Das zivilisierteste Verkehrsmittel der Welt
von Benoît Duteurtre
Die Nebenstrecken der Bahn seien zu teuer, heißt es. Die Strecke zwischen Nancy und Saint-Dié-des-Vosges, die ich regelmäßig fahre, hat jedoch in puncto Kostenersparnis schon einiges hinter sich. Ich spreche hier nicht nur von den alten, verrosteten und vollgesprayten Waggons, die man uns ein paar Jahre lang vorgesetzt hat. Die sind inzwischen durch Bombardier-Pendelzüge ersetzt worden, die noch neu riechen, aber mit ihren während der Fahrt klappernden Plastikteilen und einer einzigen Lehne zwischen zwei Sitzplätzen ziemlich billig wirken.
Seitdem mussten die Kosten noch weiter gesenkt werden: Zahlreiche Verbindungen außerhalb der Stoßzeiten wurden gestrichen, stattdessen fahren Busse, die für dieselbe Strecke zwei Stunden brauchen statt eine. Außerdem gibt es teilweise keine Schaffner mehr, so dass man bei den häufig auftretenden Problemen oder Verspätungen völlig auf sich gestellt ist.
Es gibt keinerlei Informationen oder Durchsagen – irgendwann wird der Zug schon kommen. Und die Warterei dauert manchmal ziemlich lange. Früher waren sofort die Techniker zur Stelle. Heute bleibt der Zug auf freier Strecke stehen, und ob es weitergeht, entscheidet sich in den Chefetagen der Eisenbahngesellschaft und der Regionalverwaltung, die den Nahverkehr bezahlt.
Zudem macht sich die französische Bahn (SNCF) gar nicht mehr die Mühe, die Nebenstrecken mit dem Hochgeschwindigkeitsnetz der TGV-Züge zu koordinieren. Wenn der Regionalzug Verspätung hat, verpasst man den Anschluss und kann dann sehen, wo man bleibt.
Im Zeitalter der vernetzten Welt verpasst die Bahn den Anschluss. Die Werbung für den ultramodernen TGV leuchtet in ganz anderen Farben als die Intercitys mit ihrem maroden Schienennetz, das wegen dringender Reparaturarbeiten ständig für Verspätungen sorgt. Oder die Lokomotive fährt gar nicht erst los, weil sie kaputt ist. Die Corail-Züge halten noch wacker durch – und erinnern uns trotz ihres bedauernswerten Zustands an die Zeiten, in denen die Abteile größer und bequemer waren und man auch in der 2. Klasse schnell und komfortabel reisen konnte.
Manche Intercity-Strecken sollen bald eingestellt werden, vor allem die als unrentabel geltenden Querverbindungen. Dabei sollte in Frankreich doch eigentlich die Zeit der Dezentralisierung anbrechen. Aber demnächst muss ich über Paris fahren, wenn ich von Lyon nach Bordeaux will.
Die angekündigte Reform betrifft vor allem den TER (Transport Express Regional). Die regionalen Billiglinien der Bahn sind für die Konzernmutter offenbar ein lästiges Zuschussgeschäft. Was sonst könnte der Grund dafür sein, dass immer mehr Verbindungen gestrichen werden?
Kein Wunder, dass viele Reisende dem Schienenverkehr bereits den Rücken gekehrt haben. Nach der x-ten Sparrunde heißt es jetzt im Spinetta-Bericht,1 die reduzierte Version der Nebenstrecken sei immer noch zu teuer, man müsse zu radikaleren Maßnahmen greifen.
Mir fällt bei solchen Empfehlungen an unsere Regierenden vor allem ein Widerspruch ins Auge: Vor gut 20 Jahren haben unsere gewählten Volksvertreter große Reden geschwungen, in denen sie sich zu Umweltschutz und nachhaltiger Entwicklung bekannten. Und die Medien haben einhellig Beifall geklatscht.
Vom Runden Umwelttisch 2007 bis zur Weltklimakonferenz COP21 erklärten sich alle mit den vorgeschlagenen Maßnahmen einverstanden: Die Bahn müsse dem Individualverkehr vorgezogen, die „Vernetzung“ des gesamten Landes gesichert und der Gütertransport auf der Schiene ausgeweitet werden, damit weniger Lkws über die Straßen rollen.
