Wo die Steuern Reiche noch reicher machen
Die meisten Regierungen in Lateinamerika betreiben eine fiskalische Umverteilung von unten nach oben
von Bernard Duterme
Am 4. Mai 2017 präsentierte eine hochrangige IWF-Delegation der Regierung in Managua ihre Empfehlungen für das Jahr 2018. Ein Ratschlag lautete, Nicaragua solle seine Steuereinnahmen durch den Abbau von Steuerprivilegien erhöhen, aber auch durch die Besteuerung der Gewinne von Unternehmen, die in den Sonderwirtschaftszonen des Landes ansässig sind.1
Verkehrte Welt? Keineswegs: Dass eine als neoliberal verschriene Finanzinstitution einer als sozialistisch geltenden Regierung eine zu laxe Steuerpolitik vorhält, ist kein Einzelfall. In den letzten zehn Jahren haben sich der IWF, die Weltbank und die Interamerikanische Entwicklungsbank (IDB) in Lateinamerika energischer für steuerliche Umverteilungseffekte eingesetzt als die meisten ihrer Gesprächspartner, egal ob es sich dabei um rechte oder linke Regierungen handelte.
Im globalen Vergleich verzeichnet Lateinamerika die größte Ungleichheit bei der Verteilung des Reichtums. Sieben der zehn Länder, in denen die Einkommen des reichsten Prozents der Bevölkerung den höchsten Anteil am nationalen Gesamteinkommen ausmachen, liegen in Lateinamerika.2 Warum das so ist, erschließt sich durch einen Blick auf die Steuerpolitik, die zwar nicht die alleinige, aber doch eine der Hauptursachen für die strukturelle Ungleichheit ist.
„Die durch den Markt entstandenen Ungleichgewichte – also bevor der Staat über die Fiskalpolitik eine Umverteilung vornimmt – sind in Lateinamerika nicht viel größer als in den europäischen Ländern“, konstatiert María Fernanda Valdés, Expertin für Steuerpolitik. Mithin resultieren die Unterschiede bei der Einkommensverteilung aus den unterschiedlichen Steuersystemen: „In Europa verringert das Steuersystem die Einkommensungleichheit, in Lateinamerika dagegen nicht.“3
Das bestätigt eine Analyse der UN-Wirtschaftskommission für Lateinamerika und die Karibik (Cepal): In Lateinamerika liegt der Gini-Koeffizient, der die Ungleichheit der Einkommensverteilung misst, nach Steuern nur um 3 Prozent niedriger – in den OECD-Staaten dagegen um 17 Prozent.
Hier zeigt sich, dass Steuerpolitik in Lateinamerika kaum als Instrument zur Umverteilung und damit zur Förderung des gesellschaftlichen Zusammenhalts und der sozialen Gerechtigkeit genutzt wird. Allerdings ist die Situation in den einzelnen Ländern des Kontinents sehr unterschiedlich. In Brasilien und Argentinien ist die steuerliche Belastung zweieinhalbmal so hoch wie in der Dominikanischen Republik und in Guatemala, die die niedrigste Steuerquote aufweisen.
Dabei beginnt die Besteuerung zumeist bereits bei den sehr niedrigen Einkommen. Dies niedrige Schwelle und auch die im Allgemeinen regressiven Steuertarife kommen den Eliten zugute, die prozentual weniger abführen müssen als die unteren Gesellschaftsschichten.
Es ist die altbekannte Formel: Einerseits werden Vermögen und Eigentum gar nicht oder nur geringfügig belastet (in Lateinamerika entspricht das entsprechende Steueraufkommen gerade einmal 0,8 Prozent des BIPs). Andererseits sind die „indirekten“ Steuern auf Waren und Dienstleistungen fünf- bis sechsmal so hoch wie die – theoretisch progressiveren – Steuern auf das Einkommen natürlicher Personen.
Im lateinamerikanischen Durchschnitt beliefen sich die eingenommenen indirekten Steuern auf 10 Prozent des BIPs, während die „direkten“ Steuern auf die Einkommen natürlicher Personen nur knapp 1,8 Prozent des BIPs ausmachten.4 Zum Vergleich: In den OECD-Ländern lag der Anteil der Einkommensteuer im selben Jahr bei 8,4 Prozent, und auch in Afrika noch bei 3,2 Prozent. In Mexiko, Argentinien und Uruguay entspricht die Einkommensteuer 3 Prozent des BIPs, in Bolivien und Guatemala hingegen weniger als 0,5 Prozent.
Zu Anfang der nuller Jahre war die Ungerechtigkeit allerdings noch größer. Damals belief sich der Anteil der Einkommensteuer am BIP im lateinamerikanischen Durchschnitt gerade einmal auf 1 Prozent. Die Tendenz ist also immerhin steigend. Doch die steuerliche Gesamtbelastung ist immer noch niedrig. 2015 machte sie 21 Prozent des BIPs aus (gegenüber 18 Prozent im Jahr 2005), was noch immer weit unterhalb des OECD-Durchschnittswerts von rund 35 Prozent liegt.
