Heiliger Steve Biko
Südafrikas Sehnsucht nach einer integren Führungsfigur von R. W. Johnson
Die Führungskrise in der südafrikanischen Regierungspartei, dem African National Congress (ANC), spitzt sich zu. Präsident Jacob Zuma erscheint als schwach, unentschlossen und korruptionsanfällig. Aber auch seinem Vorgänger Thabo Mbeki, der merkwürdige Ansichten über Aids pflegte und Simbabwes Diktator Robert Mugabe unterstützte, trauert niemand nach. Um so häufiger beklagen die Kommentatoren in den Medien den frühen Verlust zweier großer Führungspersönlichkeiten der Befreiungsbewegung: Der charismatische Vorsitzende der Kommunistischen Partei, Chris Hani, fiel 1993 einem Attentat zum Opfer. Und der ebenso inspirierende Anführer der Black-Consciousness-Bewegung, Steve Biko, wurde schon 1977 von der Sicherheitspolizei des Apartheidregimes ermordet.
Dass Hani Kommunist war, setzt seiner Popularität Grenzen. Die Figur Steve Biko jedoch hat bis heute eine quasi universelle und zeitlose Popularität bewahrt. Das liegt zum einen daran, dass seine Black People’s Convention niemals zu einer richtigen Partei wurde, zum anderen aber an den von ihm vertretenen Werten der Selbstbestimmung und des schwarzen Selbstbewusstseins. Und nicht zuletzt an seiner außergewöhnlichen persönlichen Tapferkeit.
Das Massaker von Marikana im August 2012, als Polizisten 34 streikende Bergarbeiter erschossen, hat dieser Nostalgie neue Nahrung gegeben. Nichts hätte den Bankrott der ANC-Führung dramatischer vor Augen führen können als eine Art Wiederholung des Massakers von Sharpeville, das 1960 vom Apartheidregime begangen wurde. Wobei die Parallele so weit geht, dass in beiden Fällen zahlreiche Opfer durch Schüsse in den Rücken getötet wurden und die Regierung keinerlei Kritik am Vorgehen der Polizei duldet.
Kein Wunder, dass in vielen Zeitungsartikeln die Frage aufgegriffen wird: „Was würde Steve Biko dazu sagen, wenn er noch am Leben wäre?“ Die Sehnsucht nach dem verlorenen Anführer kulminiert alljährlich zu Bikos Todestag am 12. September und dem Jahrestag seiner Beisetzung am 25. September, an der 1977 mehr als 10 000 Menschen teilnahmen.
Biko gehörte zum Volk der Xhosa und stammte aus King William’s Town in der heutigen Provinz Eastern Cape. Er wuchs als eines von vier Kindern in einer Familie der unteren Mittelschicht auf. Sein Vater war zunächst Polizist, später Büroangestellter in der „Behörde für Eingeborenenangelegenheiten“. Der erwachsene Steve Biko bezeichnete beide Anstellungen seines früh verstorbenen Vaters als Volksverrat. Der eher wilde und ungezogene Junge wurde dank seiner außergewöhnlichen Intelligenz in die Missionsschule von Lovedale aufgenommen, aber fast ebenso schnell wieder rausgeworfen. Der Hauptgrund war sicher, dass sein älterer Bruder Kaya durch radikale politische Aktionen aufgefallen war. Kayas Verurteilung zu einer Gefängnisstrafe war zugleich der Beginn von Steves eigener politischer Vita.
Der junge Biko bekam dennoch ein Stipendium für das St. Francis College, eine katholische Missionsschule unweit Durbans. Seine Leistungen wurden durch die liberale Atmosphäre dieser Schule so beflügelt, dass er 1966 die Aufnahme an der medizinischen Fakultät der schwarzen Eliteuniversität von Natal schaffte. Ich selbst hatte an dieser Uni in Durban drei Jahre zuvor mein Studium abgeschlossen. Obwohl ich Biko nie persönlich kennengelernt habe, hatten wir doch viele gemeinsame Bekannte.
