Touristen kommen, Kroaten gehen
von Hubert Beyerle
Wie immer im März drängeln sich auf der ITB auch 2018 tausende Besucher in den Hallen auf dem Berliner Messegelände. In diesem Jahr macht auf der „größten Reisemesse der Welt“ ein Begriff Karriere, für den es noch keine deutsche Übersetzung gibt: Es geht um overtourism: Die Tourismusindustrie scheint erkannt zu haben, dass mehr nicht automatisch besser ist. Umfragen zufolge fühlt sich allerdings nur jeder zehnte Tourist unwohl als Teil der großen Masse, die sich Sommer für Sommer durch die historischen Zentren wälzt.
Auf deutlicheren Widerstand stößt der jährliche Touristenansturm dagegen bei der lokalen Bevölkerung in Städten wie Venedig, Barcelona oder Prag. Das Beratungsunternehmen McKinsey präsentiert auf der ITB einige Managementtechniken, wie die Lenkung von Besucherströmen mit variablen Eintrittspreisen je nach Tages- oder Jahreszeit.
Auch Dubrovnik an der kroatischen Küste ist von overtourism betroffen: Der Nachrichtensender CNN hatte die Stadt unter den zwölf Destinationen weltweit auf Platz drei genannt, die in diesem Jahr besser zu meiden seien. So ist auf der ITB auch Mato Franković, der Bürgermeister von Dubrovnik, um über seine Erfahrungen zu sprechen. Franković’ Heimatstadt besuchten vergangenes Jahr 1,1 Millionen ausländische Gäste. Sind das zu viele?
„Wir wollen nicht Opfer unseres eigenen Erfolges werden“, warnt der Bürgermeister. „Wir wollen nicht das Etikett bekommen, unsere Stadt sei zu voll.“ Dieses Etikett hat Dubrovnik längst, aber Franković, seit 2017 im Amt, ist der erste Stadtpolitiker, der das offen anspricht. Er ist erst 36 Jahre alt und hat Tourismusmanagement studiert, er weiß immerhin, wovon er redet. An Sommertagen ist auf dem Stradun, der zentralen Flaniermeile der Stadt, kaum noch ein Durchkommen. Dennoch ist das Thema kommunalpolitisch heikel, denn die Touristen bringen das Geld, von dem die Stadt lebt. „Wir können niemanden aussperren. Aber wir brauchen ein intelligentes Management.“ Eine App soll es daher fürs Erste richten.
Dubrovnik ist nur eine kleine Stadt, mit rund 28 000 Einwohnern ist sie sogar erstaunlich klein für ihre weltweite Bekanntheit. In der Altstadt, seit 1979 Unesco-Weltkulturerbe, leben nur noch rund 1000 dauerhafte Bewohner. Viele Häuser sind verkauft, oft an reiche Russen oder Araber. Overtourism scheint da wenigstens ein lokal eingrenzbares Problem zu sein.
Die eigentliche Frage lautet denn auch nicht, ob es mancherorts zu voll wird, sondern: Ist der Tourismus überhaupt ein nachhaltiges Geschäftsmodell? Es bereitet Bauchschmerzen, diesen Begriff auf ganze Staaten zu übertragen. Gemeint ist: Kann es dauerhaft und für ein ganzes Land funktionieren, sein Geld mit Tourismus zu verdienen? Die Frage ist relevant, da der Tourismus heute für Städte, Regionen und Länder als Rezept für mehr Wachstum und Wohlstand verkauft wird. Weltweit wächst der Tourismus seit Jahren stärker als die Wirtschaftsleistung insgesamt. 2017 wurden fast 1,2 Milliarden Auslandsreisen gezählt. Gibt es irgendwo eine Grenze?
Wie kein anderes Land der Europäischen Union (von den Ministaaten Malta und Zypern abgesehen) lebt Kroatien vom Tourismus. Hier lässt sich daher besser als irgendwo sonst studieren, welche Folgen diese Branche für ein Land hat, das sich fast komplett auf sie eingestellt hat.
Und das nicht erst seit gestern: Der Tourismus hat in Kroatien lange Tradition. Die Anfänge reichen bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts, etwa in Opatija oder auf der Insel Lošinj, wo der Wiener Adel sich einst seine Winterdepression vertrieb. Die dalmatinische Luxusinsel Hvar feiert in diesem Jahr 150 Jahre Tourismus, denn bereits 1868 wurde dort die „Hygienische Gesellschaft“ gegründet, die mit Sonne und Meer warb, als die Jahrhundertgeißel Tuberkulose wütete.
