12.04.2018

Das Recht auf das, was alle brauchen

zurück

Das Recht auf das, was alle brauchen

Die französische Regierung versucht wieder einmal, Liberalisierungen durchzusetzen, die Gewerkschaften machen dagegen mobil – Zeit für eine neue Idee

von Pierre Rimbert

Gohar Dashti, Untitled, aus der Serie „Stateless“, 2014–2015, 120 x 80 cm
Audio: Artikel vorlesen lassen

Es ist ein ritualisierter Kampf zwischen zwei ungleichen Gegnern: Stets beginnt er damit, dass die Regierung im Namen der Modernisierung die Daseinsvorsorge beschneiden will. Als dieses System nach dem Krieg aufgebaut wurde, dachte man noch, es sei erst der Beginn künftiger Errungenschaften: Sozial- und Rentenversicherung, Beamtenstatus, Staatsbetriebe, in denen die Angestellten nicht länger der Willkür des Arbeitsmarkts ausgeliefert sind.

Als Nächstes üben sich die Kommentatoren darin, die Reform pädagogisch zu vermitteln. Die Liberalisierung sei notwendig und daher unvermeidlich (oder umgekehrt); sie zeuge vom „politischen Mut“ der Exekutive, die das Parlament umgehen will, und sei obendrein „gerecht“, weil sie die „Privilegien“ derer beseitige, die unter weniger prekären Bedingungen arbeiten als die anderen.

Für die Gegner ist ebenfalls eine rituelle Rolle vorgesehen. Sie müssen beweisen, dass die Privilegien in Wahrheit andere sind als von der Regierung behauptet, dem medialen Druck widerstehen und die öffentlichen Dienstleistungen verteidigen. Doch was gilt es überhaupt zu verteidigen? Am 12. Dezember 1995 erklärte der Soziologe ­Pierre Bourdieu bei einer Solidaritätskundgebung für streikende Eisenbahner, man müsse „die Zerstörung einer Zivilisation verhindern, die mit der Existenz öffentlicher Dienstleistungen verbunden ist“.

Ein Vierteljahrhundert später sind die Institutionen der Daseinsvorsorge heruntergewirtschaftet und teils völlig ruiniert. Das Ministerium für Wirtschaft und Finanzen und die paternalistischen Technokraten haben ihre Mission erfüllt. Von Reform zu Reform, von Privatisierung zu Privatisierung ist der Anteil des öffentlichen Dienstes1 an der Gesamtbeschäftigung von 19 Prozent (1985) auf 5,5 Prozent (2015) gesunken.

Inzwischen sind nur noch 791 000 Beschäftigte übrig. Mitte der 1980er Jahre produzierte der Staatssektor noch ein Viertel des Nationaleinkommens, 30 Jahre später waren es weniger als 6 Prozent.2 In den öffentlichen Betrieben hatte der gleiche Kostendruck und die gleiche Managermentalität Einzug gehalten wie in Privat­un­ter­nehmen.

Bei der Reform der französischen Eisenbahn (SNCF) stimmt Präsident Emmanuel Macron die Bevölkerung gegen die Verteidigung des Bestehenden ein, weil er weiß, dass dieses sich eigentlich nicht verteidigen lässt: Wie soll man einen Staatsbetrieb in Schutz nehmen, wenn sich im Alltag alle darüber beklagen, dass dort nichts funktioniert? Die öffentlichen Dienstleistungen sind schließlich nur noch ein Schatten ihrer selbst.

Die öffentlichen Krankenhäuser müssen gleichzeitig sparen und sich gegen die private Konkurrenz zur Wehr setzen. Weil sie ihr Geld je nach Kassenlage der Sozialversicherung erhalten, müssen sie manchmal Patienten nach Hause schicken, die eigentlich nicht allein zurechtkommen – statt eine bedarfsgerechte Gesundheitsversorgung anzubieten.

Die Universitäten, die kritische Geister ausbilden sollen, sorgen sich nur noch um ausgeglichene Bilanzen und richten sich am Arbeitsmarkt aus. Die Post, die einmal umfassende Kommunikationsmöglichkeiten anbieten sollte, ist zum Dienstleister für Amazon verkommen. France Télécom wurde abgespalten und privatisiert und kümmert sich seitdem nicht mehr um den Ausbau der Infrastruktur. Das Unternehmen soll nur noch Produkte verkaufen, Teilmärkte erobern und Aktionäre zufriedenstellen.

Die längst börsennotierte Électricité de France (EDF) hat sich auf dem internationalen Energiemarkt etabliert und kauft privatisierte Staatsbetriebe in Großbritannien auf. Die französische Bahn konzentriert sich ganz auf die rentablen Hochgeschwindigkeitsstrecken, vernachlässigt die Nebenstrecken und überlässt den Gütertransport den Lkw-Spediteuren.