Er studierte Medizin und Jura
Einer von Steves ehemaligen Professoren, der ein Leben lang die Ausbildung schwarzer Studierender gefördert hat, erzählte mir, Steve und seine Freundin Mamphela Ramphele seien „sehr schwierig“ gewesen. Unstrittig war jedoch, dass Steve ein beeindruckender Mensch war und dabei gleichermaßen beliebt bei Männern und Frauen (und nicht nur bei schwarzen). Er schien die Einschränkungen durch die Apartheid vor allem für ein großes Ärgernis zu halten, das er für sich nicht hinnehmen wollte.
Steve engagierte sich umgehend in der National Union of South African Students (Nusas). Diese war damals die radikalste gesellschaftliche Kraft, die gegen die Apartheid kämpfte. Der ANC und der Pan Africanist Congress (PAC) waren verboten, aber die dem ANC nahestehenden Studierenden engagierten sich überwiegend in der Nusas. Steve arbeitete drei Jahre in der Nusas. Aber die Tatsache, dass die Gewerkschaft mehrheitlich von Weißen geführt wurde, konnte er immer weniger mit seinem afrikanischen Stolz vereinbaren. 1969 gründete er eine eigene, rein schwarze Studentenorganisation, die South African Students Organisation (Saso), deren erster Vorsitzender er wurde. Die Grundzüge seiner Philosophie des Black Consciousness waren zu dieser Zeit bereits entwickelt.
Wie Frantz Fanon, der aus Martinique stammende Vordenker der Entkolonialisierung, mit dem er oft verglichen wird, gelangte Biko zu der Überzeugung, dass es nicht nur der politischen, sondern auch einer mentalen Entkolonialisierung bedürfe. Letztere stellte für ihn sogar den ersten Schritt dar, weil seiner Meinung nach zu viele Schwarze in Südafrika aktiv an ihrer eigenen Unterdrückung teilhatten. Obwohl Biko kein Marxist war, begriff er intuitiv die Einsicht Antonio Gramscis, dass die herrschende Klasse in der Regel nur mit Zustimmung der Beherrschten herrschen kann.
Für Biko war klar, dass die meisten Afrikaner die negativen Stereotype der Weißen über „die Schwarzen“ selbst übernommen und tiefsitzende Minderwertigkeitskomplexe entwickelt hatten. Seine erste Forderung lautete deshalb, die Schwarzen müssten sich selbst voll akzeptieren und stolz auf das sein, was sie sind: vollwertige Menschen, die denselben Respekt verdienten wie die Weißen – und eben keine minderwertige Rasse. Seine zweite Forderung: Die Schwarzen dürften sich nicht von Weißen abhängig machen.
Obwohl Biko nichts gegen eine Kooperation mit Weißen hatte – er pflegte nach wie vor zahlreiche Verbindungen zur Nusas –, befürchtete er, dass die Ziele der schwarzen Bewegung am Ende von den Weißen bestimmt würden. Letztere hätten im Zweifel immer mehrere Optionen, die den Schwarzen verwehrt blieben. Deshalb dürften sich die Schwarzen nicht auf sie verlassen und ihnen schon gar nicht Führungspositionen überlassen.
„Schwarzer Mann“, schrieb Biko, „du bist auf dich selbst gestellt.“ Diese Tatsache frohen Herzens zu akzeptieren, sei der erste, notwendige Schritt zur Selbstständigkeit. Das bedeutete zunächst, unnachgiebig auf dem Prinzip vollständiger Gleichheit zu beharren. Illustriert wird dieses Prinzip durch eine der wirkungsmächtigsten Legenden, die über Biko im Umlauf waren: Bei einem Verhör durch die gefürchtete Sicherheitspolizei sei Biko von einem weißen Polizisten geschlagen worden, worauf er umgehend zurückgeschlagen habe. Natürlich wusste er, dass er dafür fürchterlich büßen würde, aber es war ihm wichtiger, die vollkommene Gleichheit zu demonstrieren.