Als Kroatien zu Jugoslawien zählte, ging der Ausbau weiter. Devisen waren wichtig, an Beton wurde nicht gespart. Aber ein beträchtlicher Teil der Deviseneinnahmen floss in die Bundeshauptstadt Belgrad und von dort weiter in andere Republiken. Kroatische Nationalisten begannen in den 1970er Jahren zu fragen, wo eigentlich das Geld bleibe, von dem unterstellt wurde, dass es denjenigen zustehe, die über Küste und Sonne verfügten. Diese Deviseneinnahmen für sich zu behalten, war das zentrale wirtschaftliche Motiv hinter dem immer stärker werdenden Nationalismus der Kroaten. Die 1991 erfolgte Unabhängigkeitserklärung von Jugoslawien mündete in einen bis 1995 dauernden Krieg, den man in Kroatien heute den „Heimatkrieg“ nennt.
Aus heutiger Sicht ist das finanzielle Kalkül, sofern man davon sprechen kann, vollkommen aufgegangen. Die Rekordzahl von 68 Millionen Übernachtungen im Jahr 1986 wurde nach dem heftigen Einbruch der Kriegszeit 2015 wieder erreicht. Seit 2000 hat sich die Zahl der ausländischen Touristen fast verdreifacht. Im vergangenen Jahr kamen rund 15,6 Millionen ins Land und blieben 80,2 Millionen Nächte. Die größte Gruppe waren mit 2,6 Millionen die Deutschen. Auf einen Kroaten kommen bei einer Bevölkerung von 4,1 Millionen fast vier Touristen pro Jahr. Zum Vergleich: Im ebenfalls stark tourismusfixierten Griechenland liegt das Verhältnis nur bei eins zu drei.
Unqualifizierte und befristete Jobs
Im Kern besteht die wirtschaftliche Tätigkeit des Tourismus aus der Vermietung von gemachten Betten. Der durchschnittliche Tourist gibt dafür rund die Hälfte seines Tagesbudgets von etwa 100 Euro aus. Das Rückgrat der kroatischen Wirtschaft sind daher die über 600 Hotels. Darunter sind viele kleine Privathotels, aber auch zunehmend Konzerne mit internationaler Beteiligung.
Valamar Riviera, der größte kroatische Hotelkonzern, hat rund 30 Hotels mit 48 000 Betten und 4800 Beschäftigten. Im Edeltourismusmekka Rovinj beherrscht die Luxuskette Maistra den Markt. Sie gehört einer Holding, die einst mit der größten Tabakfabrik Jugoslawiens reich geworden ist. Auch die Tycoons mischen mit, die Balkanvariante der Oligarchen. So etwa Davor Lukšić, 35 Jahre alt, Liebling der Boulevardpresse und Spross der wohl reichsten Industriellenfamilie Chiles. Diese wiederum stammt, wie der Name verrät, von kroatischen Auswandern ab, die vor dem Ersten Weltkrieg vor der Armut geflohen waren und in Chile mit Kupferminen reich geworden sind.
Zimmervermietung ist zu einem halbprofessionellen Nebengeschäft für zigtausende Haushalte an der Küste geworden. Insgesamt gibt es offiziell 224 000 Privatzimmer und Apartments, sie finden sich großenteils auf den einschlägigen Buchungsplattformen. Längst haben die lokalen Fremdenverkehrsbüros das Monopol über die wichtige Information „Sobe“ (Zimmer) oder „Apartman“ (Wohnung) verloren. Laut den Forschern des World Travel and Tourism Council trägt der Tourismus, alles eingerechnet, 25 Prozent zum kroatischen Bruttoinlandsprodukt bei.1 In Spanien sind es nur 14,9 Prozent.
Die Frage lautet dabei jedoch: Was bleibt davon im Land? Was hat Kroatien davon? Ein großer Teil der Einnahmen fließt direkt wieder ins Ausland ab: Hotels wie Privatzimmer müssen immer auf den neusten Stand gebracht werden. Oft übernehmen ausländische Agenturen das Einstellen der Anzeigen und die Abrechnung in den Onlineportalen. Das lokale Handwerk profitiert zwar auch, allerdings sind die auffallend uniformen Einrichtungen oft importiert. So gehören Kühlschrank, Klimaanlage, Fernseher und Internetmodem immer dazu. Denn nur, wer den aktuellen Standard bietet, kann vermieten.
In einer Studie für die EU-Kommission stellt der Ökonom Kristian Orsini einen leakage effect, ein „Leck“ bei den Tourismuserlösen, fest2 : Ein beträchtlicher Teil des Geldes versickert. Die lokale Wirtschaft außerhalb der Vermietungsbranche hat offenbar große Schwierigkeiten, mit eigenen Leistungen und Produkten teilzuhaben.