Dabei entfiel über die Hälfte der steuerlichen Gesamtbelastung (Zeitraum von 2000 bis 2015) auf die indirekten Steuern, also etwa Mehrwertsteuern oder Import- und Exportsteuern. Am stärksten stiegen in diesem Zeitraum die Unternehmensteuern und vor allem die Steuern auf Abbau und Vermarktung nicht erneuerbarer Rohstoffe. Letztere lagen kurzzeitig sogar über dem Durchschnittswert der OECD-Staaten, bevor das Steueraufkommen in diesem Bereich wieder zurückging. Hintergrund dafür war der Rohstoff- und Förderboom, der ab 2014 im Zuge des Kursverfalls an den internationalen Märkten zum Erliegen kam.
Laut OECD erklären sich die niedrigen Steuereinnahmen auf Einkommen, Gewinne und Kapital in Lateinamerika „teilweise aus großzügigen Steuerbefreiungen und umfangreichen Steuerentlastungen wie auch aus der Steuerflucht besonders reicher Steuerpflichtiger“.5 Aber auch der oft hohe Anteil des informellen Sektors und damit der Schwarzarbeit spielt eine Rolle.
Doch die entscheidenden Hindernisse, die das Entstehen von effizienteren und stärker auf Umverteilung orientierten Steuersystemen blockieren, sind die gesellschaftlichen Strukturen und vor allem der Einfluss der Eliten. Diese sind aufgrund ihrer privilegierten Machtpositionen in der Lage, die gesellschaftlichen wie die steuerpolitischen Richtlinien zu diktieren.
Haben die progressiven beziehungsweise postneoliberalen Regierungen der letzten Zeit, die zum Teil immer noch im Amt sind, etwas daran geändert? Ja und nein. In Venezuela unter Hugo Chávez, in Ecuador unter Rafael Correa und in Bolivien unter Evo Morales ist es gelungen, die Steuereinnahmen deutlich zu steigern. Diese Gelder wurden mittels sozialpolitischer Programme umverteilt, was Armut wie Ungleichheit merklich reduziert hat.
Allerdings wurden die neuen Steuern vor allem auf Gewinne aus der Rohstoffproduktion und -ausfuhr erhoben. Das hatte Nachteile, meint Valdés: „Dank dieser Einkünfte aus dem Rohstoffsektor war der Druck nicht mehr so groß, die Gesellschaft zur Finanzierung der Staatsausgaben zu besteuern.“6 Abgesehen von diesem – seit einigen Jahren rückläufigen – Geldsegen und einiger ergänzender gesetzlicher Maßnahmen blieb jedoch eine Veränderung der Steuerstrukturen aus, wie auch eine grundlegende Reform mit dem Ziel, die Steuersätze deutlich zu erhöhen und die Steuerprogression zu verstärken.
In Ecuador hatte sich Präsident Correa, der von 2007 bis 2017 regierte, während seiner letzten Amtsperiode für ein Gesetz starkgemacht, das ehrgeiziger war als die Regelungen in den Nachbarländern. Wegen starken Widerstands musste er allerdings zurückrudern, erläutert François Houtart, Gründer des Forschungszentrums Centre tricontinental: „Seine Gesetzentwürfe zur Erbschaftsteuer und zum Kampf gegen die Grundstücksspekulation waren dermaßen unverständlich, dass die von der Reform betroffenen Privilegierten große Teile der Mittel- und Unterschicht einschließlich der Bauern und indigenen Bevölkerung zu einer Gegenreaktion bewegen konnten.“7 Und das, obwohl die geplanten Maßnahmen wahrscheinlich eine bessere Verteilung des Wohlstands bewirkt hätten.
Die Fortschritte, die in den letzten zehn Jahren an der steuerpolitischen Front erzielt wurden, sind ebenso uneinheitlich wie lückenhaft. Und sie beschränken sich keineswegs auf Länder mit progressiven, linken Regierungen. So lobt der Cepal-Report nicht nur die Reformen, die von den linken Regierungen in Uruguay (2006) und in Chile (2014) auf den Weg gebracht wurden; er verweist ebenso auf die Reformen in Kolumbien (2012) und in Mexiko (2013), wo seit Ewigkeiten rechte Regierungen an der Macht sind.8 Aus Sicht der UN-Organisation sind diese vier Länder die einzigen, die in diesem Zeitraum „strukturelle Steuerreformen“ eingeführt haben.
Die Reform in Uruguay, die zu einer grundlegenden Umgestaltung der Einkommensteuer und zur Verringerung der indirekten Verbrauchsteuern geführt hat, bezeichnete die Cepal zu Recht als „Pionierleistung“. Denn bis dahin war die Einkommensungleichheit nach Steuern größer als vor Steuern gewesen. In Uruguay und in Kolumbien haben die Reformen zu einer gerechteren Steuerstruktur geführt, ohne dass das Gesamtsteueraufkommen gestiegen wäre.
