakare humpelt, an seinem Hals baumelt eine Kamera. Der gelernte Fotograf trauert der „Belle Époque“ unter Präsident Houphouët-Boigny2 nach. Wirtschaftskrisen, politische Machtkämpfe, Bürgerkrieg … Der Niedergang der Elfenbeinküste führt dem frankofonen Afrika den eigenen Abstieg vor Augen. Die schweren Kämpfe nach den Wahlen von 2010 haben dem Land den Rest gegeben.3

„In der Elfenbeinküste hast du die Wahl zwischen zwei Todesarten: Entweder du bleibst und das Elend bringt dich um, oder du wagst das Abenteuer und hoffst durchzukommen“, erklärt Razak. Früher zog es die Auswanderer immer nach Frankreich, die einstige Kolonialmacht. Doch kulturelle Nähe ist nicht mehr so wichtig wie die Wirtschaft. Außerdem wurden die Bedingungen für die Einwanderung nach Europa verschärft. Die früher stets auf das Mittelmeer gerichtete Kompassnadel weist heute zu den aufstrebenden Ländern Afrikas, unter denen eines das „neue Amerika“ genannt wird: Südafrika.

Koné aus Abidjan möchte einen Film über Mandela drehen

„Südafrika ist leichter zugänglich als Europa“, erklärt der 24-jährige Fabrikarbeiter Felix Gnammoua. „Für die gleiche Arbeit werde ich dort zehnmal mehr verdienen als in Abidjan!“, behauptet der Englischlehrer Tiemeko Koné. Er träumt davon, das Miteinander von Schwarz und Weiß zu erleben, einen Dokumentarfilm darüber zu machen und Nelson Mandela zu treffen. Für Visum und Flug plant er 2 Millionen Francs CFA4 ein – drei Jahre Durchschnittslohn. „Ich fahre, sobald ich das Visum habe, Inschallah!“

Neben diesen vergleichsweise wohlhabenden Abenteurern gibt es eine zweite Klasse von Migranten: Sie können sich kein Flugticket leisten und nehmen den Landweg. „Ich habe genug gespart, um die Reise in ein paar Wochen zu schaffen“, versichert Falla Bouanama. Der schöne, in einen eleganten roten Kaftan gehüllte junge Mann ist voller Vorfreude: „Eigentlich gehe ich nach Hause zurück!“ Nach sieben Jahren in Südafrika war Falla in die Elfenbeinküste zurückgekehrt, um seine Familie zu besuchen. Und nun träumt er davon, wieder aufzubrechen. Seine Augen glänzen bei der Erinnerung an die Sonnenuntergänge am Strand von Durban und an die vornehmen Viertel von Johannesburg, wo er als Schwarzhändler sein Geld verdient hat.

Auf der Suche nach einem besseren Leben gehen die Söhne von Nouakchott in Mauretanien bis Lagos, Nigeria, heute genau in die entgegengesetzte Richtung ihrer Väter. In Abidjan bieten Dutzende Transportunternehmen an, die Reise zu „erleichtern“. Sanogo Bassikini und Edouard Amoussou haben ihr Büro in einem unauffälligen Busbahnhof im Stadtviertel Port-Bouët, zwischen der Straße nach Ghana und den roten, von den Atlantikwellen umspülten Sandstränden. Die beiden Unternehmer geben zu, „nicht immer nur legale Sachen zu machen“, aber was soll’s? „Alle Fahrer treiben in Abidjan ein bisschen Schwarzhandel.“

Bürger von Mitgliedstaaten der Westafrikanischen Wirtschaftsgemeinschaft Ecowas brauchen kein Visum. Für 75 000 Francs CFA kommen sie in fünf Reisetagen von Abidjan durch Ghana, Togo, Benin und Nigeria nach Calabar an der Grenze zu Kamerun. Doch für die DR Kongo brauchen sie ein Visum. Und das können sich die meisten nicht leisten. Deshalb tauchen sie in die Illegalität ab. Bassikini lässt seine Finger über die Afrikakarte fliegen. „Sie werden sehen, alle Illegalen treffen sich in Kamerun wieder.“

