Sozialistische Versuche
Alte Strukturen und neue Bewegungen in Südamerika von Raul Zelik
Der Staatssozialismus des 20. Jahrhunderts hat den Begriff „Alternative“ gründlich diskreditiert. In Sachen Demokratie, Umweltschutz und Selbstbestimmung stellte er keinen erkennbaren Fortschritt dar. Doch in Venezuela, Bolivien und Ecuador reden Linksregierungen heute wieder davon, mit dem „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ eine Revolution ermöglichen zu wollen, die sich in Wahlen demokratisch immer wieder neu legitimiert.
Mit „endogener Entwicklung“ und dem indigenen Konzept des „Guten Lebens“ (sumak kawsay)1 will man sich kapitalistischen Wachstums- und Konsumvorstellungen entziehen. Und auf den Kollaps der zentralstaatlichen Planwirtschaft antwortet man mit einer Verbindung von staatlicher Intervention, dezentralen Märkten und Genossenschaftswesen. So weit, so gut. Doch was wird von diesen Versprechen in der Praxis auch tatsächlich eingelöst?2
Von den drei genannten Ländern kam Ecuador als letztes, nämlich im Januar 2007, zu seiner Linksregierung. Dem Wahlsieg Rafael Correas, der im Wesentlichen von seiner eigenen, linkspopulistischen Partei Alianza País und der Sozialistischen Partei Ecuadors (PSE) unterstützt wurde, war eine lang anhaltende politische und soziale Krise vorausgegangen. Als Reaktion auf die Spardiktate des IWF hatten sich soziale Bewegungen zwischen 1990 und 2001 fünfmal gegen die Regierung in Quito erhoben – in den meisten Fällen unter Führung des Indígena-Verbands Conaie. Die Gesellschaft hatte den Bruch mit dem Neoliberalismus also schon lange vor Correas Amtsantritt vollzogen.
Die neue Regierung begann unmittelbar nach ihrem Amtsantritt, zentrale Forderungen der Bewegungen umzusetzen. Emblematisch für diesen Politikwechsel steht die 2007 einberufene Verfassunggebende Versammlung. Unter Leitung des ökosozialistischen Intellektuellen Alberto Acosta wurden Dutzende von Diskussionsforen im ganzen Land abgehalten, auf denen Basisorganisationen und Bürger eigene Verfassungsvorschläge unterbreiten und diskutieren konnten. Diese offene Vorgehensweise wurde explizit als Kritik an der Begrenztheit bürgerlich-repräsentativer Demokratie verstanden.
Auch inhaltlich markierte die neue Verfassung einen Bruch: Ecuador wurde als „plurinationaler Staat“ definiert; indigene Identitäten wurden damit endlich als Teil der politischen Realität anerkannt. Man stärkte die Interventionsmacht des Staats, entzog öffentliche Dienstleistungen wie die Wasserversorgung den Märkten und schrieb das Konzept des „Guten Lebens“ als Grundprinzip der Wirtschaftsordnung fest. Nicht „Wohlstand“, sondern ein harmonischer Zustand der Gemeinschaft mit sich selbst und der Natur sollte Maßstab der ökonomischen Tätigkeit sein. In diesem Sinne ist die ecuadorianische Verfassung zwar sicher nicht sozialistisch, aber sie eröffnet Perspektiven für eine weiter reichende Transformation.
Allerdings ist die Kluft zwischen diesem Prinzip und der Politik der Correa-Regierung in den letzten Jahren immer offensichtlicher geworden. Die im Verfassungsprozess angestoßene Demokratisierung ist beendet, bevor sie richtig angefangen hat. Präsident Correa behandelt jede Kritik an seiner Person als Landesverrat und beschwört politische Geschlossenheit gegenüber der alten Oligarchie und ihren mächtigen Verbündeten in den USA. Das führt nicht nur zu absurden Prozessen gegen bürgerliche Medien: So wurde 2011 der Kolumnist der Tageszeitung El Universo, Emilio Palacio, zu einer dreijährigen Haftstrafe verurteilt, weil er Correa in einem Kommentar als „Diktator“ bezeichnet hatte. Später zog Correa seine Anzeige jedoch zurück.3 Weitaus dramatischer ist die Verfolgung der sozialen Bewegungen. Zwischen 2008 und 2010 wurden nach Angaben des ecuadorianischen Politologen Pablo Ospina siebzehn Verfahren wegen „Terrorismus“ gegen Mitglieder von Gewerkschaften, Studierenden- und Indigenen-Organisationen eröffnet. Es ging dabei um einfache Protestaktionen wie zum Beispiel Straßenblockaden.