Doch vor 20 Jahren begann auch eine Entwicklung, die diesen Vorgaben exakt zuwiderlief – als sei der Umweltschutz einfach nicht mit unserem Wirtschaftssystem vereinbar. Einerseits spricht man von der Notwendigkeit, „verantwortlich“ den Verkehr zu sichern; andererseits lässt man zu, dass sich die SNCF auf die internationale Konkurrenz vorbereitet und wie ein Privatunternehmen agiert, das die Kosten drückt – und dafür ebenjene Verbindungen streicht, die gerade die berühmte Vernetzung schaffen sollten.
Präsident Emmanuel Macron hat den Umweltschützer Nicolas Hulot zum Staatsminister ernannt, um so sein Engagement für das Klima zu betonen. Nur zwei Jahre zuvor hatte derselbe Macron noch keinen Sinn für die Belange der Bahn. Damals hat er als zuständiger Minister den Busfernverkehr liberalisiert, was die Nebenstrecken weiter schwächte.
Die Presse wollte darin jedoch nichts anderes als die Schaffung neuer Arbeitsplätze und eine Senkung der Fahrtkosten erkennen. Das Marketing betont zwar die Vorzüge des Bahnfahrens (bequemer, pünktlicher, umweltfreundlicher, mit schöner Aussicht auf die vorbeifliegenden Landschaften). Doch diejenigen, die über das Schicksal der Bahn entscheiden, gucken offenbar nur in den Himmel und auf den Flugverkehr. So erklärte Bahnchef Guillaume Pépy gegenüber dem Figaro, er würde am liebsten Flugtickets verschenken. Da war es durchaus logisch, dass mit dem Bericht zur „Zukunft des Schienenverkehrs“ ausgerechnet Jean-Cyril Spinetta betraut wurde, der Exchef von Air France/KLM.
Dieselbe Logik zeichnete sich bereits in den 1980er Jahren ab, als die französische Bahn das Ticketsystem von der US-Fluglinie American Airlines übernahm: als Grundlage für das Management des TGV. Seither orientiert sich die staatliche Eisenbahn nur noch am Modell der Fluggesellschaften, mit Reservierungspflicht und einer Preisgestaltung, die je nach Nachfrage schwankt.
Damit entschied sie sich gegen die Idee eines verlässlichen, leicht zugänglichen Schienenverkehrs und die alte Preisberechnung nach Kilometern, was viel eher der Vorstellung entspricht, dass die Bahn eine allgemeine Grundversorgung bereitstellt. Dieser Wandel schreitet heute immer schneller fort, verstärkt durch Sicherheitsmaßnahmen, die Kontrollen beim Betreten bestimmter Züge und die Abfertigung von Gepäck vorschreiben.
Außerhalb der Städte wurden Riesenbahnhöfe gebaut, umgeben von Parkplätzen wie bei Flughäfen. Diese neuen Terminals sind gar nicht mehr an das übrige Schienennetz angebunden, so dass Reisende einen Bus oder das Auto nehmen müssen, um über verstopfte Zubringerstraßen an ihr Ziel zu gelangen.
Die Bahn ist zum Flugzeug auf Rädern geworden, das Orte mit großer Bevölkerungsdichte verbindet. Danach muss jeder sehen, wie er weiterkommt. Und die Regierungen tun die ganze Zeit so, als wären ihnen die öffentlichen Dienstleistungen, eine nachhaltige Entwicklung und die Anbindung aller Regionen wichtig.
Schiefe Vergleiche zwischen Straße und Schiene
Nachdem wir schon so manches aus den USA importiert haben, könnte diese Entwicklung ein Anzeichen für eine weitere Anwendung US-amerikanischen Denkens auf Europa sein. Bei den großen Entfernungen zwischen den Städten in den USA ist es vielleicht gerade noch zu rechtfertigen, dass das Land nur von einigen großen Flug- und Eisenbahnlinien erschlossen ist und die Leute ansonsten mit dem Bus oder dem eigenen Auto fahren. In Europa, wo die Städte relativ nah beieinanderliegen und ein dichtes, aus dem 19. Jahrhundert stammendes Schienennetz existiert, bietet sich ein anderes Konzept für den öffentlichen Verkehr an, gegründet auf Nachbarschaftlichkeit, Regelmäßigkeit, Pünktlichkeit und Zugänglichkeit.