Die Auswanderung nach Johannesburg vollzieht sich selten in einem Rutsch. An den einzelnen Etappenzielen harren die Reisenden ein paar Tage oder auch Jahre aus, bis sie wieder genug gespart haben. 2 500 Kilometer von Abidjan entfernt hat eine Schar von Migranten, nach Nationalitäten gruppiert, bei den Märchenerzählern vom Marché Congo im kamerunischen Duala Unterschlupf gefunden. In dem von Schrottläden und Papayaständen gesäumten Gassengewirr des Markts, durch den eine Geruchsmischung aus Suppenwürfeln und gebratenem Huhn zieht, unterbricht der Ruf des Muezzins ihre Geschichten über raffgierige Schlepper, korrupte Polizisten und brutale Straßenräuber.

„500 Francs“ mit dem Moped vom Markt entfernt – hier zählt man nicht gern in Minuten – berichtet ein Reisender von seiner Irrfahrt. „Die Reise nach Südafrika ist wie eine Reise zum Mond!“ Bruno Birmin aus Ghana, gebildet und mit hellwachem Blick, ist, um im Bild zu bleiben, einer von vielen einsamen Kometen auf der Milchstraße der illegalen Migration. „Jede afrikanische Familie hat ihren Helden: einen Fußballspieler, einen Sänger oder eben einen Abenteurer.“ Vor ein paar Jahren wurde er auserwählt, die Träume seiner Familie zu verwirklichen: „Fortgehen, Erfolg haben und mit Western Union Geld nach Hause schicken.“ Die Fortsetzung erzählt er in einer Mischung aus Lachen und Tränen: eine Irrfahrt bis nach Brasilien, die Mädchen an den Stränden der Copacabana, der Schweiß auf den Baumwollfeldern der Dominikanischen Republik, der Traum von Nordamerika, der durch das Erdbeben von 2010 in Haiti abrupt endete. Als er durch die UNO zurück nach Ghana kam, „hat mich niemand mehr respektiert. Ich war erledigt.“

„Um den Respekt zurückzugewinnen, musste ich wieder aufbrechen – diesmal nach Südafrika.“ Der Weg der Erlösung führte ihn in den Laderaum eines Frachtschiffs nach Duala – mit nichts als „ein paar Früchten, Sardinenbüchsen und einem Handtuch“ im Gepäck. Nach achttägiger Reise „mussten wir nachts anlegen und der Polizei 10 000 Francs bezahlen. Dann habe ich noch einen Polizisten bestochen, um einen gefälschten Kameruner Personalausweis zu bekommen.“ Seit fünf Monaten lebt Bruno jetzt schon von Gelegenheitsjobs. Wann wird er wohl an sein Ziel gelangen? „Keine Ahnung, vielleicht in einem Jahr?“

Für 20 000 Franc von Akwa nach Bata

Jedes Jahr versuchen 25 000 Westafrikaner5 , 20 000 Äthiopier und Somalier6 und hunderttausende Simbabwer und Mosambikaner7 – fast nur Männer – nach Südafrika zu gelangen. „Diese Burschen sind bereit, jeden Preis zu zahlen“, meint der Politologe Jean-Emmanuel Pondi. Doch für viele endet die Flucht schon in Gabun, Angola oder Äquatorialguinea. Europas Angst vor der Invasion der armen Flüchtlinge aus Afrika wird zwar von den Medien mit spektakulären Fotos von überfüllten Booten im Mittelmeer genährt. Doch diese Bilder erzählen nur die halbe Wahrheit: „Von hundert afrikanischen Migranten erreichen nur fünf Nordamerika und einer Europa. 92 emigrieren in ein anderes afrikanisches Land. Afrika entdeckt sich selbst.“8

Die größten Migrationsströme fließen in angrenzende Staaten, etwa wenn Dörfler in Minen oder auf Farmen des Nachbarlands arbeiten. Nur die Waghalsigen überschreiten die regionalen Grenzen. Auswanderungen quer durch den Kontinent bis hinunter nach Südafrika sind eher die Ausnahme. Tatsächlich steckt in der Überwindung der von den früheren europäischen Kolonialmächten willkürlich festgelegten Grenzen ein immenses wirtschaftliches Potenzial.

