12.04.2018

Corbyn in Uxbridge

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Corbyn in Uxbridge

Krise der Sozialdemokratie? Nicht in Großbritannien: Innenansichten aus der mitgliederstärksten Partei Europas

von Allan Popelard und Paul Vannier

Gohar Dashti, Untitled, aus der Serie „Stateless“, 2014–2015, 120 x 80 cm
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Auf dem Labour-Parteitag vom September 2017 zitierte Jeremy Corbyn aus einem Gedicht des nigerianischen Dichters Ben Okri: „Wenn ihr sehen wollt, wie die Armen sterben, kommt und seht Grenfell Tower.“ Beim Brand des Wohnturms am 14. Juni 2017 waren 79 Bewohner ums Leben gekommen.

Das mit Sozialwohnungen belegte Hochhaus stand in einer Armutsenklave in North Kensington, sonst eines der schickesten Viertel Londons. Eine krass unsoziale Politik war dafür verantwortlich, dass die Bewohner auf dieses Gelände zwischen Schnellstraße und Bahngleisen abgeschoben wurden. In den letzten 30 Jahren ist das Einkommen des reichsten Prozents der britischen Bevölkerung von 4,0 auf 8,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts gestiegen. „Grenfell steht stellvertretend für ein gescheitertes, kaputtes System“, sagte Corbyn in seiner Parteitagsrede. „Labour muss und wird dieses System ersetzen.“

Kensington war seit den 1970er Jahren fest in konservativer Hand. Bei den Unterhauswahlen im Juni 2017 wurde der Wahlkreis überraschend von Labour erobert. Seit Corbyn die Linkspartei anführt, hat sich deren politische Ausrichtung gewandelt. Unter Tony Blair1 seien viele linke Parteimitglieder ausgetreten, erzählt die neue Wahlkreisabgeordnete Emma Dent Coad. Aber viele seien inzwischen wieder eingetreten. „Dazu kommen zahlreiche junge Neumitglieder. Andere haben im Wahlkampf geholfen, ohne Mitglied zu werden.“

Dent Coad verdankt ihren Erfolg einer starken Zunahme aktiver Parteimitglieder – ihr Ortsverein ist in nur zwei Jahren von 300 auf 1000 Mitglieder angewachsen – und der „Zerrissenheit des konservativen Lagers aufgrund des Brexits“. In Kensington sind viele für einen Verbleib Großbritanniens in der EU, so konnte Emma Dent Coad viele Wähler mobilisieren, die nicht zur traditionellen Labour-Klientel gehören. „Für mich stimmten Wähler aus dem rechten Lager ebenso wie Leute, die sich von Labour entfremdet hatten, aber auch eingefleischte Nichtwähler und Menschen, die jedes Vertrauen in die Politik verloren hatten. Viele gingen überhaupt zum ersten Mal wählen.“

Auf ähnliche Weise sind seit Corbyns Wahl zum Parteichef im Jahr 2015 viele Wahlkreise gekippt. Labour ist in Westminster nach wie vor in der Minderheit. Aber bei den vorgezogenen Neuwahlen im Juni 2017 konnte die Partei 3,5 Mil­lio­nen Stimmen und 30 Parlamentssitze dazugewinnen. Dieser historische Durchbruch ist umso beachtlicher, als anderswo in Europa die alten sozialdemokratischen Parteien in der Krise stecken. Den französischen Sozialisten lief zwischen 2007 und 2016 die Hälfte ihrer Mitglieder (rund 140 000) davon und die SPD verlor bis 2017 knapp 100 000 Mitglieder (knapp 20 Prozent). Labour hingegen steigerte seine Mitgliederzahl seit 2015 um 300 000 auf 570 000.