Das repressive Vorgehen gegen die Opposition von links lässt sich auch mit den unterschiedlichen wirtschaftspolitischen Projekten erklären. Zwar propagiert Correas „Bürgerrevolution“ die Abkehr von der auf Rohstoffexporten beruhenden Wirtschaftsstruktur, doch faktisch hat die Regierung die Abhängigkeit vom Öl nicht reduziert: Der Anteil der Rohstoffe am Gesamtexport nahm zwischen 2003 und 2010 von 88 Prozent auf 90,2 Prozent zu,4 allein der Erdölsektor trägt 17 Prozent zum Bruttoinlandsprodukt (BIP) bei. Pablo Ospina kommt in einer (unveröffentlichten) Studie zu dem Schluss, dass Erdöl heute in Ecuador die gleiche Bedeutung besitzt wie in den Spitzenzeiten 1975 und 1985 und die Schwankungen nicht auf die Regierungspolitik, sondern auf Veränderungen beim Ölpreis zurückzuführen sind. Anders ausgedrückt: Es hat keine Reformen gegeben, die die ökonomische Struktur des Landes verändern.
Damit löst sich Correa jedoch von einem der Grundanliegen der antineoliberalen Bewegung. Vor allem Conaie hat den Widerstand gegen die IWF-Sparprogramme in der Vergangenheit stets mit umweltpolitischen Forderungen und einer Kritik der weltmarktorientierten Entwicklung verbunden. Vermutlich reagiert Correa deshalb auf die Kritik von links besonders dünnhäutig. Dem Dachverband der Indigenen wirft er Umsturzvorbereitungen vor, seinen ehemaligen Bergbauminister und Expräsidenten der Verfassunggebenden Versammlung, Alberto Acosta,5 bezeichnet er als „infantilen Linken“.
Staatsziel Biosozialismus
Andererseits wäre es auch falsch zu behaupten, unter Correa habe sich nichts Wesentliches verändert. Die öffentlichen Ausgaben für Sozialpolitik und Infrastrukturmaßnahmen sind enorm gestiegen. Betrugen sie vor Correas Amtsantritt 23,8 Prozent des BIP, liegen sie heute bei 48,8 Prozent. Diese Ausgabenerhöhung ist nicht allein schuldenfinanziert, sondern hat auch mit gestiegenen Steuereinnahmen und den Öleinnahmen zu tun: Die Regierung Correa hat die Steuereinnahmen seit 2006 auf über 9 Milliarden US-Dollar verdoppeln können und eine Renationalisierung der Erdölpolitik durchgesetzt. Die Ölförderung staatlicher Firmen steig von 90 Millionen auf 131 Millionen Barrel jährlich, während die der privaten Unternehmen von 105 Millionen auf 52 Millionen Barrel fiel. Obwohl Ecuador heute etwas weniger Öl fördert als vor sechs Jahren, kommen die Einnahmen dem Land stärker zugute. Das erklärt, warum die Gesundheits- und Bildungsausgaben wiederum von 3,8 Prozent auf 7,6 Prozent des BIPs gewachsen sind.6
Die Bevölkerungsmehrheit hat von dieser Politik zweifellos profitiert. Doch vom „Biosozialismus“, den die staatliche Planungsbehörde Senplades propagiert,7 ist das Land so weit entfernt wie eh und je. Man setzt weiterhin bedingungslos auf Rohstoffausbeutung. Auch die strukturelle Ungleichheit wird nicht infrage gestellt. Pablo Ospina zeichnet in seiner Studie nach, dass die progressiven Gewinn- und Einkommensteuern, die eher die Reichen belasten, nach einem kurzzeitigen Anstieg zuletzt wieder an Bedeutung (gegenüber der regressiv wirkenden Mehrwertsteuer) verloren haben. Die versprochene Landreform ist ebenfalls ausgeblieben. Von den 2,5 Millionen Hektar Land, die Correa verteilen wollte, sind lediglich 5 000 Hektar tatsächlich an Kleinbauern übergeben worden – obwohl Ecuador mit einem Gini-Koeffizient von 0,80 einer der Staaten mit der ungleichsten Landverteilung weltweit ist.