„Jeden Donnerstag um fünfzehn Uhr setzt sich Ngom in eine Snackbar in Akwa. Kurz danach weiß das ganze Viertel Bescheid“, erzählt Emmanuel Bienvenu, der Mittler aus Kamerun. Der Nachmittag verstreicht unter dem Lärm der Hupen und dem Dröhnen der Motoren auf dem Boulevard de l’Unité. Mit schläfrigem Blick überwacht Ngom, wie die Leute in einen Reisebus einsteigen, der nach Bata (Guinea) fahren wird, während im ersten Stock eine herausgeputzte junge Frau 20 000 Francs pro Fahrgast kassiert. „Das ist das Dreifache des üblichen Tarifs, aber dafür schmiert Ngom auch die Grenzer, damit sie niemanden kontrollieren“, erklärt Bienvenu. Sogar die guineischen Händler nehmen die Dienste des Expolizisten Ngom in Anspruch, der ein ganz normales Reiseunternehmen führt – die ideale Tarnung für illegale Geschäfte.

Die Abenteurer auf dem Weg nach Südafrika durchqueren das benachbarte Gabun. Dort übergibt sie Ngom der Fürsorge eines Kollegen, der dank seiner Kontakte zu den Behörden dafür sorgt, dass sie über den Grenzübergang von Ambam gelangen. Die Grenzpolizei von Gabun, ein Land, das den Ruf hat, besonders ausländerfeindlich zu sein, ist der Albtraum der Illegalen. „Ich wurde in Libreville verhaftet und auf das erstbeste Schiff zurück nach Westafrika verfrachtet“, erzählt der Ivorer Vié.

„Wenn man in Duala startet, ist es besser, mit dem Bus nach Bertua im Osten Kameruns weiterzureisen“, empfiehlt ein Experte. „Wenn du von dort aus zur Grenze nach Kongo kommst, kriegst du das Visum für 60 000 Francs. Die Stadt Ouesso liegt gleich auf der anderen Seite.“ Um Geld zu sparen, hat sich Emeka9 für Bakschisch und Verhandlungen entschieden: „An jedem Grenzposten habe ich mein Fußballtrikot angezogen und den Grenzern erzählt, dass ich beim AS Vital, dem Club von Kinshasa, spielen werde“, erklärt der Profifußballer. „Deshalb hatte ich bei ihnen gleich einen Stein im Brett.“

Vor sechs Jahren hatte sich Emeka von Nigeria aus auf den Weg gemacht, mit „Fußballschuhen, Trikot, Zahnbürste und Kreditkarte“. Von Ouesso bis Brazzaville, der Hauptstadt der Republik Kongo, waren sie mit dem Bus durch den Urwald gefahren. „Unbeschreiblich, die reinste Zickzackfahrt. Wir haben die ganze Zeit nur Mangos und Orangen gegessen, etwas anderes gab es nicht. Als ich ankam, war ich komplett erledigt.“ Von Duala aus hatte er einen Monat gebraucht, um sein nächstes Etappenziel zu erreichen: Kinshasa.