Anders als in Frankreich oder Spanien gibt es in Großbritannien auch keine neue Kraft, die die politische Landschaft aufmischen und Labours Vormachtstellung gefährden würde. Mit der Forderung, die Eisenbahn wieder zu verstaatlichen und die Studiengebühren abzuschaffen, bricht Labour mit dem Neoliberalismus, den andere Parteien der Sozialistischen Internationale immer noch verteidigen. Welche Erklärung gibt es, neben dem Mehrheitswahlrecht, für diese Ausnahmeerscheinung?

„Es muss nicht nur eine neue Regierung her. Das ganze Politikmodell ist in der Krise“, sagt der linke Kolumnist Owen Jones vor 150 Zuhörern im Londoner Vorort Uxbridge. Der Saal ist in den Labour-Farben ausstaffiert, es gibt Informationsblätter über die Labour-Positionen zu Steuerpolitik, Beschäftigung, Gesundheit, Wohnungswesen und Brexit. Hier werden auch Mitglieder geschult, etwa in kleinen Rollenspielen, die auf die Aus­ein­an­dersetzung mit Ukip-Wähler vorbereiten sollen. Für den Haustürwahlkampf am Nachmittag werden rund 30 Teams gebildet.

Uxbridge ist der Wahlkreis, der 2015 vom derzeitigen Außenminister Boris Johnson, damals noch Bürgermeister von London, erobert wurde. Doch inzwischen bröckelt auch hier die konservative Mehrheit. Labour hat im ganzen Land 60 Wahlkreise ausgemacht, die an die Linke fallen könnten. „Wollen wir Johnson loswerden?“, fragt Jones. „Dann nichts wie ran! Schicken wir ihn in die Wüste!“

Wahlkampf in der Reihenhaussiedlung

Wir begleiten ein Wahlkampfteam durch eine Reihenhaussiedlung in der Einflugschneise des Flughafens Heathrow. „Never trust the Tories“, ist an einem Fenster plakatiert. Hier wohnt die untere Mittelklasse. Unser Team besteht aus einer Frau und fünf Männern, von denen nur einer dem Labour-Ortsverein angehört. „Ich bin Anfang der 1980er Jahre eingetreten“, erzählt der pensionierte Musiklehrer. „Als Blair gewählt wurde, hab ich mein Parteibuch abgegeben. Besonders unzufrieden war ich mit der Bildungspolitik unter Blair. Mit Corbyn bin ich wieder zurückgekommen.“

Sein Mitstreiter Seamus McCauley, 41 Jahre, arbeitet in der Kommunikationsabteilung eines Unternehmens. Niemals hätte er für die Partei von Tony Blair gestimmt, aber 2015 wurde er Mitglied in Corbyns Partei. Seit diesem Jahr engagiert sich auch die 50-jährige Keith Webb für Labour. Vorher habe „die Politik sie nicht interessiert“. David Carr war lange Aktivist der Communist Party. Er ließ sich durch Corbyn überzeugen, „weil der auch aus der Gewerkschaftsbewegung kam“. Und auch weil der Labour-Chef „Feminist ist und ökologisch denkt, für die Palästinenser eintritt und den Krieg im Irak ablehnt“. Zu dem Team gehören noch Amir N., der sich seit zwei Monaten engagiert, und Deborah Olszewski, die Corbyn unterstützt, obwohl sie einer anderen Partei, der Women’s Equality Party, angehört.

Die (auch sozial) bunte Mischung dieser kleinen Gruppe zeugt von der neuen Dynamik der Labour Party. Meist ältere Parteimitglieder, die der Partei den Rücken gekehrt hatten und nun zurückgekehrt sind – sie machen 31 Prozent der Eintritte seit 2015 aus2 –, kämpfen Seite an Seite mit vielen jungen Neumitgliedern. Die Jugendorganisation Young Labour hat mehr Mitglieder als die gesamte Conservative Party. Unter den neuen Labour-Mitgliedern sind viele Akademiker aus der Mittelschicht, die nicht gewerkschaftlich organisiert sind, aber in Jeremy Corbyn jetzt den richtigen Mann sehen.