Auch auf den Straßen von Boliviens Hauptstadt La Paz merkt man von einer Revolution wenig. Hier und da informiert die Regierung Morales auf Plakatwänden über ihre Programme, doch das Stadtbild wird von ritualisierten Protesten gegen den Präsidenten beherrscht. Die bürgerliche Ärztekammer, der trotzkistisch geprägte Gewerkschaftsdachverband COB, kleinere Transportunternehmer und sogar Teile der indigenen Bewegung haben Evo Morales zuletzt keine Atempause gegönnt.
Wie in Ecuador reicht auch der bolivianische Veränderungsprozess weit hinter den Wahlsieg der Linken zurück. Die Revolten gegen die Wasserprivatisierung in Cochabamba 2000 und den Ausverkauf der Erdgasvorkommen 2003 hatten das Land faktisch unregierbar gemacht. Der uruguayische Journalist Raúl Zibechi hat in einem viel beachteten Buch8 darauf hingewiesen, dass diese Bewegungen jenseits der Parteien, Gewerkschaften und linken Organisationen entstanden. Es seien vor allem die kulturellen Netzwerke der vom Land in die Städte gezogenen Aymarás gewesen, die 2000 bis 2005 den Widerstand auf die Straße trugen.
Der Führer der Kokabauerngewerkschaft Evo Morales, der eher von der traditionellen Linken kommt, konnte die Repräsentation dieser neuen Bewegungen beanspruchen, indem seine Partei Movimiento al Socialismo (MAS) zentrale Forderungen der Proteste aufgriff und nach dem Wahlsieg umzusetzen begann. Ebenso wie in Venezuela und Ecuador berief die neue Regierung eine Verfassunggebende Versammlung ein, die 2009, nach langen Konflikten mit den rechten Gouverneuren der Tieflandprovinzen, eine neue Konstitution verabschiedete. Ähnlich wie ihr ecuadorianisches Pendant erkennt die neue Verfassung erstmals den plurinationalen Charakter des Landes an, stärkt die Selbstregierung indigener Gemeinschaften und schreibt den gemischten Charakter der Wirtschaft fest.
Nationalistische Rhetorik
Eine zweite wichtige Anstrengung der Regierung Morales bestand – auch hier liegen die Parallelen zu Ecuador und Venezuela auf der Hand – in der Neuausrichtung der Energiepolitik. Dabei handelt es sich jedoch nicht, wie die Regierung behauptet, um eine Nationalisierung der Vorkommen, sondern um eine Neufestsetzung der Beteiligung an den Einnahmen. War der bolivianische Staat vor 2006 mit unter 30 Prozent an den Einnahmen aus dem Gas- und Ölgeschäft beteiligt gewesen, so stieg die Quote – je nach Berechnungsart – auf 65 beziehungsweise 73 Prozent an.
Genutzt wurden die neuen Einnahmen vor allem für Sozialprogramme: Mit dem „Bono Juancito Pinto“, einer jährlichen Zahlung an Schulkinder, wurde ein Anreiz für den Schulbesuch geschaffen. Der „Bono Juana Azurduy“ wird an Mütter gezahlt, die ihre Kleinkinder zu medizinischen Vorsorgeuntersuchungen bringen, und die „Renta Dignidad“ schließlich ist eine Mindestrente für all jene, die nie in eine Rentenkasse einzahlen konnten. 2010 beliefen sich diese Sozialausgaben auf 2,15 Milliarden Bolivianos (etwa 225 Millionen Euro).9 Dazu kommen die mit venezolanischer und kubanischer Hilfe durchgeführten Gesundheits- und Alphabetisierungsprogramme.