Ein Junivormittag in Kinshasa, der Hauptstadt der DR Kongo. Am ersten Grenzübergang wimmelt es von Menschen – Soldaten, Händler, kriegsversehrte Männer und Frauen in traditionellen Gewändern –, dazwischen zusammengeflickte Karren, Jutesäcke, Stühle, Obst- und Gemüsekörbe. Mitten im Gedränge steht der Grenzer Louis. Der gedrungene Kongolese mit dem wiegenden Gang lässt sich erst auf ein Gespräch ein, als wir im Szeneviertel von Kinshasa auf einer Terrasse sitzen und er sein Turbo, sein eiskaltes Bier, vor der Nase hat: „Die Ouestafs (Westafrikaner) kommen in Massen“, stellt er fest. „Wenn sie ohne Visum antanzen, schicken wir sie sofort wieder zurück.“

„In Beach Ngobila arbeiten rund 20 Beamte, die verdienen nur 200 Dollar im Monat. Das ist ein Hungerlohn!“, schimpft David Lelu, der IOM-Berater in Kinshasa. Beach Ngobila ist der Hafen, an dem die Fähren über den Kongo ankommen. „Ist doch klar, dass sie auch Illegale reinlassen und 500 Dollar unter der Hand kassieren: pro Tag und pro Beamten, an drei Tagen pro Woche.“ Das Einzige, was im Land halbwegs funktioniere, sei „das Korruptionssystem, in dem die Grenzpolizisten einen bestimmten Prozentsatz ihrer Beute an ihre Vorgesetzten weiterreichen“. Bis hinauf zum Präsidenten.

Etwa 20 Schlepper haben einen quasioffiziellen Zugang zum Hafen: „Vor zwei Jahren waren wir hundert, dann gab es eine Razzia“, erzählt Jérémie,10 früher Beamter im Innenministerium und seit acht Jahren Fluchthelfer. Er sitzt in einer Cafeteria im Slum von Kinshasa und starrt uns misstrauisch an, bevor er fortfährt: „Meistens ruft mich ein Fluchthelfer aus Brazzaville an und sagt mir, dass zehn Kerle in Beach Ngobila landen werden. Die Westafrikaner erkenne ich sofort: Sie sind zwischen 18 und 30, haben wenig Gepäck und sind von der Reise so fertig, dass sie aussehen wie Kriegsflüchtlinge.“ Jérémie kassiert „zwischen 500 und 1 000 Dollar pro Mann, je nachdem, wie viel er hat. An die Polizisten zahle ich je nach Dienstgrad eine Kommission von 200 bis 1 000 Dollar.“ Im Schnitt seien es 150 Personen pro Jahr, denen er „hilft“. Neben Beach Ngobila gibt es noch Dutzende kleine Häfen außerhalb der Stadt, wo die als Fischer verkleideten Auswanderer in kleinen Pirogen nach Einbruch der Nacht landen.

„Sobald sie angekommen sind, werden die Westafrikaner in Familien aufgenommen“, berichtet Jérémie. „Die Bande innerhalb der einzelnen Stämme und ethnischen Gruppen sind sehr stark.“ Ihr Reich liegt in den dunklen Mäandern des Großen Markts. „Die Gemeinde kümmert sich um die Illegalen“, erklärt Coulibaly Bouya, der Anführer der Malier in Kinshasa, inmitten von dicht gedrängten Altkleiderständen. Die Reisenden integrieren sich, sie lernen Lingála, die Verkehrssprache des Kongo, und leben von kleinen Jobs als Grillfleischverkäufer oder Schuster, um Geld für die Weiterreise zu sparen.

Ausgebeutet von Menschenhändlern, landen viele Männer jedoch auch in den Diamantenminen von Lunda Norte in Angola. Und die Mädchen, oft Kongolesinnen, gehen in den Bordellen der boomenden angolanischen Hauptstadt Luanda elendig zugrunde. Allein schon wegen der Vergewaltigungen, der Folter und Massenausweisungen versuchen immer mehr Migranten, nach Südafrika zu gelangen.