Dabei hatte Corbyns Wahl zum Parteichef, die nach dem Rücktritt von Ed Miliband im Mai 2015 nötig wurde, unter ungünstigen Vorzeichen gestanden. Seine Gegner beschworen die Erinnerung an die vernichtende Wahlniederlage von 1983, als die dominante Parteilinke das Wahlprogramm bestimmt hatte, das Kritiker damals als „längsten Abschiedsbrief in der Geschichte des Selbstmords“ bezeichneten. Dennoch wurde der Abgeordnete des Londoner Wahlkreises Islington North mit 59,5 Prozent der Stimmen zum Vorsitzenden gewählt,3 wobei ihm auch das Prinzip der offenen Vorwahl zugutekam.

Mit seiner Person und seinen Ideen kam er bei breiten Bevölkerungsschichten an. Seine Unterstützer konnten mit ihrer Opposition gegen den Krieg und die Spar­po­li­tik4 die Mehrheit erringen und damit den Aufstand der zum Neoliberalismus konvertierten Parteieliten unterdrücken. 2016 wurde Cor­byn mit 61,8 Prozent der Stimmen als Parteichef bestätigt. Seitdem ist die Dynamik ungebrochen. „Labour – reif zum Regieren“ ist der Titel des Flugblatts, das die Wahlkämpfer den Bewohner von Uxbridge in die Hand drücken.

Boris Johnsons Wahlkreis wird nicht nur von der Labour Party ins Visier genommen, sondern auch von der Kampagne „Unseat“ („Abwählen“) der Bewegung „Momentum“. Die wurde 2015 von Aktivisten aus dem Umfeld Jeremy Corbyns gegründet, um „die Position des Labour-Chefs zu stärken“. So erklärt es uns Yannis Gour­tso­yan­nis von der nationalen Koordinierungsgruppe der Bewegung. „Seit seiner Wahl wird Corbyn von Labour-Abgeordneten angefeindet.“ In der Unterhausfraktion sitzen viele Anhänger der Tony-Blair-Linie.

Momentum hat inzwischen 36 000 Mitglieder und jede Woche kommen mehrere hundert Neumitglieder dazu. Die Organisation verfügt über ihr eigenes Instrumentarium: eine Onlineplattform und eine mobile App. „Wir sind permanent im Wahlkampf“, sagt Gourtsoyannis. Der junge Krankenhausarzt hält sich permanent für Neuwahlen bereit.

In der Tat ist die Regierung von Theresa May geschwächt, und zwar durch Korruptionsskandale wie durch die Brexit-Verhandlungen, bei denen sie es keiner der beiden Parteifraktionen recht machen kann, von denen die eine den „weichen“ EU-­Austritt anstrebt, die andere dagegen die Umwandlung Großbritanniens in eine Art Singapur.

Momentum hat 170 Ortsgruppen und will seine Strukturen weiter stärken. In „Master Classes“ lernen Mitglieder, wie man die sozialen Netzwerke nutzt. Einige der Referenten kommen aus dem Team von Bernie Sanders, der bei den letzten Vorwahlen der US-Demokraten knapp gegen Hillary Clinton unterlag. Die Mitglieder lernen, wie man öffentliche Versammlungen organisiert und worauf es im Wahlkampf beim „Klinkenputzen“ ankommt.

Die landesweiten Konferenzen bestehen vor allem aus Workshops über Wahlkampftaktiken. „Wir sind kein Thinktank. Wir produzieren keine Berichte. Wir sorgen dafür, dass die Politik der Labour Party die Wünsche und Vorstellungen ihrer Mitglieder und nicht die der Technokraten widerspiegelt.“ Die Bewegung will kein eigenes Programm entwickeln, sondern Einfluss auf die Positionen der Partei zum Gesundheitswesen, zur Rüstungsindustrie oder zur Migrationspolitik nehmen. „Das Programm der Labour Party ist das linkeste Programm seit vierzig Jahren. Aber bei diesen Themen ist es zu zaghaft.“