Doch auch in Bolivien bleiben die realen Veränderungen weit hinter den Ankündigungen zurück. In einem offenen Brief10 legten mehrere ehemalige Mitglieder der Regierung Morales ihre Kritikpunkte offen: Im Widerspruch zu ihrer nationalistischen Rhetorik habe die Regierung Morales die ausländischen Öl- und Gasunternehmen großzügig entschädigt und dem halbstaatlichen brasilianischen Unternehmen Petrobras sogar besonders günstige Konditionen eingeräumt. Während die staatlichen Devisenreserven zu Niedrigzinsen in Europa und den USA deponiert würden, nehme Bolivien Auslandskredite zu hohen Zinsen auf. Und gegenüber der Gesellschaft habe die Regierung gar einen „autoritären Kursschwenk“ vollzogen.
Bei genauerer Betrachtung stellt sich also auch Bolivien eher als ein kapitalistisches, staatlich reguliertes Entwicklungsprojekt dar denn als Beispiel für den „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“. Die Politik der bolivianischen Regierung, die vor allem vom Vizepräsidenten Álvaro García Linera geprägt wird, zielt auf eine wirtschaftliche Integration mit Brasilien und eine Öffnung des Landes für brasilianische Direktinvestitionen ab. Das ermöglicht zwar eine gewisse Modernisierung, sozialpolitische Verbesserungen und mehr Autonomie gegenüber den USA. Doch die ökonomische Struktur bleibt unverändert: Boliviens Wachstum beruht auf der Steigerung der Rohstoffexporte. Von den staatlichen Industrialisierungsvorhaben – unter anderem will man das einheimische Lithium im Land selbst für die Produktion von Batterien verarbeiten – ist bisher keines in Gang gekommen, und das in der Verfassung verankerte „Gute Leben“ schließlich spielt in der Praxis gar keine Rolle.
Auch das Verhältnis der Regierung Morales zu den sozialen Bewegungen ist problematischer, als es auf den ersten Blick scheint. Zwar besitzen Bauern- und Frauenorganisationen in der Regierung großes Gewicht und die Regierungskoalition MAS ist weniger eine Partei als eine Wahlplattform gesellschaftlicher Organisationen. Doch das führt keineswegs zu einer Demokratisierung von unten. In Bolivien scheint sich eher eine Entwicklung zu wiederholen, wie sie die britische Labour Party im 20. Jahrhundert durchgemacht hat: Auch sie war eine „Partei der sozialen Bewegungen“, nämlich der Gewerkschaften, die in der Partei über Blockstimmen verfügten. Das aber führte eben nicht zu Basisdemokratie, sondern zur bürokratischen Verflechtung von Gewerkschaften und Partei.
Verglichen mit Ecuador und Bolivien reicht der Veränderungsprozess in Venezuela dann doch ziemlich weit. Das liegt nicht nur daran, dass die Linksregierung hier schon länger, nämlich seit dreizehn Jahren im Amt ist, sondern auch daran, dass es Chávez immer wieder versteht, die Unterschicht zu mobilisieren. Die Fixierung auf die messianische Führungsperson Chávez ist paradoxerweise also nicht nur Schwachpunkt, sondern auch Voraussetzung der „Bolivarischen Revolution“.
Auch in Venezuela ging dem Regierungswechsel ein Kollaps des politischen Systems voraus. Der Armutsaufstand 1989 und die durchaus populären Putschversuche kritischer Militärs 1992 sorgten für ein politisches Vakuum, in dem sich drei zentrale Forderungen durchsetzten: Beendigung der IWF-Sparpolitik, Neugründung des politischen Systems und Umverteilung des Reichtums. Die Regierung Chávez setzte diese Forderungen ab 1999 um: Verfassungsprozess, Renationalisierung des Ölgeschäfts, Sozialprogramme.