Dagegen zielen die Reformen in Mexiko und Chile auf höhere Steuereinnahmen, wobei in Chile auch eine stärkere Progression eingeführt wurde. Mexiko will mit der Reform sein Haushaltsdefizit verringern, während Chile neue Bildungsmaßnahmen finanzieren möchte. Mit all diesen Änderungen wurden allerdings keine ausreichenden Umverteilungseffekte erzielt.
In Argentinien, Ecuador und Haiti stieg das Gesamtsteueraufkommen zwischen 2002 und 2015 am stärksten (um mehr als 6 Prozentpunkte des BIPs). In Brasilien, Uruguay, Panama und Costa Rica fiel der Anstieg hingegen am niedrigsten aus (unter 1,5 Prozentpunkte).9
Ganz am Ende der Rangliste liegt Guatemala – das einzige Land, das sein ohnehin extrem niedriges Steuerniveau weiter gesenkt hat. Damit verstößt die guatemaltekische Regierung gegen die Verpflichtungen aus den 1996 unterzeichneten Friedensverträgen, die einen Bürgerkrieg beendet hatten, der im Grunde durch die tiefe Kluft zwischen Arm und Reich ausgelöst worden war.
Der ab 2014 einsetzende Verfall der Preise für Erdöl und -gas, mineralische Rohstoffe und Agrarprodukte (durchweg wichtige Exportgüter Südamerikas) hat das Steueraufkommen erheblich gedrückt – und damit die Unzulänglichkeiten der Steuersysteme offenbart. Mehrere Staaten versanken in neuerlichen Finanzierungskrisen, die wiederum als Anstoß zu weiteren Reformen wirkten.
In den meisten Ländern sind – immer noch oder wieder – rechte Regierungen an der Macht. Die Frage, was das für die Steuerpolitik bedeutet, haben die Regierungen Kolumbiens, Argentiniens und Chiles bereits beantwortet. Kolumbien schaffte die 2002 eingeführte Reichensteuer ab und erhöhte die Mehrwertsteuer auf Rekordniveau. Im seit 2015 konservativ regierten Argentinien wurden die Unternehmen- und die Vermögensteuer gesenkt und zum Ausgleich andere Abgaben erhöht. Die chilenische Regierung versprach 2017 nach der Wahl des Unternehmers Sebastián Piñera zum Präsidenten die drei Jahre alte Reform von Präsidentin Michelle Bachelet wieder rückgängig zu machen.
Eine probate Antwort auf die rückläufigen Staatseinnahmen könnte auch ein verschärfter Kampf gegen Steuerhinterziehung sein. Aber der steht offenbar nicht auf der Tagesordnung. Die Milliardäre Lateinamerikas, deren persönliche Vermögen seit 2002 sechsmal so stark gewachsen sind wie die Volkswirtschaften des Subkontinents, profitieren zusammen mit den multinationalen Unternehmen am stärksten von den – legalen oder illegalen – Möglichkeit, sich ihren Steuerverpflichtungen zu entziehen.10
Die Cepal schätzt, dass den Staaten insgesamt jährliche Einnahmen von rund 350 Milliarden US-Dollar entgehen. Von dieser Summe, die 6,3 Prozent des BIPs entspricht, entfällt ein Drittel auf nicht gezahlte Mehrwertsteuern und zwei Drittel auf nicht entrichtete Einkommensteuern von natürlichen und juristischen Personen. Erschwerend kommt hinzu, dass der informelle Sektor im lateinamerikanischen Durchschnitt 50 Prozent der Wirtschaft ausmacht und dass große Kapitalsummen in Länder abfließen, die noch weniger Steuern erheben.
Die Steuerdebatte sollte allerdings nicht von dem zentralen Sachverhalt ablenken, dass der Wohlstand von vornherein ungerecht verteilt ist. Die Ungleichheit hat inzwischen so stark zugenommen, dass eine rein steuerpolitische Korrektur immer schwieriger wird. Doch die Erfahrungen mit den linksgerichteten lateinamerikanischen Regierungen der letzten zehn Jahre verweisen auf die zentrale Frage: Ist gesellschaftlicher Wandel denkbar, ohne vor allem die wohlhabendsten Schichten zur Kasse zu bitten?
4 „Revenue statistics in Latin America and the Caribbean“, OECD, Paris, 2017.
7 François Houtart, „Vers l’épuisement du ‚modèle‘ équatorien?“, 2. Oktober 2015: www.cetri.be.
9 Siehe Arenas de Mesa, siehe Anmerkung 8.
Aus dem Französischen von Markus Greiß
Bernard Duterme leitet das Centre tricontinental (Cetri) in Louvain-la-Neuve, Belgien.