Während 37 Prozent der Labour-Wähler – insbesondere aus den unteren Schichten – für den Brexit stimmten, warb die Aktivistengruppe 2016 mit einer intensiven Kampagne für den Verbleib Großbritanniens in der EU. Auf den ersten Blick könnte sie damit in Konflikt mit einem Teil der Labour-Wählerbasis geraten. Stattdessen hat Momentum dazu beigetragen, bei den urbanen und gut ausgebildeten Jungwählern, die Corbyns auf Sparflamme geführte Europakampagne womöglich irritiert hatte, das Image von Labour zurechtzurücken.

Damit entwickelt sich die Bewegung schrittweise zu einer zentralen Größe der Labour Party. Im Januar wurden drei Momentum-Kandidaten, darunter auch Gründer Jon Lansman, in den Vorstand der Labour Party gewählt. Inzwischen müssen die Momentum-Mitglieder auch der Partei angehören, sind also voll integriert. Zwar werden gegen die Bewegung immer wieder Unterwanderungsvorwürfe laut, aber die Kritiker tun sich schwerer, Momentum als Splittergruppe jugendlicher Wirrköpfe zu denunzieren.

„Wir wollen Labour verändern“, erklärt Gour­tso­yannis. „Wir wünschen uns wieder eine stärkere Bindung zwischen der Unterhausfrak­tion und den Mitgliedern.“ Viele Abgeordnete hatten sich der Kandidatur Corbyns widersetzt. Wer für den Labour-Parteivorsitz kandidieren will, muss sich die Unterstützung von 15 Prozent der Unterhausfraktion sichern. Corbyn brauchte also, um antreten zu können, 35 Stimmen. Am Ende brachte es der linke Kandidat gerade mal auf 36.

„Wir müssen uns wieder mit den Bürgerbewegungen verbinden, die gegen die Sparpolitik,5 den Krieg oder die Zerschlagung des öffentlichen Gesundheitswesens mobilmachen“, sagt Yannis Gour­tso­yan­nis. Während viele Parteien nur noch um sich selbst kreisten und zu bürokratischen und opportunistischen Wahlvereinen verkommen seien, wolle Momentum die Alternativen ausloten.

Sheffield in Yorkshire ist seit den 1920er Jahren eine Labour-Hochburg. Die Fabriken im Lower Don Valley sind nach wie vor ein Zentrum der Stahlindustrie. Hier wurde 1866 die Organisation gegründet, aus der der Trade Union Congress (TUC) hervorging, der heute 5,5 Millionen Arbeiter repräsentiert. Fast alle 49 Mitgliedsgewerkschaften des TUC sind der Labour Party „angegliedert“ und damit an der Finanzierung wie auch an den Entscheidungen der Partei beteiligt. Die einzigartige Geschichte der britischen Arbeiterbewegung hat eine enge Verbundenheit zwischen Partei und Gewerkschaften gestiftet. Schon an der Labour-Gründung im Jahr 1900 waren die Gewerkschaften wesentlich beteiligt.

Als TUC-Vorsitzender in Sheffield saß Martin Mayer bis Sommer 2017 im Labour-Parteivorstand. „Die letzten beiden Jahre waren sehr schwierig“, sagt er. „Corbyn stand pausenlos unter Beschuss.“ Als 172 Parlamentarier im Juni 2016 Corbyn das Misstrauen aussprachen, stellten sich die Gewerkschaftler geschlossen hinter ihn. Nachdem die Gewerkschaften in der New-Labour-Ära unter Blair (1994–2007) und Gordon Brown (2007–2010) an den Rand gedrängt waren, spielen sie jetzt wieder eine zentrale Rolle. Die Zeiten, in denen sich manche Organisationen aus Opposition gegen die Politik von New Labour von der Partei lossagten (wie 2004 die Gewerkschaft der Feuerwehrleute), sind vorbei – ebenso die Zeiten, in denen ein Labour-Chef die Kernpunkte von Thatchers gewerkschaftsfeindlichen Gesetzen übernahm und den Einfluss der Arbeitnehmerorganisationen beim alljährlichen Parteitag zurückdrängte.6

