Der verkannte Klassenkämpfer Martin Luther King
von Sylvie Laurent
Vor einigen Wochen ertönte im US-Fernsehen in der Pause des Superbowls unverhofft die Stimme von Martin Luther King. Seine Rede „The Drum Major Instinct“ gab den Soundtrack zu einer Werbung für Pick-ups ab. Bei dem Spot, der einen robust männlichen Geländewagen mit US-Flagge, US-Soldaten und vorbildlichen US-Familien in Szene setzte und das Ganze mit der Stimme des schwarzen Bürgerrechtlers untermalte, lief es einigen Leuten kalt den Rücken hinunter.
30 Sekunden Werbezeit in der Halbzeitpause des Superbowl-Finales kosten gut 5 Millionen Dollar. Dass die Hohepriester des Massenkonsums die Rede des Baptistenpastors King für ihre Zwecke benutzen durften, birgt eine besondere Ironie, denn Martin Luther King ging in ebenjener Rede vom 4. Februar 1968 ein paar Absätze später mit dem Materialismus seines Landes hart ins Gericht. Er verspottete seine Mitbürger, die sich von der Reklame dazu verführen ließen, bestimmte Sachen zu kaufen, um sich anderen überlegen zu fühlen, oder sich erst als vollwertigen Menschen betrachten, wenn sie ein bestimmtes Auto besitzen. Sie „führen ihren Cadillac vor“, wetterte er, und sie befeuerten eine Neidindustrie, an der Amerika langsam, aber sicher zugrunde gehe.
Heute, 50 Jahre nach seiner Ermordung, wird Martin Luther King mehr verklärt denn je. Zu seinen Ehren hatte schon 1983 der konservative US-Präsident Ronald Reagan einen nationalen Feiertag eingeführt. Die Erinnerung an den Sozialrevolutionär wurde politisch instrumentalisiert, King von allen Seiten vereinnahmt. Um die Geschichte von der versöhnten Nation erzählen zu können, musste man jedoch den Dissidenten aus der Erinnerung löschen.
Übrig blieb ein Patriot, ein Gründervater, ein außergewöhnlicher US-Amerikaner, den nur ein außergewöhnliches Land hervorgebracht haben konnte. Ein Schwarzer, der von der Rassengleichheit träumte und zu Recht darauf vertraute, dass seine Landsleute sie verwirklichen würden. Ein Mann, der seinem Land diente und dessen einzigartiges demokratisches Potenzial erkannte. Auf dem Sockel des von Barack Obama 2011 in Washington eingeweihten Denkmals fehlt jeder Hinweis auf Rassismus oder Rassentrennung. Auf der National Mall der Hauptstadt, auf der der großen US-Amerikaner gedacht wird, sollen sich die Besucher lieber an den Traum erinnern, den King auf der großen Kundgebung von 1963 heraufbeschwor.
King ist auf Briefmarken verewigt, über den Portalen von Universitäten und Schulen, auf der National Mall, in Bilderbüchern, in netten Geschichten, die das Image der USA im Ausland aufpolieren sollen, im Weißen Haus – und in einer Werbung für Geländewagen. Dass er ein kritischer Kopf war, wird unter der Last der offiziellen Ehrungen und der kommerziellen Ausbeutung begraben.
Angefangen hat das Umschreiben der Geschichte damit, dass die schwarze Revolution der 1950er und 1960er Jahre auf die Forderung nach formaler Gleichberechtigung reduziert wurde – als wäre es den Schwarzen in den Südstaaten allein um das Wahlrecht und das Ende der rechtlichen Diskriminierung gegangen. Am Ende wurden sie 1965 mit einer Mogelpackung abgespeist: Man versuchte ihnen weiszumachen, dass mit dem Ende der rechtlichen Diskriminierung die Gleichberechtigung bereits erreicht sei. King war bestürzt über diesen Taschenspielertrick.
Das Wort Gleichberechtigung habe für Schwarze und Weiße eine unterschiedliche Bedeutung, schrieb er 1967 in seinem letzten Buch.1 „Schwarze gehen davon aus, dass Gleichberechtigung wörtlich zu verstehen ist, und sie haben die weißen Amerikaner beim Wort genommen, als diese von Gleichberechtigung als einem gemeinsamen Ziel sprachen. Doch für die meisten Weißen im Amerika des Jahres 1967, selbst wenn sie guten Willens sind, ist Gleichberechtigung nicht viel mehr als ein anderes Wort für Verbesserung. Das weiße Amerika ist psychologisch noch längst nicht so weit, die Kluft zu schließen – es versucht lediglich sie weniger schmerzhaft und offensichtlich zu gestalten, will sie aber im Großen und Ganzen erhalten.“
Für die schwarzen US-Amerikaner wie für Martin Luther King selbst waren die Bürgerrechte nie der letzte Horizont. Sie wollten auch soziale Gleichberechtigung, Umverteilung des Reichtums und ein Ende der Segregation, die Schwarze zu Arbeitslosigkeit, Ghetto, Polizeigewalt, unwürdigen Löhnen, Problemschulen, Ausbeutung und Imperialismus verdammte. Kings Vorstellungen von Emanzipation gingen damit weit über das Problem des Rassismus hinaus. Auch wenn die Schwarzen die absolut Unterprivilegierten, die Unterdrückten par excellence und die Vorhut der bevorstehenden Revolution sein mochten, so mussten doch alle sozial Schwachen befreit werden: arme Weiße, Sozialhilfeempfängerinnen, ausgeplünderte Indianer, gedemütigte Hispanics. An ihren Möglichkeiten, am demokratischen Diskurs teilzuhaben oder gar an die Macht zu gelangen, bemaß sich seiner Meinung nach der wahre Wert des Landes.