Die Staatsbetriebe sollen heute nicht der Gesellschaft dienen, sondern rentable Unternehmen sein. Diese neue Zielsetzung wurde gegen den Willen der Nutzer und gegen den Widerstand vieler Beamter und Angestellter durchgesetzt. In den Postämtern, Schulen, Krankenhäusern und Seniorenheimen blieben die verheerenden Folgen der Reformen lange unsichtbar, weil die – meist weiblichen – Beschäftigten bereit waren, sich völlig zu verausgaben. Aber wie kann man öffentliche Dienstleistungen verteidigen, wenn die betroffenen Unternehmen ihre Mitarbeiter dazu zwingen, ihr Berufsethos zu verraten?

Die Angestellten im öffentlichen Dienst sind überzeugt, dass sie eine wichtige Aufgabe erfüllen, die ihnen ein großes Engagement abverlangt. Und sie wollen ihre Arbeit auch unter allen Umständen gut machen. Sie stehen dahinter, dass sie der Öffentlichkeit einen Dienst erweisen, und sind sich „bewusst, dass sie Frankreichs repu­bli­kanischen Geist verkörpern“.3 Diesem Idealismus wollte das moderne Management ein Ende setzen. Doch der Preis dafür ist hoch: Bei France Télécom nahmen sich in den Jahren 2008 und 2009 Dutzende Angestellte das Leben; heute sind es Mitarbeiter der Pariser Krankenhäuser, die Selbstmord begehen.

Den öffentlichen Dienst vor den Managern retten

Die öffentlichen Dienstleistungen verteidigen – dieses Motto bekommt eine bedrohliche Doppeldeutigkeit, wenn das zuständige Ministerium alles tut, um genau diese Dienste sowohl den Nutzern als auch denen, die sie bereitstellen, zu verleiden. Wenn man mit Aussicht auf Erfolg für den öffentlichen Dienst und die Daseinsvorsorge kämpfen will, dann muss man aus dem Drehbuch des ritualisierten Kampfes aussteigen, das jede französische Regierung seit 30 Jahren immer wieder in Szene setzt. Man muss den Schutzraum des passiven Widerstands verlassen und in die Offensive gehen.

Arbeit, soziale Sicherheit, Bildung, Rente, Gesundheit, Freizeitgestaltung, Transport und Verkehr, Zugang zur Energieversorgung, Infrastruktur – all dies sind nicht nur Dienstleistungen, es sind Rechte. Von der Verfassung oder per Gesetz geschützt, wurden sie den Bürgern von Staat und Arbeitgebern weder aufgezwungen noch als Kirsche auf der demokratischen Torte offeriert. Sie stehen den Menschen zu. Mit anderen Worten: Die Gesellschaft ist verpflichtet, öffentliche Dienstleistungen bereitzustellen, ihr Funktionieren zu sichern und sie nicht zu beschädigen.

Die bis heute gültige Präambel der französischen Verfassung von 1946 weist den Weg: „Jedes Vermögen und jedes Unternehmen, dessen Betrieb den Charakter eines nationalen öffentlichen Dienstes oder eines faktischen Monopols trägt oder erhält, muss in das Eigentum der Gemeinschaft überführt werden.“ (Artikel 9)

Zu fordern ist also die Neugründung einer hochwertigen öffentlichen Daseinsvorsorge, die sich auf das unveräußerliche Recht der Bürger beruft, statt die zu Tode reformierten Staatsbetriebe zu verteidigen. Damit könnte man die Franzosen mobilisieren, darauf könnten sie sich bestimmt einigen. Denn eine solche Forderung stützt sich auf die gemeinsamen Interessen von Nutzern und Beschäftigten, Einwohnern großer wie kleiner Städte, Vorstädte und Dörfer einschließlich der Überseegebiete.

Die Widerstandsbewegung hätte damit eine positive Vision, die die Menschen mitzureißen vermag, was viele nach jahrzehntelangen Abwehrkämpfen schmerzlich vermissen: Es geht um die Neugründung einer allgemeinen, öffentlichen Daseinsvorsorge, die zukunftsweisend ist. Es wäre naiv, dabei schnelle Erfolge zu erwarten, doch man kann die aktuellen Proteste gegen Macrons Reformpläne zum Anlass nehmen, die drei grundlegenden Prinzipien dieses Projekts hervorzuheben.

Das erste Prinzip: Die Beschäftigten müssen die nötigen Mittel bekommen, um gute Arbeit leisten zu können. Diese Grundvoraussetzung für ihre persönliche Entfaltung wie auch für die Qualität der von ihnen erbrachten Dienstleistungen hat das neoliberale Management den Angestellten in Privatunternehmen schon in den 1990er Jahren genommen.