Ivana Pavlić von der Universität Dubrovnik macht Studien zur Akzeptanz des Tourismus. Sie stellt fest: Wer einen direkten wirtschaftlichen Bezug dazu hat, sieht den Tourismus grundsätzlich positiv, wer nicht, ist tendenziell kritisch. Auch das zeigt, wie wenig der Tourismus der restlichen Bevölkerung zugutekommt. Wer nicht selbst ein Zimmer vermietet oder als Kellner arbeitet, hat kaum etwas davon. Er spürt nur die Kosten.
Etwa, wie die Landschaft betoniert wird. Manche Küstenabschnitte, wie auf der Insel Krk oder südlich von Split, sind inzwischen komplett zugebaut. Nachhaltigkeitsforscher Ivan Kožic vom Kroatischen Institut für Tourismus in Zagreb beklagt „die Zerstörung der Landschaft durch den intensiven und unkontrollierten Bau von Zweitwohnungen und Apartmentblocks“. Zudem fehle es vielfach an moderner Müll- und Abwasserentsorgung3 .
Während der Tourismus floriert, leiden Industrie und Landwirtschaft seit Jahren unter dem hohen Wettbewerbsdruck aus der Europäischen Union. Bankenkredite sowie staatliche Förderungen und EU-Hilfen gehen zum großen Teil in den Tourismus, denn dort brummt das Geschäft. So hat das vergleichsweise einfach verdiente Geld einen von Ökonomen seit Langem bekannten und als „Holländische Krankheit“ oder „Rohstofffluch“ beklagten Effekt: Der Erfolg der Boombranche geht zulasten aller anderen, weil er Wechselkurs und Reallöhne verzerrt. Die Jobs, die geschaffen werden, sind meist niedrig qualifizierte Dienstleistungsjobs und oft nur befristet. Es gibt keinen nennenswerten Produktivitätsfortschritt. Die Arbeitsbedingungen sind so schlecht, dass die Hotels immer öfter ausländisches Personal anwerben müssen. Besser qualifizierte und bezahlte Jobs außerhalb des Tourismus sind knapp. Wem ist es da zu verdenken, wenn er seine Sachen packt und abwandert?
Es bietet sich ein paradoxes Bild: Während Kroatien im Sommer überlaufen wird von Millionen ausländischer Gäste, zieht es die Kroaten, vor allem die jungen, dauerhaft in den Norden. Lag die Abwanderung aus Kroatien vor einigen Jahren noch bei rund 10 000, sind es inzwischen jährlich 30 000 und mehr. Fast eine halbe Million Kroaten leben bereits allein in Deutschland.
Medien und Politiker kritisieren die Abwanderung, aber sie wissen keine Antworten. So verschärft sich die Spaltung Kroatiens: Auf der einen Seite verdient eine recht kleine und gut vernetzte Elite sehr gut. Auf der anderen Seite steht die breite Bevölkerung, der das Vermieten von Zimmern zwar ein Überleben ermöglicht, aber keine berufliche Perspektive.
Auch die „Entwicklungsstrategie für den Tourismus bis 2020“,4 die die Regierung vor einigen Jahren erarbeiten ließ, hilft nicht weiter. Das Motto der Strategie lautet: Qualität statt Masse. Mehr Kulturtourismus, mehr Golf-, Wein- und Jachttourismus, mehr Fünfsternehotels. An der einseitigen Ausrichtung der Wirtschaft Kroatiens ändert das nichts.
Dubrovniks Bürgermeister kümmert sich jetzt um die Form des Fremdenverkehrs, von der seine Stadt am wenigsten hat und die zugleich die Umwelt am stärksten belastet: die Kreuzfahrtschiffe. Bis zu sieben dieser weißen Riesen drängelten sich zuletzt gleichzeitig in der engen Bucht Gruž, die den natürlichen Hafen Dubrovniks bildet. Franković hat erreicht, dass sie nur noch hintereinander hineinfahren.
Während ein „normaler“ Gast Dubrovniks im Schnitt 160 Euro täglich in der Stadt lässt, sind es bei den Kreuzfahrtpassagieren, die auf dem Schiff übernachten, nur 24 Euro: kaum mehr als ein Eis und die Eintrittskarte für die Stadtmauer.
4 Vlada Republike Hrvatske, „Strategija razvoja turizma Republike Hrvatske do 2020“, Zagreb 2013.
Hubert Beyerle ist freier Journalist und Autor eines Reiseführers für Kroatien.
© Le Monde diplomatique, Berlin