Der Spinetta-Bericht fordert all das zwar für die Metropolen, was kräftige Investitionen in die vernachlässigten Vorortzüge bedeuten würde. Doch große Teile des Landes bleiben außen vor. Die Bahn wird als „Massentransportmittel“ definiert, das der Just-in-time-Logik gehorcht und seine optimierte Auslastung vorantreibt. Der Bericht schlägt folgerichtig vor, viele Regionalverbindungen zu streichen, schließlich hätten die Züge auf dem Land zu wenig Fahrgäste und die nicht elektrifizierten Strecken verursachten genauso viel Verschmutzung wie Busse.
Dieser Vergleich von Schiene und Straße greift jedoch zu kurz. Busse sind langsamer und unpünktlicher als Züge, sie tragen zu Staus auf den Straßen und zu allen damit zusammenhängenden Problemen bei. Die Bahn bietet dagegen eine meist schnelle, zuverlässige Verbindung. Im Zug kann man arbeiten oder ausruhen, essen oder sich bewegen, und man kann lesen, ohne sich um Kurven oder Bremsmanöver zu sorgen. Schüler können sicher zur Schule und wieder nach Hause fahren.
Unter der Voraussetzung, dass das Schienennetz diesen Namen verdient und ausreichend Verbindungen (nicht nur zu Stoßzeiten) bereitstellt, erlaubt es auch den Erwachsenen, das Auto stehen zu lassen – in einer Zeit, in der man nach offiziellen Verlautbarungen den Individualverkehr einschränken will. Diese Vorzüge lassen die Bahn als das zivilisierteste Verkehrsmittel der Welt erscheinen – und nicht als ein Überbleibsel der Vergangenheit, das allein den Gesetzen der Kostenrechnung gehorchen muss.
Deshalb versprechen die Staatsmänner, denen es ohne Zweifel um die Zukunft der Menschheit geht, bei ökologischen Sonntagsreden stets, sich mehr um die Bahn zu kümmern. Doch dieses Bekenntnis steht leider in einem offenen Widerspruch zu ihrer Entschlossenheit, die europäischen und weltweiten Handelsregeln auszuweiten.
Der Glaube an den freien Markt und die Fixierung auf das Rentabilitätsdenken stehen dem Ideal einer öffentlichen Daseinsvorsorge entgegen, die überall hochwertige, von der Allgemeinheit finanzierte Infrastrukturen bereitstellen muss, ganz gleich, ob es sich um Züge oder Krankenhäuser handelt.
Gefangen in diesem Widerspruch, sehen die Volksvertreter keinen anderen Ausweg als eine Rhetorik der Gleichzeitigkeit: Schutz des Planeten und Ausweitung des Busverkehrs; Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs und Rentabilitätsdiktat; große staatliche Programme und Abkehr von denselben Programmen in den Regionen, je nach Laune des Präfekten.
Selbst die Umweltorganisationen, die hier eigentlich an vorderster Front kämpfen müssten, beschränken sich auf ein paar symbolische Proteste. Der Schienenverkehr liegt ihnen anscheinend nicht sehr am Herzen.
Ministerpräsident Édouard Philippe erklärt, er wolle von Fall zu Fall entscheiden, um die „ländlichen Regionen“ nicht abzuhängen. Doch das Kaputtsparen der Bahn wird auch er kaum aufhalten (in seiner Heimatstadt Le Havre, wo die Verbindungen seit 20 Jahren immer schlechter werden, können sie ein Lied davon singen). Kein Wunder, dass sich viele Bahnreisende wie Kunden zweiter Klasse fühlen und wieder ins Auto steigen – und so dazu beitragen, dass die Fahrgastzahlen weiter sinken und die Verbindungen für verzichtbar erklärt werden.
Wenn es politisch gewollt wäre, könnte man eine ganz andere Entwicklung anstoßen: Erhalt und Förderung eines Schienennahverkehrs im ganzen Land, der jederzeit und ohne Reservierung zugänglich ist, dazu den Ausbau des Güterverkehrs auf der Schiene, nach dem Vorbild der Schweiz, während die Lkws aus ganz Europa quer durch Frankreich rollen.
Unsere Regierenden, die immer gern mit ausländischen, vor allem deutschen Vorbildern argumentieren, scheinen gar nicht zu bemerken, dass die Deutsche Bahn völlig andere Maßnahmen ergreift als die französische: eine umfassende Modernisierung des Schienennetzes, ein Ende der bahneigenen Fernbusse und Investitionen in den Gütertransport.
Aus dem Französischen von Sabine Jainski
Benoît Duteurtre ist Autor, unter anderem von „La Nostalgie des buffets de gare“, Paris (Payot/Rivages) 2015.