Kritiker wenden oft ein, dass es ein Leichtes sei, Sozialpolitik mit Ölmilliarden zu finanzieren. Dabei wird jedoch unterschlagen, dass sich die Regierung Chávez ihre fiskalpolitischen Spielräume hart erkämpfen musste. Die Anstrengungen Venezuelas zur Stärkung der Opec (die 1999 für einen deutlich Anstieg der Ölpreise sorgten) und der Umbau des staatlichen Ölunternehmens PDVSA ab 2001 bescherten der Regierung die offene Feindschaft Washingtons und zwei rechte Umsturzversuche im eigenen Land.
Erst nach dem Kurswechsel waren große Bildungs-, Gesundheits- und Wohnungsprogramme bezahlbar. Das finanzielle Volumen dieser sogenannten Misiones ist beachtlich: Allein 2011 gab die PDVSA 39,6 Milliarden US-Dollar für Sozialprogramme aus11 – wobei die direkt vom Staat finanzierten Sozialausgaben noch gar nicht mitgerechnet sind. Trotz Korruption und bürokratischer Ineffizienz hat sich die soziale Situation dementsprechend deutlich verbessert. Der Anteil der Armen an der Gesamtbevölkerung ist zwischen 2002 und 2010 von 48,6 Prozent auf 27,8 Prozent gefallen und auch die strukturelle Ungleichheit hat abgenommen.12
In Sachen Demokratie haben sich ebenfalls wichtige Dinge getan: Zwar pflegt Chávez einen autoritär-selbstverliebten Politikstil, doch muss man berücksichtigen, dass sich für die arme Hälfte der Bevölkerung überhaupt erst unter seiner Präsidentschaft Partizipationsmöglichkeiten eröffnet haben. Die Medienlandschaft hat sich teilweise geöffnet. Die kommerziellen Medienkonzerne werden vom Staat gegängelt, die Vielfalt aber hat zugenommen. Existierten 1998 neben 331 privaten 11 öffentliche Radiostationen, sind es heute 449 private, 83 staatliche und 247 selbstverwaltete. Das gilt auch fürs Fernsehen: Vor Chávez’ Amtsantritt waren 36 kommerzielle und 8 öffentliche TV-Stationen auf Sendung, heute sind es 67 kommerzielle, 13 staatliche und 38 selbstverwaltete.13 Zumindest für die einfachen Bürger ist der Zugang zu den Medien heute einfacher als vor 15 Jahren.
Jenseits dieser sozialen und politischen Inklusion sind die strukturellen Probleme des Landes jedoch ungelöst. Was für Bolivien und Ecuador stimmt, gilt verschärft auch für Venezuela. Das Land ist völlig abhängig vom Öl, verkauft die Hälfte der Exporte in die USA und muss den Großteil der Konsum- und Bedarfsgüter importieren. Der Fall Venezuela zeigt wieder mal, dass Ressourcenreichtum durchaus ein Fluch sein kann. Die gewaltigen Ölvorkommen – der Regierung zufolge reichen die nachgewiesenen Reserven für weitere 270 Jahre Förderung auf heutigem Niveau (wobei es sich allerdings überwiegend um superschweres Teeröl handelt) – verhindern die Entfaltung einer einheimischen Produktion. Denn der konstante Zufluss von Petrodollars wertet die einheimische Währung auf und verteuert damit die inländische Fertigung. Die Regierung könnte dem durch eine Währungsabwertung entgegenwirken. Das jedoch würde die importierten Konsumgüter enorm verteuern und eine Inflationsspirale in Gang setzen. Nicht zuletzt aus Angst vor sozialen Protesten schiebt die Regierung diese seit Jahren anstehende Entscheidung vor sich her.