„Bevor Corbyn auf den Plan trat“, erzählt Ma­yer, „dachten viele Gewerkschaften darüber nach, sich von der Partei abzukoppeln. Die Arbeitnehmer stellten ihre Gewerkschaftsführer zur Rede: ‚Warum bleibt ihr bei Labour, wenn ihr nichts dafür bekommt?‘ Doch es mangelte an echten Alternativen. Die anderen linken Parteien, etwa die Communist Party, sind zu schwach, um jemals eine Wahl zu gewinnen. Also sind wir geblieben.“

Die Gewerkschaftsbataillone bilden zwar keinen homogenen Block, kämpfen aber an der Seite Corbyns. In der Londoner Zentrale von Unite, mit 1,4 Millionen Mitgliedern die größte britische Gewerkschaft, spricht Andrew Murray, der Stabschef des Generalsekretärs, von der „engen und stabilen Beziehung“ seiner Organisation zu Corbyn. Und zwar von einer „politischen“ Beziehung, wie er betont. „Von seinem Sieg erhoffen wir uns einen radikalen Politikwechsel. Die soziale Ungleichheit muss bekämpft werden. Es muss einen Machtwechsel zugunsten des Faktors Arbeit und der Arbeitnehmer geben. Die öffentliche Sphäre soll im Verhältnis zur Privatwirtschaft wieder mehr Raum bekommen. Außenpolitisch wollen wir eine Abkehr von der blinden Unterstützung der Nato und eine Friedenspolitik für den Nahen Osten.“

Seit an Seit mit den Gewerkschaften

Die europäische Frage, die den Konservativen zusetzt, scheint für den Aufschwung von Labour kein Hindernis zu sein. Im Februar deutete Corbyn in einer Rede an, dass Labour sich im Falle eines Wahlsiegs für den Verbleib des Vereinigten Königreichs in der Europäischen Zollunion einsetzen werde. Damit entzückte er nicht nur die EU-Freunde und Blair-Anhänger in der eigenen Partei, sondern auch den größten Arbeitgeberverband CBI und die Financial Times. Aber zugleich machte Corbyn den Verbleib im EU-Binnenmarkt von strengen Schutzklauseln und Ausnahmeregelungen abhängig, einschließlich des Rechts, bestimmte Industriezweige staatlich zu unterstützen. Damit will er sich die Unterstützung der europaskeptischen Labour-Mitglieder sichern.

Die britischen Gewerkschaften hatten 1975 noch ein Referendum mit dem Ziel verlangt, aus dem politischen Europa auszusteigen. Mit Thatchers Wahlsieg 1979 änderte sich die Lage. Manche sahen in Europa nun „den wertvollen Schutzschild gegen die Auswüchse des Neoliberalismus“.7 Die von konservativer Seite geführte Brexit-Kampagne ließ 2016 die Diskussionen in den Gewerkschaften wiederaufleben.

In Sheffield äußern sich Abgeordnete und Gewerkschafter beider Lager, berichtet Martin Ma­yer, „aber der Gewerkschaftsrat legte sich nicht fest, weil substanzielle Meinungsunterschiede weiter bestanden“. Landesweit sprachen sich schließlich 13 der 27 größten Gewerkschaften für den Verbleib Großbritanniens in der EU aus, während sich 11 nicht festlegten und 3 für einen „Lexit“ – also einen „left exit“ – warben.8

Die Gewerkschaften, die bis heute die Labour Party zur Hälfte finanzieren und ein Drittel der Vorstandsmitglieder stellen, fordern ihre Mitglieder auf, sich in die Parteidebatten einzumischen. In Schottland erklärte Unite-Generalsekretär Len Mc­Cluskey seine Unterstützung für Richard Leo­nard, der Corbyn nahesteht und sich um den Vorsitz der Scottish Labour Party bewarb. Dieser Posten ist strategisch wichtig, weil sich Labour in Schottland nur dann Hoffnungen auf einen Wahlsieg machen kann, wenn sie die Wähler zurückgewinnt, die sie an die Scottish National Party (SNP) verloren hat.