In einer Ära, in der alle großen afrikanischen Parteien unterdrückt waren, sprach die Philosophie Bikos schwarze Studierende und Schüler unmittelbar an. Die Black-Consciousness-Bewegung verbreitete sich wie ein Buschfeuer. 1972 wurde er aus der medizinischen Fakultät ausgeschlossen, aber da hatte er bereits jedes Interesse an Medizin verloren. Auch ein Jurastudium führte er nie zu Ende.
Im Februar 1973 wurde er mit einem Bann belegt. Das heißt, er durfte fortan King William’s Town, wo er ein Black-Community-Programm leitete, nicht mehr verlassen. Zu dieser Zeit war bereits der ebenfalls gebannte PAC-Vorsitzende Robert Sobukwe auf Biko aufmerksam geworden. Sobukwe versuchte ihn wegen seiner endlosen Frauengeschichten (mindestens drei Frauen hatten ein Kind von ihm) und seines maßlosen Alkoholkonsums zu maßregeln. Aber Steve fegte solche Kritik mit einem Lachen beiseite.
1976 folgte der Aufstand von Soweto, der von der Black-Consciousness-Bewegung inspiriert war. Dabei zeigte sich, dass mittlerweile drei große schwarze Kräfte existierten: der ANC, die Inkatha-Bewegung des Zulu-Führers Mangosuthu Buthelezi und die Black Consciousness-Bewegung, die den größten Teil der PAC-Mitglieder absorbiert hatte. Biko war gegen Buthelezi, weil er ihn für einen Kollaborateur des Apartheidregimes hielt. Dagegen verbündete sich der ANC mit der Inkatha – hauptsächlich aus Angst vor dem Aufstieg der Black-Consciousness-Bewegung.
Obwohl Biko das Reisen untersagt war, fuhr er heimlich nach Kapstadt, um dort mit der Führung des (farbigen) Unity Movement zu sprechen. Er plante auch ein Treffen mit ANC-Führer Oliver Tambo in Botswana. Der weiße Liberale Walter Felgate1 bemühte sich, zwischen den drei Lagern zu vermitteln und durch eine Vereinbarung zwischen Inkatha, ANC und Biko die Einheit unter den Schwarzen voranzutreiben.
Später erzählte er mir, Biko sei sich darüber im Klaren gewesen, dass er mit dem ANC nicht wirklich konkurrieren könne, solange er keine eigene Guerilla habe. Dazu brauche er Waffen. Die aber waren nicht zu haben, weil der Warschauer Pakt und die meisten afrikanischen Staaten den ANC unterstützten, während die Chinesen auf den PAC gesetzt hatten. Am Ende fand er einen Waffenlieferanten: Ugandas Idi Amin.
Nichts von alledem ist jemals herausgekommen. Die Sicherheitspolizei verhaftete Biko auf dem Rückweg von Kapstadt. Er wurde zusammengeschlagen und gefoltert, anschließend wurde der ohnmächtige Gefangene, nackt bis auf Handschellen, über 700 Kilometer nach Pretoria transportiert. Dort starb er am 12. September 1977.
Für die ANC-Nomenklatura bleibt er ein ewiger Konkurrent
Steve Biko wurde sofort zum Märtyrer des politischen Widerstands. Sein Tod hatte aber auch eine sehr konkrete Wirkung: Frankreich schloss sich dem Waffenboykott gegen Südafrika an, womit das Apartheidregime seiner letzten Bezugsquelle für Waffen beraubt war. Heute ist Biko ein säkularer Heiliger, ein Christus des afrikanischen Nationalismus. Seine menschlichen Schwächen werden (wie auch bei Chris Hani) wegretuschiert, genauso wie die Tatsache, dass sein Black-Community-Programm von der Bergbaugesellschaft Anglo-American finanziert wurde.
Schon zu Bikos Lebzeiten war die ANC-Führung von der panischen Angst befallen, der charismatische Konkurrent könnte ihnen Anhänger abspenstig machen. Heute zeigt sich, dass er dazu – 35 Jahre nach seinem Tod – immer noch in der Lage ist.
