07.06.2018

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Am 1. Juli wählt Mexiko ein neues Parlament und einen neuen Präsidenten. Favorit ist ein altbekannter Linker – der es allen recht machen will.

von Renaud Lambert

Mexikos Präsidentschaftskandidaten: Andrés Manuel López Obrador (Morena), Ricardo Anaya (PAN), José Antonio Meade (PRI) und der parteilose Jaime Heliodoro Rodríguez Calderón HENRY ROMERO/reuters
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Als die Kandidaten am 22. April dieses Jahres zum ersten Schlagabtausch im Fernsehstudio aufeinandertrafen, sah zunächst alles nach einem gewöhnlichen Wahltalk aus – bis zu dem Moment, als José Antonio Meade, der für das Mitte-rechts-Bündnis Todos por México antritt, einen unleserlichen, mit Pfeilen gespickten Text in die Kameras hielt, der angeblich beweist, auf welche Weise sich der anwesende Ricardo Anaya Cortés vom ebenfalls Mitte-rechts angesiedelten Bündnis Por México al Frente illegal bereichert hat.

Für Todos por México (Alle für Mexiko) haben sich die Partei der Institutionalisierten Revolution (PRI), Grüne (PVEM) und die Neue Allianz verbündet. Zu Por México al Frente (Mexiko an die Spitze) gehören die Partei der Na­tio­nalen Aktion (PAN), Partei der Demokratischen Revolution (PRD) und die Bürgerbewegung (MC). Ohne sein ewiges Lächeln zu verlieren, begann nun auch Cortés in seinen Unterlagen zu wühlen und zog einen Stapel maschinengetippter Papiere hervor, die wiederum Meades’ Betrügereien belegen sollten.

Bald kramten alle fünf Bewerber unter ihren Pulten, wedelten mit Papieren und wollten das Wort ergreifen. In der restlichen Sendezeit hagelte es wechselseitig Korruptionsvorwürfe, ohne dass einer der Angegriffenen je aus der Fassung geriet. In der Debatte sollte es eigentlich darum gehen, mit welchen Maßnahmen die Kandidaten die Korruption in Mexiko bekämpfen würden.

Unter Enrique Peña Nieto (PRI), seit 2012 Mexikos Präsident, wurden in den vergangenen Jahren bereits 16 amtierende oder ehemalige Gouverneure angeklagt. Ein besonders krasser Fall ist der des Exgouverneurs von Veracruz, Javier Duarte de Ochoa, der während seiner Amtszeit (2010–2016) fast 3 Mil­liar­den Dollar unterschlagen hat. Bestechung hat sich mittlerweile zu einem eigenen Geschäftsfeld entwickelt; die Korruption kostete Mexiko 2015 laut der Weltbank 9 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) und übertraf damit die Tourismusbranche.

Aufgeschreckt von den Korrup­tions­ermittlungen rund um die brasi­lia­nische Baufirma Odebrecht,1 stimmte eine Mehrheit der mexikanischen Abgeordneten im März dafür, dass hohe Beamte nicht wegen persönlicher Bereicherung belangt werden dürfen. Erst kürzlich genehmigte das Wahlgericht die Präsidentschaftskandidatur von Jaime Heliodoro Rodríguez Calderón, dem parteilosen Gouverneur von Nuevo León, obgleich 58 Prozent der von ihm vorgelegten Unterschriften gefälscht waren. Nach den Vorschriften müssten nur genug Unterschriften zusammenkommen, rechtfertigte sich danach einer der Richter: „Das heißt nicht, dass die Unterschriften auch gültig sein müssen.“2

Schätzungsweise 14 Prozent ­eines durchschnittlichen Haushaltseinkommens fließen in Beamtenbestechung – in Familien mit Mindestlohn sogar 33 Pro­zent.3 Mehr als ein Drittel der Unternehmer erklärten, sie hätten Schmiergelder gezahlt, um ­öffentliche Aufträge zu bekommen.4 Das erklärt wohl auch den breiten Zuspruch für An­drés Manuel López Obrador, genannt Amlo.5 Sein langjähriges Engagement im Kampf gegen die Drogenmafia hat die Menschen davon überzeugt, dass ihm die Sache wirklich am Herzen liegt.

Doch können die Mexikaner tatsächlich über das Schicksal ihres Landes entscheiden? „Wenn er antrat, lag Amlo in den Umfragen immer vorn“, erinnert der Historiker Massimo Modonesi. „Am Ende gewann stets der Kandidat des herrschenden Systems.“

Das hat Tradition, schon lange vor Obradors erster Kandidatur vor zwölf Jahren. 1988 hieß der Störenfried Cuauhtémoc Cárdenas, ein Dissident aus den Reihen der Regierungspartei, der die neue Parteilinie der PRI ablehnte. Am Wahlabend lag er vorn, bis die Auszählungsmaschine „ausfiel“. Als das Ergebnis endlich bekanntgegeben wurde, hatte sein Gegner, der PRI-Kandidat Carlos Salinas de Gortari, die Führung übernommen. 1994 drohte der PRI-Kandidat Luis Donaldo Colosio Murrieta, mit der Politik seines Vorgängers zu brechen. Er wurde umgebracht.