Corbyn hat die natürlichen Bande zwischen seiner Partei und den Gewerkschaften neu geknüpft. „Das Entscheidende ist, dass die Partei jetzt demokratisch geworden ist“, freut sich Andrew Murray. Er sieht in „Momentum und Unite die Hauptstützen für die Neuausrichtung unter Corbyn“. Diese Konstruktion könnte indes fragiler sein als gedacht. Zu aller Erstaunen kündigte Momentum-Gründer Jon Lansman kürzlich an, er werde sich gegen Jennie Formby, die aus den Reihen von Unite stammt und Corbyns Unterstützung genießt, um den Posten des Labour-Generalsekretärs bewerben.

Lansman zog seine Kandidatur zwar später zurück, aber zweifellos werden sich künftig weitere Divergenzen zeigen. Lansman brachte sich als Alternative ins Spiel, obwohl er wusste, dass die Funktion des Generalsekretärs traditionell mit einem Gewerkschaftsvertreter besetzt wird. Mit seinem Vorschlag, der Generalsekretär sollte von allen Parteimitgliedern und nicht mehr von der Parteiführung gewählt werden, will er nach eigener Aussage „die Rechte der Mitglieder stärken“.

Die Grafschaft Durham war mit 200 Kohlegruben und 200 000 Arbeitern lange das größte Bergbaurevier der Erde. Unter Thatcher wurde die De­in­dus­tria­li­sierung des Nordostens mit Hochdruck betrieben und den Bergleuten die Existenzgrundlage geraubt, aber die Kumpel haben sich ein paar Traditionen nicht nehmen lassen. Zum Beispiel die alljährliche Durham Miners’ Gala, die „Gala der Bergleute“ – seit 1871 ein Fixpunkt im Leben der britischen Linken. „Zur jüngsten Gala kamen 200 000 Menschen“, freut sich Andrew Cummings, der Vorsitzende des Bergmannsvereins. „Jeremy Corbyn hat oft teilgenommen. Das ist ein Mann mit Prinzipien. Er ist einer von uns.“ Für die ehemaligen Bergarbeiter in dieser Re­gion, die lange zu den Hochburgen von New Labour zählte, ist Corbyns Sieg ein Weckruf zur Re­vanche.

„Tony Blair war ein als Labour-Chef getarnter Tory. Während seiner gesamten Amtszeit hat er sich nie dazu herabgelassen, eine unserer Galas zu besuchen.“ Dabei lag Blairs Wahlkreis Sedgefield nur wenige Kilometer entfernt, und seine rechte Hand, Peter Mandelson, saß für das nahe Hartlepool im Unterhaus. Doch die „Modernisierer“ scherten sich wenig um das Erbe der Arbeiterbewegung. Nach vier Wahlniederlagen in Folge (1979, 1983, 1987, 1992) wollten sie konservative Bastionen dadurch erobern, dass sie das Projekt einer klassenlosen Gesellschaft und einer Politik ohne Gegner ausriefen.9 Corbyn hat mit dieser Neuausrichtung Schluss gemacht, die auf der Suche nach einer „extremen Mitte“ die Partei auf einen neoliberalen Kurs gebracht hatte.