Auch der nigerianische Fußballer Emeka will sich wieder auf den Weg nach Johannesburg machen. Als er vor Jahren versucht hatte, nach Sambia zu gelangen – per Flugzeug, weil viele Straßen im Kongo damals nicht befahrbar waren –, war dies der Beginn eines langen Albtraums. „In Lubumbashi saß ich sieben Monate im Gefängnis. Dann wurde ich ins Haftzentrum für Migranten nach Kinshasa verlegt.“ Ein berüchtigtes Gefängnis, erklärt IOM-Mitarbeiter Lelu, „zu dem man nicht mal mit Fürsprache des Papstes Zugang hat“. Zwei weitere Monate war Emeka dort inhaftiert, „ohne je das Tageslicht zu sehen“. Bei seiner Befreiung spielte „ein unbekannter, englisch sprechender Besucher“ eine Rolle, der 250 Dollar „Lösegeld“ bezahlt haben soll: „Ich habe ihn nie wiedergesehen.“

Inzwischen ist Emeka 29 und handelt mit Motorradersatzteilen. Den Traum von der Fußballerkarriere hat er aufgegeben. So viel Leiden, um sich heute – im Rückblick auf die sechsjährige Odyssee – eingestehen zu müssen, „die falschen Entscheidungen“ getroffen zu haben, und dass „Nigeria besser, viel besser ist als Kongo“. Diesen leeren Blick, wenn er am Ende sagt, „ich habe einen langen Weg zurückgelegt“, sieht man bei vielen seiner Leidensgenossen, die hin und her gerissen sind zwischen der Angst vor der Demütigung, heimkehren zu müssen, und der Angst vor dem Aufbruch und erneutem Scheitern. „Es ist ein Pokerspiel: Entweder wird man ein Held, oder man wird seines Menschseins beraubt“, sagt Michael Tschanz, der Leiter der IOM-Mission in Kinshasa. „Viele von ihnen wollen nur noch verschwinden.“

Das Tor in den Süden ist Lubumbashi, die Hauptstadt der kongolesischen Provinz Katanga. „Alle gehen über den Grenzübergang Kasumbalesa“, erzählt uns eine kongolesische Fluchthelferin am Telefon. „In zwei Tagen und für 250 Dollar bringe ich sie im Bus via Lusaka und Harare nach Johannesburg.“ Schnurgerade führt die Autobahn durch die Savanne und macht erst vor Johannesburg eine Kurve. In der Ferne sieht man die Wolkenkratzer des Central Business District in den strahlend blauen Himmel ragen. Der Bus verlässt die N1, fährt eine Reihe Alleen entlang und bleibt endlich unter dem Dach des Busbahnhofs stehen. Endstation.

Marc und Emilio haben es geschafft

Das Viertel Parktown North liegt nur ein paar hundert Meter entfernt. In seiner großen Wohnung hängt der Vertreter der ivorischen Gemeinde, Marc Gbaffou, am Telefon und versucht seinen kleinen Bruder aus einer Polizeikontrolle zu befreien. Kongolesen, Somalier und Simbabwer werden als politische Flüchtlinge schnell anerkannt. Für die Westafrikaner sieht es da ganz anders aus: „Man sperrt sie ein, ohne sie auch nur nach ihren Papieren zu fragen!“, klagt Gbaffou. Er kam 1997 nach Südafrika, verkaufte zuerst Gemüse und wurde dann Lebensmittelingenieur. Der Mittvierziger wiederholt es unermüdlich: Sein Aufstieg sei eine Ausnahme. „Die meisten Migranten schaffen es nicht, hier ihren Traum zu verwirklichen. Aber sie kommen doch irgendwie zurecht. Südafrika ist beides, eine Liebes- und Vernunftehe.“

Die meisten landen in Yeoville, einem Vorort von Johannesburg. Im Schatten trister Gebäude versuchen Wachleute, Handwerker, Maurer oder Friseure einen Platz an der Sonne Südafrikas zu erobern. Zehntausende Migranten ziehen weiter in die Minen und Holzbetriebe in Northern Cape oder Kwazulu Natal. Diese Arbeitskräfte werden absichtlich am Rand des Systems gehalten, dadurch sind sie flexibel und billig. Umgekehrt werden sie für die Verschlechterung der sozialen Standards verantwortlich gemacht, erklärt Aurélie Segatti, Wissenschaftlerin im Southern African Migration Programme an der Universität von Witwatersrand. „Die Ausländer sind die Sündenböcke für den Volkszorn.“ Nach einer Meinungsumfrage der Organisation World Values Survey11 von 2008 ist Südafrika der ausländerfeindlichste Staat der Welt.