Auch der Ex-Coca-Cola-Manager Vicente Fox (Partei der Nationalen Aktion, PAN), der als Kandidat der „demokratischen Wende“ nach 71 Jahren PRI-Herrschaft von 2000 bis 2006 die Regierungsgeschäfte übernahm, änderte nichts an dem System. Seit Obrador 2006 zum ersten Mal als Präsidentschaftskandidat in den Wahlkampf zog, verkündet er, dass mit ihm an der Macht der neoliberale Kurs seiner Vorgänger beendet werde. Damals brachte ihn massiver Wahlbetrug um den Sieg. 2012 versuchte er erneut sein Glück, doch die PRI und die großen Medienhäuser setzten auf Peña Nieto.

„Es gibt nur zwei Möglichkeiten, die Verhältnisse zu ändern: der bewaffnete Kampf oder Wahlen“, erklärte Obrador am 21. März 2018 in einer Fernsehsendung. „Ich glaube daran, dass man Mexiko auf friedliche Weise verändern kann. Darum ziehe ich in den Wahlkampf, auch wenn die Würfel gezinkt sind. Das ist kein Widerspruch, ich habe einfach keine andere Wahl. Manchmal ist dieser Weg schwerer als der bewaffnete Kampf. Denn man kämpft gegen den Staat, einen antidemokratischen und autoritären Staat. Ich mache mir keinerlei Illusionen, ich habe schon Wahlbetrug erlebt. Aber ich habe die Hoffnung noch nicht aufgegeben.“

„Mexiko befindet sich in einer Krise, die von extremer Gewalt geprägt ist“, erklärt der Soziologe Mateo Crossa. Während früher vor allem die Ärmsten betroffen waren, sind es inzwischen auch die mittleren Einkommensklassen, die aber keine homogene Wählerschicht bilden: „Zum ersten Mal stehen gleich mehrere Kandidaten zur Wahl, und das könnte Amlo nutzen.“

In der Tat ist es weder der PAN noch der PRI gelungen, die Reihen zu schließen. Anayas Kandidatur für die PAN vermochte die Anhänger von Expräsident Felipe Calderón (2006–2012) nicht zu überzeugen, dessen Ehefrau Margarita Ester Zavala Gómez del Campo jetzt als unabhängige Kandidatin antritt. Nachdem der amtierende Präsident Peña Nieto, der aufgrund von Korruptionsvorwürfen längst diskreditiert ist, Meade als seinen Nachfolger nominiert hatte, liefen viele hochrangige PRI-Funktionäre zum 2014 von Obrador gegründeten Movimiento Regeneración Nacional (Morena) über.

Keine Verstaatlichungen, keine Korruption, keine Probleme

Es ist nicht ausgeschlossen, dass PRI und PAN noch zusammenfinden – der feindselige Eindruck, den das Fernsehduell zwischen Meade und Cortés am 22. April vermittelt hat, kann sehr wohl täuschen. Der Soziologe Crossa stellt fest: „Mexiko hat noch nie so sehr unter dem schlechten Ruf und der Bestechlichkeit der politischen Klasse gelitten wie heute. So kann es nicht weitergehen. Amlo besitzt etwas, das die Elite unbedingt braucht: Legitimität.“

Ähnlich argumentiert Valeriano Suárez, Vizepräsident von Coparmex, einem der größten Arbeitgeberverbände Mexikos, in einem Gastbeitrag vom 27. März in der Tageszeitung El Sol de México: „Das Vorbild eines Präsidenten, der sich unbestechlich zeigt, wäre in der Tat ideal, um eine Veränderung des Systems anzustoßen, das unsere Politik und ihre Anhängsel in der Privatwirtschaft bestimmt.“

Doch für viele ist ein linker Kandidat anscheinend immer noch nicht wählbar. Deshalb tritt López Obrador betont moderat auf. „Wenn man bedenkt, wie ernst die Lage ist und wie tief die Krise, planen wir eine Art Waffenruhe, damit alles bleibt, wie es ist“, erklärte er am 21. März im Nachrichtenkanal Milenio, woraufhin der Moderator mit sichtlicher Begeisterung Obradors „gewisse konservative Neigung“ zur Kenntnis nahm.

Hinzu kommt, dass Obrador tatsächlich als einziger Kandidat über das Thema Ernährungssouveränität spricht; er will die sozialen Ursachen der Gewalt bekämpfen, bemängelt die niedrigen Gehälter und verspricht, den Zugang zu den Universitäten zu erleichtern. Die konservativen Wähler umgarnt er mit seinem Bündnis mit dem evangelikalen Partido En­cuen­tro Social (PES), der wie die Mehrheitsgesellschaft und die meisten anderen Parteien gegen Abtreibung ist.6 Und der Armee verspricht er, das im Dezember 2017 verabschiedete Gesetz zur inneren Sicherheit nicht anzutasten, das den Inlandseinsatz des Militärs nicht nur erlaubt, sondern den Soldaten auch so weitreichende Befugnisse überlässt, dass UNO und Menschenrechtsorganisationen bereits schwere Bedenken geäußert haben.7

Obradors Wahlprogramm hat sogar manche Unternehmer überzeugt. Sie setzen darauf, dass der Linke doch nicht so gefährlich ist, wie viele glauben. „Es mag paradox klingen, aber für die Interessen der Unternehmer gibt es keine bessere Partei als Morena“, erklärt der Parteivorsitzende Martí Batres und zählt die einschlägigen Programmpunkte auf: Konsequente Ahndung geschäftsschädigender Schmiergeldzahlungen, keine Steuererhöhungen und Sonderwirtschaftsszonen.