Steve Biko stand klar in der afrikanistischen Tradition Robert Sobukwes und des PAC, der sich 1959 vom ANC abgespalten hatte und sich durch kompromisslose Prinzipienfestigkeit auszeichnete. Als die Wahrheits- und Versöhnungskommission an Bikos Familie appellierte, ihre Geschichte zu erzählen und so zur Versöhnung beizutragen, bekam sie zur Antwort: Man habe kein Interesse an einer Versöhnung mit denen, die Steve Biko gefoltert und zu Tode geprügelt hätten. Auch der Vorsitzende der Kommission, Erzbischof Tutu, stieß mit seinen Appellen auf eisige Ablehnung.
Die meisten militanten Anhänger des Black Consciousness Movement der 1970er landeten am Ende doch beim ANC. Aber die Partei und ihr Gewerkschaftsdachverband Cosatu (Congress of South African Trade Unions) waren und sind von der marxistischen Tradition der Südafrikanischen Kommunistischen Partei (SACP) geprägt. Damit ist jedoch in Bezug auf den Afrikanismus eine Lücke entstanden. Und diese stellt eine permanente Versuchung für jene schwarzen Politiker dar, die sich bewusst sind, welche enorme symbolische Bedeutung die Abkehr Sobukwes vom ANC und der Aufruf Bikos zur Selbstbestimmung der Schwarzen auch heute noch haben. Denn beide haben seinerzeit das populistische Potenzial eines stärker afrikanistischen Kurses deutlich gemacht.
Der erste Präsident nach Nelson Mandela, Thabo Mbeki, versuchte sich der kontrollierenden Umarmung durch den Cosatu und die südafrikanische KP zu entwinden und flirtete deshalb mit der Black-Consciousness-Tradition. Er brachte Personen aus diesem Umfeld wie Mojanku Gumbi und Barney Pityana in einflussreiche Positionen und sprach immer wieder von einer „afrikanischen Renaissance“. Aber der abgehobene Intellektuelle Mbeki war beim Volk nicht sonderlich beliebt. Nachdem er den Fehler begangen hatte, seinen Stellvertreter Jacob Zuma zu entlassen, brachte dieser eine erdrückende Koalition aus SACP, Cosatu und dem Zulu-Block zusammen, mit deren Hilfe er Mbeki aus dem Amt jagte. Seither ist jede Berufung auf eine afrikanische Renaissance aus den Reden der Politiker und sogar aus den Schulbüchern verschwunden.
Biko hat bis heute keinen Nachfolger. Der schärfste Konkurrent der heutigen ANC-Führung, der abtrünnige Präsident der ANC-Jugendliga Julius Malema, übt sich zwar gelegentlich mit Sprüchen wie „alle Weißen sind Diebe“ in einem antiweißen Populismus. Aber dabei bleibt er der ANC-Tradition verpflichtet.
Der begnadete Opportunist Malema, der jedes aktuelle Ereignis für seine Zwecke auszuschlachten versteht, hat auch sofort versucht, Kapital aus der Tragödie von Marikana zu schlagen. Aber weder ist er so redegewandt noch so gebildet wie Biko. Und darüber hinaus ist er auch noch ziemlich offen korrupt. Zurzeit sieht er einem Gerichtsverfahren wegen einer Steuerschuld von umgerechnet 1 508 000 Euro entgegen.
Den Namen Steve Biko nimmt heute kein Politiker, der aus der ANC-Tradition kommt, je in den Mund. Als wolle man nicht auf den peinlichen Umstand hinweisen, dass einer der herausragenden Märtyrer der Befreiungsbewegung kein ANC-Mann war. Es ist eine Ironie der Geschichte, dass die von Weißen geführte liberale Demokratische Allianz (DA) sich in diesem Punkt viel offener zeigt. Am 24. September 2012 hat die Bürgermeisterin von Kapstadt, Patricia de Lille, zusammen mit der DA-Vorsitzenden Helen Zille und mit Bikos Schwester Nobandile die zum Township Gugulethu führende Ausfallstraße auf den Namen „Stephen Biko Drive“ getauft.2