Die Regierung passt sich an: „Der Kampf gegen gefälschte Dokumente wurde verstärkt, es wurden biometrische Pässe eingeführt, und es gibt viel mehr Rückführungen an den Grenzen. In 15 Jahren wurden 2,5 Millionen Ausländer ausgewiesen“, berichtet Segatti. „Die Behörden haben allerdings noch nie über den wirtschaftlichen Faktor der Migration nachgedacht!“ Das stolze Schwellenland ist offensichtlich nicht in der Lage, die Konsequenzen des Aufstiegs zu tragen.

Die afrikanischen „Brüder“, die den African National Congress (ANC) früher in seinem Kampf gegen das Apartheidregime unterstützt haben – von den Spendenaktionen in Nigeria bis zu den Rückzugsbasen in Mosambik –, sind voller Bitterkeit. Viele wollen ihr Glück deshalb wieder in Europa und den USA versuchen. „Sie klammern sich hartnäckig an ihren Traum und sind doch ihr ganzes Leben nur unterwegs!“, meint der Ivorer Gbaffou. „Meine Aufgabe ist es, ihnen klarzumachen, dass sie woanders nichts Besseres finden werden.“

Sein Landsmann Emilio Sie hat seine Autowerkstatt vor zehn Jahren aufgemacht und verdient gut. Für ihn ist die Regenbogennation „das Land der Reife“ geworden. Er erzählt von seinem Haus „für 1,2 Millionen Rand in Germiston“, seinen drei Kindern, die auf eine Privatschule gehen, und den Krediten, die ihm sein Bankberater – „ein Anruf genügt“ – überweist. Trotzdem ist er immer noch viel auf Reisen. Er fährt nach „Indien, Angola und nach Malaysia. Es stimmt schon, eigentlich bin ich jeden Monat auf Achse.“ Neben ihm machen sich seine zehn Angestellten, alles Migranten, an der Karosserie eines Sammeltaxis zu schaffen.

Fußnoten: 1 Ein Rand entspricht 9 Eurocent. 2 Staatspräsident von 1960 bis 1993. 3 Siehe Vladimir Cagnolari, „Drei ungleiche Brüder. In der Elfenbeinküste streiten die Erben des Staatsgründers schon lange um die Macht“, Le Monde diplomatique, Januar 2011. 4 100 000 Franc CFA sind rund 150 Euro. 5 Diese Schätzung wurde durch das Addieren der Monatszahlen errechnet, die im „Tourism and migration Statistical Release“ vom südafrikanischen Amt für Statistik publiziert werden: www.statssa.gov.za/publications/statspastfuture.asp?PPN=P0351&SCH=5313. 6 Siehe IOM, „In Pursuit of the Southern Dream. Victims of Necessity“, Genf, April 2009: www.publications.iom.int. 7 Es gibt keine zuverlässigen Angaben, erklärt Tara Polzer Ngwato in „Population Movements in and to South Africa“, African Center for Migration and Society, Johannesburg 2010: www.migration.org.za. 8 Siehe Jean-Emmanuel Pondi, „Immigration et Diaspora. Un regard africain“, Paris (Editions Maisonneuve et Larose) 2007. 9 Vorname auf Wunsch geändert. 10 Vorname Wunsch geändert. 11 www.worldvaluessurvey.org. Aus dem Französischen von Claudia Steinitz Guillaume Pitron ist Journalist.

Le Monde diplomatique vom 12.10.2012, von Guillaume Pitron