Seine letzte Schlacht war folgerichtig ein Feldzug der Armen, die Poor People’s Campaign, die im Frühjahr 1968 die Elenden aller Regionen und Hautfarben zusammenbrachte. Am Ende wollten sie sich in der Hauptstadt versammeln, um eine Verfassungsrevolution zu fordern: die Verabschiedung einer Charta der ökonomischen Grundrechte für die „sozial Schwachen“, einen gesetzlichen Mindestlohn, die Beteiligung von Wohlfahrtsverbänden am Gesetzgebungsprozess, eine gewaltige Reichtumsumverteilung sowie staatliche Beschäftigungsprogramme und sozialen Wohnungsbau in einem nie dagewesenen Umfang. Im Februar 1968 spottete King über die Leute, die von der „sozialen Hängematte“ sprechen, wenn Schwarze öffentliche Beihilfen erhalten, und von „Subventionen“, wenn die ohnehin privilegierten Weißen bedacht werden. Anders gesagt: „Wir haben für die Reichen den Sozialismus und für die Armen den Raubtierkapitalismus!“2
Mit subtiler Dialektik suchte er den Widerspruch zu überwinden zwischen einem klassenkämpferischen Verständnis der Unterdrückung (das von der Annahme ausgeht, jedwede Unterdrückung werde mit dem Zusammenbruch des Kapitalismus verschwinden) und einem identitätspolitischen Ansatz, dem zufolge jede diskriminierte Gruppe ihren eigenen Kampf führen müsse – Ausbeutung und Diskriminierung seien schließlich völlig unterschiedliche Dinge. Für alle, die bei der Poor People’s Campaign mitmachten, bestand kein Zweifel, dass Schwarze und Latinos überproportional von Ausbeutung betroffen sind. Aber das war für sie der Ausdruck eines Herrschaftssystems, das auch viele andere Opfer forderte.
Im Rahmen der Kampagne wiesen die – meist schwarzen – Frauen in der National Welfare Rights Organization3 auf den engen Zusammenhang der verschiedenen Formen von Unterdrückung hin, ob aufgrund von Klasse, Geschlecht oder Rasse. Weil diese Formen der Unterdrückung sich stets mischen und ineinandergreifen, ohne dass eine der anderen übergeordnet wäre, war die logische Folge für Martin Luther King ein Aufruf zur Solidarität; er sprach von „Brüderlichkeit“. In einem Interview mit der New York Times gab er unumwunden zu, dass er eine Art Klassenkampf führe. Am 4. April 1968, einen Monat vor dem von ihm organisierten „Poor People’s March on Washington“, wurde er erschossen.
Zur allgemeinen Erinnerung an King gehört freilich auch, dass er manchmal heftig werden konnte, vor allem beim Thema Vietnam. Es heißt, gegen Ende seines Lebens habe er sich, verbittert und einsam, wie er war, radikalisiert. Der Pastor, der 1963 für seine Rede „I Have a Dream“ noch einhellig gelobt wurde, habe viele Sympathien verloren, als sein ruhiger Reformismus in Zorn umschlug. Doch auch das ist eine Geschichtsfälschung: Erstens hatte King nie die US-Bevölkerung hinter sich, nicht einmal, als ihm 1964 der Friedensnobelpreis verliehen wurde. Den Marsch auf Washington im Jahr zuvor, der heute als ein nationales Versöhnungssymbol gilt, haben damals nur ein Drittel der US-Amerikaner unterstützt. Sogar die fortschrittlichen New Yorker hielten King laut einer Umfrage der New York Times vom 21. September 1964 mehrheitlich für „extremistisch“ und empfanden die Forderung nach Bürgerrechten für Schwarze als „übertrieben“. Schließlich hatte er seine unbequemen Überzeugungen nicht erst gegen Ende seines Lebens kundgetan.
Schon im Alter von 23, nachdem er Marx und Gandhi gelesen, den pazifistischen und sozialistischen Pastor Norman Thomas bewundert und das soziale Christentum eines Reinhold Niebuhr entdeckt hatte, formulierte er seine Kritik an einem Wirtschaftssystem, das den Reichtum in den Händen einiger weniger konzentriert. 1952 schrieb er in einem Brief an seine spätere Frau Coretta: „Der Kapitalismus hat ausgedient“, und bezeichnete sich trotz aller Einwände gegen Marx als dem Geiste nach „sozialistisch“.
