Der dunkle Fleck
Seit Ende März protestieren die Palästinenser im Gazastreifen mit dem „Marsch der großen Rückkehr“ gegen ihre Vertreibung vor 70 Jahren. Doch in Israel ist die Nakba immer noch ein Tabuthema.
von Thomas Vescovi
Der Marsch der großen Rückkehr begann mit einer Großdemonstration am 30. März, dem „Tag des Bodens“,1 und soll am 15. Mai, dem „Tag der Katastrophe“ (auf Arabisch Nakba), seinen Höhepunkt erreichen. Nach palästinensischen Angaben wurden bei den Protesten bis Anfang Mai mindestens 45 Menschen von israelischen Scharfschützen getötet. Während Israel am 14. Mai den 70. Jahrestag seiner Staatsgründung begeht und die USA ihre neue Botschaft in Jerusalem eröffnen wollen, gedenken die Palästinenser am 15. Mai der 805 000 Vertriebenen aus dem ersten arabisch-israelischen Krieg von 1948/49.
Die Nachkommen der palästinensischen Vertriebenen leben überall in der Welt verstreut. Sie warten bis heute auf die Umsetzung der UN-Resolution 194, die am 11. Dezember 1948 von der Generalversammlung in New York verabschiedet wurde und die unter anderem ein Rückkehrrecht beziehungsweise Schadenersatzzahlungen vorsieht.
In der Vorahnung, dass sich die Version des Siegers durchsetzen würde, haben palästinensische Historiker damals die Ereignisse dokumentiert.2 Fast 40 Jahre gingen ins Land, bis ihre Chroniken auch jenseits der arabischen Welt wahrgenommen wurden. 1987 erschienen die ersten Arbeiten der „neuen israelischen Historiker“ Benny Morris, Tom Segev, Ilan Pappe, Avi Shlaim und anderer.3
Im gleichen Jahr brach die erste Intifada (1987–1993) aus; es entstand die Bewegung der „Refuzniks“, junger Israelis, die sich weigerten, in den besetzten Gebieten Militärdienst zu leisten, und sogar innerhalb der israelischen Armee fing man an, sich selbstkritische Fragen zu stellen. Als dann 1991 viele arabische Länder beschlossen, die US-geführte Anti-Irak-Koalition gegen Saddam Hussein zu unterstützen, sagten sie sich damit auch von der panarabischen Ideologie los, Verhandlungen mit Israel kategorisch abzulehnen. In diesem offeneren politischen Klima wurde Jitzhak Rabin 1992 israelischer Ministerpräsident, dessen Gespräche mit PLO-Chef Jassir Arafat ein Jahr später zur Unterzeichnung der Oslo-Abkommen führten.
In der ersten Hälfte der 1990er Jahre wurden die Thesen der neuen Historiker zwar nicht von allen geteilt, aber immerhin breit diskutiert. Man machte sich Gedanken über eine gemeinsame israelisch-palästinensische Geschichtsschreibung, und eine Kommission kümmerte sich um eine Revision des Geschichtsunterrichts. Dieser vorsichtige Annäherungsprozess geriet jedoch ins Stocken, als Rabin am 4. November 1995 von einem jüdischen Extremisten ermordet wurde, der Hardliner Benjamin Netanjahu im Mai 1996 zum ersten Mal das Amt des Ministerpräsidenten übernahm und eine Serie von palästinensischen Selbstmordanschlägen in Israel Angst und Schrecken verbreitete.
Der Ausbruch der zweiten Intifada Ende September 2000 zerstörte schließlich die letzten Orte der Begegnung, an denen sich Israelis und Palästinenser über eine gemeinsame Geschichtsschreibung austauschen konnten. Die pazifistischen Gruppen waren schon nach dem Scheitern des Camp-David-Gipfels im Juli 2000 auseinandergebrochen. Ein Scheitern, für das Ministerpräsident Ehud Barak allein Jassir Arafat verantwortlich machte (Jahre später gab er zu, dass er Arafat nichts angeboten hatte). Bis dahin hatten die Friedensaktivisten der zionistischen Linken viel Zuspruch erhalten, doch nach Camp David und dem Beginn des zweiten Palästinenseraufstands stiegen viele aus der Friedensarbeit aus.
Für die jüdische Mehrheitsgesellschaft, die die zweite und weitaus blutigere Intifada als Angriff ohne Vorwarnung wahrnahm, gab es nun „keinen Partner“ mehr zum Friedenschließen – zumal der Aufstieg der Hamas im Gazastreifen der inzwischen weltweit verbreiteten Angst vor islamistischem Terror neue Nahrung gab. 2001 gewann Ariel Scharon, Chef der israelischen Rechten, mit einem neuen Vorschlag die Wahl: Da ein Zusammenleben unmöglich sei, könne nur die Trennung Frieden bringen. Scharon ließ die israelischen Siedlungen im Gazastreifen räumen und begann im Westjordanland mit dem Bau einer Mauer.
Auf Kosten der Erinnerung an die Nakba wurde außerdem die alte Propaganda wieder aufgefrischt, dass die Palästinenser ihr Land verlassen hätten, um nicht mit den Juden zusammenzuleben, und dass Israel ein Recht auf das Land besitze, da es Abraham von Gott bekommen habe. Scharon verbannte Eyal Navehs kritisches Geschichtsbuch aus den Schulen, und an den Universitäten wurden die Arbeiten der „neuen Historiker“ heftig bekämpft. 2006 gründete sich dann die Studentenorganisation „Im Tirtzu“ (Wenn du es willst), die Kampagnen unter dem Slogan „Die Nakba ist eine Lüge“ organisiert.4
Das Wort Nakba wurde aus dem Lehrplan gestrichen
Eine offene Erinnerung an die palästinensische Katastrophe würde nämlich die vom Staat propagierte Erzählung trüben, nach der die Gründung Israels als Zufluchtsstätte für die Überlebenden des Naziterrors ein zivilisatorischer, progressiver und emanzipatorischer Akt war. Doch die jüdischen Unabhängigkeitskämpfer waren nicht nur teilweise selbst Überlebende des Holocaust und damit Opfer, sondern auch Peiniger. Und das zu akzeptieren, würde die „Reinheit der Waffen“ zerstören, derer sich Israels Armee rühmt.