Die Hauptvertreter von New Labour sind heute in der Defensive. Phil Wilson, der Blair nicht nur als Abgeordneter von Segdefield beerbt hat, konnte in seinem eigenen Wahlkreis nichts gegen den Corbyn-Effekt ausrichten. 2016 konnte er die Mehrheit der Mitglieder nicht dazu bewegen, für Owen Smith, den Kandidaten des rechten Flügels, zu stimmen. „Das liegt an den vielen Neueintritten“, sagt Peter Brookes. „2015 hatten wir 400 Mitglieder. Heute sind es doppelt so viele.“

Als Abgeordneter für die Grafschaft Durham vertritt Brookes auch die Ortschaft Trimdon, in der sich Tony Blair einst privat niedergelassen hatte. Er gehört zu jener „Fünferbande“, die „Tony“ 1983 zu seinem ersten Sieg verholfen haben soll. Heute räumt Brookes bereitwillig ein, dass „etwas in Bewegung ist“. Gerade die Jungen würden in Corbyn einen einfachen, gradlinigen Mann sehen, „der Politik anders betreibt und ihr Leben zum Besseren verändern kann“.

Wie Brookes erzählt, wollen die Vertreter von New Labour, die derzeit in der Minderheit sind, „ihre Wahlkreise behaupten und ihre Kandidaten an die Parteispitze befördern“. Doch dafür fehlen ihnen heute die Netzwerke. Ihre wichtigste Gruppierung namens „Progress“ ist in Schwierigkeiten, seit ihr Geldgeber David Sainsbury, einer der reichsten Briten, sein Engagement 2017 einstellt hat. „Man müsste sich besser organisieren“, räumt Peter Brookes ein. Nachdem er erst einen Ausstieg der „Gemäßigten“ und die Gründung einer neuen Partei befürwortet hatte, hofft er nun auf ein „Gegengift gegen Momentum“.

Dagegen hat Corbyn der mitgliederstärksten Partei Europas ein neues Gesicht gegeben. Und diese Partei beschreitet vollkommen neue Wege. Ohne mit dem alten politischen Personal zu brechen – wie Podemos in Spanien oder La France insoumise –, verfolgt Labour einen Neuanfang, der vitalisierend wirkt. Ganz nach dem Motto von Corbyn: „For the many, not the few.“

1 Blair war von 1997 bis 2007 Premierminister und gilt als Architekt der Rechtswende der Labour Party („New Labour“).

2 Tim Bale, Monica Poletti und Paul Webb, „Explaining the pro-Corbyn surge in Labour’s membership“, British Politics and Policy, 16. No­vember 2016: blogs.lse.ac.uk.

3 Fünf Jahre zuvor hatte die Vertreterin des linken Parteiflügels, ­Diane Abbott, nur 7,2 Prozent der Stimmen erhalten.

4 Siehe Alex Nunns, „Mit Bart und Prinzipien“, Le Monde diplomatique, Oktober 2015.

5 Ein Beispiel ist die Bewegung „People’s Assembly Against Austerity“, die 2013 von Gewerkschaftsführern, Aktivisten und Journalisten ins Leben gerufen wurde. Mit ihren 80 Ortsgruppen im ganzen Land brachte sie am 20. Juni 2015 rund 250 000 Demonstranten und im April 2016 zwischen 50 000 und 100 000 auf die Straße.

6 Ihr Stimmenanteil wurde von 90 auf 50 Prozent gesenkt.

7 Houcine Msaddek, „Des anti-Marketeers aux Brexiteers: La rhétorique eurosceptique des syndicats britanniques d’un référendum à l’autre“, Revue française de civilisation britannique, Bd. XXII, Nr. 2, Paris 2017.

8 Stefano Fella, „Should I stay or should I go?“, Labour Research, London, Juni 2016.

9 Für diese Politik zur Eroberung der Mitte stand der „Essex Man“, benannt nach der Grafschaft im Südwesten, der den englischen Durchschnittswähler verkörpert.

Aus dem Französischen von Andreas Bredenfeld

Allan Popelard und Paul Vannier sind Journalisten.

Le Monde diplomatique vom 12.04.2018, von Allan Popelard und Paul Vannier