King war ein Pessimist, der die Hoffnung nicht aufgegeben hatte. Von seinem Land malte er ein düsteres Bild: „Solange Maschinen und Rechner, das Gewinnstreben und die Eigentumsrechte mehr zählen als die Menschen, können die mächtigen Drillinge Materialismus, Militarismus und Rassismus nicht besiegt werden.“4 Er forderte einen tiefgreifenden gesellschaftlichen Umbau, eine „Revolution der Werte“, in der die Weißen einsehen müssen, dass echte Gleichheit ihren Preis hat. „Es ist an der Zeit, dass die Privilegierten von ihren Millionen etwas abgeben. Die Rassentrennung im Süden zu beenden oder uns das Wahlrecht zu geben, hat nichts gekostet. Diesmal ist es anders“, erklärte er im August 1967. „Wir müssen uns fragen: ‚Warum gibt es in Amerika 40 Millionen Arme?‘ Und wenn ihr euch das fragt, stellt ihr die Frage nach dem Wirtschaftssystem und nach einer breiteren Verteilung des Wohlstands. Und ihr werdet euch fragen: ‚Wem gehört das Öl?‘ und: ‚Wem gehört das Eisenerz?‘ “5
King machte damit deutlich, dass die Herrschaftspolitik nicht auf die Verweigerung des Wahlrechts oder die Rassentrennung beschränkt ist. Vielmehr handele es sich um eine gezielt organisierte wirtschaftliche Unterwerfung, etwa durch das Einpferchen der Armen in Ghettos und Slums, durch Arbeitslosigkeit und unwürdige Löhne, durch die angebliche „Kultur der Armut“ oder das gute Gewissen der paternalistischen Reformer. Zu Letzteren zählte er insbesondere Demokraten und fortschrittlich gesinnte Städter, die für Gleichberechtigung eintraten, aber nur so lange, bis sich die ersten Schwarzen in ihren schicken Vororten niederlassen wollten.
Der Kult um Martin Luther King blendet seine Kritik an der US-Demokratie und der systematischen Ungleichheit in seinem Land aus. King hielt Rassismus und Imperialismus für Geburtsfehler des weißen Amerika. Die Widerstände gegen eine echte Gleichheit ließen sich aus seiner Sicht nur dadurch auflösen, dass die Entrechteten und Andersdenkenden sich mit zivilem Ungehorsam zur Wehr setzten und alle revolutionären Kräfte gemeinsam eine neue demokratische Idee erfinden.
Die von ihm geforderte „Politik der Liebe“ war im Kern friedlich, suchte aber durchaus die Konfrontation. Gewaltfreie direkte Aktionen sollten die öffentliche Ordnung und damit die Ordnung überhaupt stören, damit die Schwächsten endlich ein Mitspracherecht erhalten und so zu politischen Subjekten werden. Gewaltfreier Widerstand bedeutete nicht Ablehnung der Wut und war auch keine christliche Pose, sondern subversive Verweigerung: Das Leid wurde auf diese Weise zum Motor politischen Handelns. Es bereitete nicht dem Peiniger Unbehagen, sondern allen, die zusahen.
Nach 1965 kam es vermehrt zu schwarzen Revolten, die das Ziel der Gewaltfreiheit unterliefen, doch King blieb unnachgiebig. Die zahlreichen Ghettoaufstände zwischen 1964 und 1968 verurteilte er allerdings auch nicht. Gewalt bezeichnete er als den „Schrei derer, die sonst keiner hört“. Das einzige Mittel, um sie zu beenden, sei der Kampf gegen Arbeitslosigkeit, Diskriminierung und Polizeigewalt. Der Bericht der vom Weißen Haus 1967 einberufenen unabhängigen Kerner-Kommission bestätigte diese Diagnose. Allerdings ließ ihn der mit dem Vietnamkrieg beschäftigte Lyndon B. Johnson in einer Schublade verschwinden. Als sein Nachfolger Richard Nixon neun Monate nach Kings Ermordung sein Amt antrat, forderte das Land die Rückkehr zur Ordnung sowie die Disziplinierung der Aufwiegler und Undankbaren. Und Nixon machte den – für die Anhänger Martin Luther Kings zynisch wirkenden – Vorschlag, statt der Gleichberechtigung lieber einen „schwarzen Kapitalismus“ auf die politische Agenda zu setzen.
1 Martin Luther King, „Where Do We Go from Here: Chaos or Community“, Boston (Beacon Press) 1967.
2 Martin Luther King, „To Minister to the Valley“, Rede am 23. Februar 1968 in Miami.
4 Martin Luther King, „Beyond Vietnam: A time to break silence“, Rede am 4. April 1967 in New York.
5 Martin Luther King, „Where do we go from here?“, Rede am 16. August 1967 in Atlanta.
Aus dem Französischen von Nicola Liebert
Sylvie Laurent ist Dozentin an der Hochschule Sciences Po in Paris und Autorin von „Martin Luther King. Une biographie“, Paris (Éditions du Seuil) 2015.