Wachstum, aber kein Erfolg
Die hohen Wachstumsraten können deshalb auch nicht als Erfolgsindikatoren herangezogen werden. Lohnerhöhungen und die Zunahme gesicherter Arbeitsverhältnisse haben die Binnennachfrage steigen lassen, doch davon haben in erster Linie der Handel und die Immobilienbranche profitiert. Die Landwirtschaft hingegen macht trotz staatlicher Förderung nur noch 5 Prozent des BIPs aus, der Anteil der verarbeiteten Industrie ist auf 14,4 Prozent gefallen.14 Paradoxerweise hat also gerade das unproduktive Finanz- und Handelskapital von Chávez’ nachfrageorientierter Politik profitiert.
Der Ölreichtum wirkt sich aber nicht nur auf die Wirtschaft, sondern auch auf das politische System verhängnisvoll aus. Da der Staat die Ressourcen verwaltet, agieren die einheimischen Unternehmen nah am Staatsapparat, um sich Bau- und Handelsaufträge zu sichern. So ergeben sich enge Verflechtungen mit der Bürokratie, die Korruption blüht. Der bolivarisch-revolutionäre Staat ist dem Staat der 1970er Jahre viel ähnlicher, als es Rechten und Linken lieb ist. Doch eine effiziente Korruptionsbekämpfung ist nur schwer denkbar: Sie würde das Regierungslager einer Zerreißprobe ausliefern.
Wenn man den südamerikanischen „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ betrachtet, drängen sich also zwei Schlussfolgerungen auf. Erstens: Es gibt durchaus Alternativen zu den neoliberalen Krisenstrategien. In den Ländern Südamerikas hat sich eine im weiteren Sinne „sozialdemokratische“ Politik durchgesetzt. Möglich war das aber nur aufgrund eines breiten gesellschaftlichen Widerstands und im Rahmen eines radikaleren politischen Projekts. Die nach wie vor begrenzte Umverteilungspolitik – der Großgrundbesitz ist in keinem der drei Länder entmachtet worden – musste gegen erbitterten Widerstand durchgesetzt werden. Der bisweilen bizarre, außenpolitisch gelegentlich auch abstoßende Antiimperialismus der südamerikanischen Regierungen (besonders gute Beziehungen pflegt man zum Iran und zu Weißrussland) hat hier durchaus eine Funktion erfüllt. Denn erst die Renationalisierung der Öl- und Gaseinnahmen hat sozialpolitische Spielräume geschaffen.
Zweitens: Trotz dieser Fortschritte sind Veränderungen, die über das kapitalistische Entwicklungsmodell oder auch nur über das koloniale Erbe Lateinamerikas als Rohstofflieferant hinausweisen, nicht zu erkennen. Von einer Ökonomie des „Guten Lebens“ oder einem „republikanischen Biosozialismus“ kann keine Rede sein.
Sicherlich hat das auch damit zu tun, dass der Weltmarkt wenig Raum für Alternativen lässt. Doch die Probleme sind auch hausgemacht. Die Linksregierungen halten an einer klassisch-staatszentrierten Perspektive fest. An der Genossenschaftsförderung in Venezuela kann man das Problem illustrieren: 2005 rief die Regierung Chávez zur massenhaften Gründung von Kooperativen auf, um einen gesellschaftlichen Sektor jenseits von Markt und Staat zu schaffen. Von den 181 000 gegründeten Genossenschaften existieren heute trotz umfangreicher Förderung nur noch wenige hundert. Ganz offensichtlich kann der Staat die gesellschaftliche Initiative „von unten“ weder ersetzen noch in Gang bringen. Grundlegende Veränderungen gehen einfach aus gesellschaftlicher Mobilisierung hervor – so wie auch die Rückkehr der Sozialpolitik in Lateinamerika von Bewegungen erkämpft werden musste. Regierungen können dazu beitragen, den Politikwechsel zu festigen, als zentraler Akteur der Emanzipation taugen sie aber nicht.
So mag Südamerikas „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ nur beschränkt Alternativen aufzeigen, doch er verweist immerhin darauf, dass es durchaus welche gäbe.