„Keine Beschlagnahmungen, keine Enteignungen, keine Verstaatlichungen. Keine Kor­rup­tion. Keine Probleme“, so präsentierte der Kandidat sein Programm auf der Jahreshauptversammlung der Banker.8 Vielen Firmenchefs ist López Obrador trotzdem immer noch zu links, weshalb sie versuchen, ihn durch den Vergleich mit einem anderen Populisten zu diskreditieren – dem bei den Mexikanern verhassten US-Präsidenten Donald Trump.

Am anderen Ende des politischen Spektrums ist man jedoch nicht weniger kritisch: „Morena, die als Linke verkleidete Rechte“, heißt es in einer Karikatur, die in den sozialen Netzwerken zirkuliert, wo sich manche nach einem neuen Hugo Chávez sehnen, mit dem López Obrador aber offenkundig nichts gemein hat. Außerdem kann man Mexiko sowieso nicht mit der Lage in Venezuela Mitte der 2000er Jahre vergleichen, als die Rohstoffpreise durch die Decke gingen.

Obrador übernimmt einen geschwächten Staat. Verwaltung, Wahl- und Finanzbehörden sind diskreditiert; in manchen Regionen haben Milizen und Drogenkartelle das Gewaltmonopol übernommen; Journalistenmorde bedrohen die Meinungsfreiheit, und die USA unterhalten in Mexiko nicht nur eigene Sicherheitsdienste, sie beeinflussen mit den Montagebetrieben im Grenzgebiet (Maquiladoras), in denen billige Arbeitskräfte für US-Konzerne schuften, auch seit Jahrzehnten die mexikanische Beschäftigungspolitik.

„Stellt euch vor, wir gewinnen!“, rief der Romanautor Paco Ignacio Taibo II, selbst Parteimitglied, den Morena-Anhängern zu. „Der Kongress wäre gegen uns, weil wir dort nur eine Minderheit erreichen könnten, also im besten Fall 35 Pro­zent. Die meisten Gouverneure gehören der PRI oder der PAN an, oder noch schlimmer, der PRD. Also: An­drés Manuel empfängt am Tag nach seiner Amts­über­nahme eine Abordnung der führenden Unternehmer, die ihm sagen: ‚Achtung, Andrés! Wenn Sie so weitermachen, dann verlegen wir unsere Firmensitze nach Costa Rica.‘„

Als Reaktion, so der prominente Autor, müssten zwei, drei Millionen auf die Straße gehen. Unter der Parole: „Wenn sie dich erpressen, Andrés, dann enteigne sie. Sie sollen zum Teufel gehen! Das könnte unglaublichen Druck auf den Regierungschef ausüben, egal wie radikal, fähig und ehrlich er ist. Wir brauchen eine soziale Bewegung, die den Wandel erzwingt.“9

Dass sich die Aktivisten von Morena mobilisieren lassen, daran besteht kein Zweifel. Fragt sich nur, ob Obrador es auch tatsächlich wagt, auf diese Möglichkeit zurückzugreifen, falls er Präsident wird.

1 Siehe Anne Vigna, „Gut geschmiert ist viel gewonnen. Vorläufige Bilanz der Ermittlungen gegen den brasi­lia­ni­schen Industriegiganten Odebrecht“, Le Monde di­plo­ma­tique, September 2017.

2 El País, 12. April 2018.

3 „La corrupción costó 1,600 mdp a las empresas en 2016: INEGI; 65 % de las mordidas son para trámites“, 3. Juli 2017, sinembargo.mx.

4 „Business environment in Mexico“, Enterprise Surveys, Weltbank, Washington, D. C., 2010.

5 Nach einer am 31. März veröffentlichten Umfrage der Madrider Zeitung El País würden 41,2 Prozent für Amlo stimmen, 28,2 Prozent für Anaya und 21,9 Prozent für Meade.

6 In jedem Bundesstaat gelten andere Gesetze: In manchen Staaten ist Abtreibung unter bestimmten Bedingungen erlaubt, in anderen bei schwerer Strafe verboten.

7 Paulina Villegas, „Missing Mexicans’ case shines light on military’s role in drug war“, in: The New York Times, 30. April 2018.

8 Siehe die Zitate bei Jude Webber, „Mexico leftist Amlo vows no nationalisation, no expropriations“ , Financial Times, London, 9. März 2018.

9 „Deben expropiarse las empresas que no cooperen con AMLO: Paco Ignacio Taibo II“, 28. April 2018, sdpnoticias.com.

Aus dem Französischen von Sabine Jainski

Le Monde diplomatique vom 07.06.2018, von Renaud Lambert