Seit Mitte der 2000er Jahre ging es den Krankenschwestern, Lehrern, Postlern und Eisenbahnern an den Kragen. Absurde Zielvorgaben, verkleinerte Teams, unmögliche Anordnungen eines Managements, das keine Ahnung von den realen Arbeitsabläufen hatte, gibt es seitdem bei Lidl ebenso wie in Seniorenheimen.

Diese schauerliche Gemeinsamkeit zwischen öffentlichen und privaten Arbeitgebern kann aber auch Widerstand provozieren: Wenn der Lagerarbeiter weiß, was die Pflegekraft andernorts erlebt und mit welchen Konsequenzen sie zu rechnen hat, wird er sich eher dafür engagieren, dass die Gesellschaft es ihr ermöglicht, Menschen in Würde zu pflegen.

Das zweite Prinzip betrifft die einheitliche Grundversorgung des gesamten Landes. Bei einer Neugründung des öffentlichen Diensts muss im Vordergrund stehen, dass auch Bürger, die nicht in den Großstädten leben, eine gute Infrastruktur und qualifizierte Beschäftigte vorfinden.

Nicht im 11. Bezirk von Paris, sondern in kleinen Städten wie Vierzon und Saint-Étienne steht auf dem Prüfstein, ob die Daseinsvorsorge in Gesundheit, Bildung, Verkehr, Kommunikation und Internetzugang gut und zuverlässig funk­tio­niert. Die unteren Gesellschaftsschichten, die meist außerhalb der Großstädte wohnen, werden sich sowohl als Mitarbeiter wie auch als Nutzer für solche wirklich allgemein verfügbaren Dienstleistungen engagieren. So war es übrigens auch schon nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, als die französische Sozialversicherung gegründet wurde.

Das dritte Prinzip betrifft den Status der Beschäftigten und die Finanzierung dieser Gemeinwohlinstitutionen. Hier kommt eine andere rituelle Gleichung ins Spiel: Wer im öffentlichen Dienst arbeitet, ist Beamter oder beim Staat angestellt. 1946 kämpften die Kommunisten, die damals in der Regierung saßen, für den Status der Strom- und Gasarbeiter, Bergarbeiter und Beamten.

Inzwischen ist das Band zwischen Staat und Gemeinwohl jedoch zerfasert oder gar gerissen. Der öffentliche Dienst ist dem Wirtschafts- und Finanzministerium unterstellt und damit in der Hand der Marktfundamentalisten. Statt auf den großen Crash zu warten, sollte die Opposition die Gründung von Institutionen fordern, die zwar staatlich finanziert, aber unabhängig von diesem Ministerium sind und von Nutzern und Beschäftigten gemeinsam verwaltet würden.

Das ist bei der allgemeinen Krankenversicherung „Sécu“ der Fall, die ihre Mittel nicht aus Steuern erhält, sondern hauptsächlich aus Beitragszahlungen. Die Beiträge werden nicht vom Finanzministerium eingetrieben, sondern von Sozialkassen, die von 1946 bis 1967 von den Beschäftigten selbst verwaltet wurden. Öffentliche Dienstleistungen, die durch Beiträge und nicht durch Steuern finanziert werden; ein vergesellschaftetes Vermögen, das von den Dienstleistenden selbst und nicht von Technokraten verwaltet wird, in dem die Nutzer mitbestimmen können – das ist eine zukunftsträchtige Idee.

Das mag utopisch klingen. Aber in der jetzigen Situation ist das Bestreben, die Institutionen der Daseinsvorsorge neu zu gründen, nicht un­rea­lis­tischer als der Versuch, den dienstlichen Status der Eisenbahner zu verteidigen. Das heißt nicht, dass man diesen Status aufgeben sollte. Aber das beste Mittel zu seiner Rettung wäre seine Ausdehnung auf die Allgemeinheit – um damit dem öffentlichen Dienst seine ursprüngliche Bestimmung zurückzugeben, Vorreiter des Allgemeinwohls zu sein.

1 Darunter verstehe ich alle Unternehmen, die direkt und mehrheitlich vom Staat geleitet werden oder zu Konzernen gehören, deren Leitung mehrheitlich in staatlicher Hand liegt.

2 Insee (französisches Institut für Statistik und Wirtschaftsstudien), „Tableaux de l’économie française“, Sammlung „Insee Références“, Paris 2017, www.insee.fr.

3 Danièle Linhart, „Comment l’entreprise usurpe les valeurs du service public“,in: Le Monde diplomatique, September 2009; siehe auch: Romain Pudal, „Stolz, prekär, Feuerwehr. Über Ethos und Alltag der Pariser Nothelfer“, Le Monde diplomatique, März 2017.

Aus dem Französischen von Sabine Jainski

Le Monde diplomatique vom 12.04.2018, von Pierre Rimbert