Die Politik des sich Abschottens und Einmauerns hat dazu geführt, dass sich viele jüdische Israelis heute kaum noch für die palästinensische Frage interessieren. So berichtete im Vorfeld der Parlamentswahlen vom März 2015 die Times of Israel von einer Wählerbefragung, bei der nur 9 Prozent angaben, der Friedensprozess sei für sie das wichtigste Thema.5 Während sich 2001, auf dem Höhepunkt der zweiten Intifada, bereits 35 Prozent der jüdischen Israelis dafür aussprachen, die in Israel lebenden Palästinenser ins Westjordanland oder nach Jordanien umzusiedeln, war dieser Anteil 2015 auf 58 Prozent gestiegen, und 59 Prozent befürworteten im Fall einer Annexion des Westjordanlands sogar die Errichtung eines Apartheidregimes.6
Aus den Ruinen der einst mächtigen Friedensbewegung entstanden immerhin kleinere NGOs, die einzelne konkrete Ziele verfolgen. So widmet sich beispielsweise die 2001 gegründete „Zochrot“ (Erinnerung) nur der Nakba. Zochrot richtete die erste israelische Konferenz zum Thema aus und veranstaltet seit 2012 das jährliche Filmfestival „Von der Nakba zur Rückkehr“. Außerdem bietet sie Touren zu 1948 „verlassenen“ Orten an, wie dem Anwesen eines palästinensischen Scheichs, in dem sich heute die Cafeteria der Universität Tel Aviv befindet, oder zu palästinensischen Häusern im heutigen Kfar Shaul, die in ein Psychiatriezentrum umgewandelt wurden. In Israel sei die Nakba immer noch ein Tabuthema, sagen der Zochrot-Gründer Eitan Bronstein und Éléonore Merza. Dass sich Politiker heute allein schon durch das Wort provoziert fühlen, betrachten sie jedoch als Fortschritt.
Am 23. März 2011 nahm die Knesset einen Änderungsantrag an, nach dem NGOs, die am Unabhängigkeitstag der Nakba gedenken, nicht mehr finanziell unterstützt werden dürfen. Natürlich bekamen die betroffenen Vereine auch vorher kein Geld vom Staat, aber bei dem Gesetz ging es um mehr: um Stigmatisierung und die damit einhergehende Drohung, dass man zum Außenseiter der Gesellschaft wird, wenn man sich an solchen Demonstrationen beteiligt. Das Gesetz macht den arabischen Israelis, also etwa einem Fünftel der Bevölkerung, das Recht streitig, ihrer eigenen Geschichte zu gedenken. Schon zwei Jahre zuvor mussten Israels arabische Schulen das Wort „Nakba“ aus dem Lehrplan streichen.
Die Soziologin Ronit Lentin erklärt, in Israel gebe es drei verschiedene Arten, auf das Thema zu reagieren.7 Eine kleinere Minderheit hält an der alten Floskel fest, Palästina sei „ein Land ohne Volk für ein Volk ohne Land“. Andere erkennen die Tragödie der Palästinenser zwar teilweise an, bestreiten aber jegliche Verantwortung Israels oder rechtfertigen sich mit der NS-Vergangenheit einzelner Palästinenser.8
Die dritte Gruppe erkennt die Vertreibung explizit an, lehnt aber eine Entschuldigung nicht nur ab, sondern bereut, dass nicht alle Palästinenser vertrieben wurden – wie zum Beispiel der Historiker Benny Morris, der heute sagt, man habe seine Bücher über den israelisch-arabischen Krieg damals missverstanden: „Ohne die Entwurzelung von 700 000 Palästinensern wäre die Schaffung eines jüdischen Staats nicht möglich gewesen.“9
Der regierende Likud hält an der Version fest, dass es keine Vertreibungen gegeben habe und folglich auch kein Rückkehrrecht besteht. Die zionistische linke Opposition leugnet zwar nicht, dass es Massaker und Vertreibungen gegeben hat, aber sie macht dafür nur die radikalzionistischen Untergrundorganisationen Irgun und Lechi verantwortlich, die 1948 aufgelöst wurden.
Im Grunde geht Israel mit der Nakba um wie ein Traumapatient, der dazu neigt, zu unterdrücken, was ihn plagt. Allein die jährlichen Proteste – wie zurzeit der Marsch der Rückkehr – werden jedoch den israelischen Staat immer an seine historische Verantwortung erinnern, die er gegenüber heute 5 Millionen Palästinensern hat.
2 Siehe Walid Khalidi „Nakba, 1947–1948“, Arles (Sindbad – Institut des études palestiniennes) 2012.
3 Siehe Eric Rouleau, „Der Mythos vom kleinen David“, Le Monde diplomatique, Mai 2008.
4 Siehe Charles Enderlin, „Kampf der Kulturen in Israel“, Le Monde diplomatique, März 2016.
8 Siehe Gilbert Achcar, „Der nützliche Großmufti von Jerusalem“, Le Monde diplomatique, Mai 2010.
Aus dem Französischen von Jakob Farah
Thomas Vescovi ist Autor von „ La Mémoire de la Nakba en Israël“, Paris (L’Harmattan, coll. Comprendre le Moyen-Orient) 2015.