Gefühlte Korruption
In Zentral- und Osteuropa grassiert die Korruption – so könnte man meinen. In Wahrheit hat die Transparenz bei der Vergabe öffentlicher Aufträge zugenommen. Aber was bleibt, ist der Eindruck, dass sich die Eliten bereichern. Die Rechtspopulisten sind offenbar die Einzigen, die das Unbehagen zu nutzen wissen.
von Benjamin Cunningham
Bei den tschechischen Parlamentswahlen im Oktober 2017 hat Andrej Babiš mit seiner ANO-Partei das politische Establishment beiseitegefegt. Babiš ist Milliardär, Großunternehmer und Medienmogul. Das Akronym ANO steht für „Bewegung der unzufriedenen Bürger“ (Tschechisch: Akce nespokojených občanů), bedeutet aber auch schlicht „Ja”.
Bei der Gründung seiner Partei 2011 behauptete Babiš, er sei als Außenseiter und erfolgreicher Geschäftsmann bestens qualifiziert, um die korrupte politische Elite zu ersetzen. Er verwies, ähnlich wie 2001 Michael Bloomberg bei seiner Wahl zum New Yorker Bürgermeister, auf seine Kompetenz, seine Effizienz – und die Tatsache, dass ein steinreicher Mann wie er es nicht nötig habe, sich im Amt zu bereichern. „Ich bin kein Gauner“, sagte er in einem Interview vor den Wahlen. Auf die Frage: „Und die anderen sind alle korrupt?“, hatte er eine klare Antwort: „Ja.“1
Zwar ist Babiš weder so ideologisch verbohrt noch so offen fremdenfeindlich wie andere Anti-Establishment-Politiker in Mittelosteuropa, aber in anderer Hinsicht entspricht er dem bekannten Muster: Beim Europäischen Amt für Betrugsbekämpfung (Olaf) laufen Ermittlungen über Unregelmäßigkeiten beim Bezug von EU-Finanzhilfen in Höhe von 2 Millionen Euro, die Mitglieder der Familie Babiš für den Bau eines Hotelkomplexes in der Nähe von Prag in Anspruch genommen haben.
Um weitere Ermittlungen zu ermöglichen, hob das tschechische Parlament kurz vor den Wahlen Babiš’ Immunität auf. Doch davon ließen sich viele Wähler nicht beeindrucken: weil sie den anderen Kandidaten zutiefst misstrauten, weil die Anschuldigungen von der korrupten Elite kamen und weil sie das Abkassieren von EU-Geldern nicht als Delikt betrachten. Ganz nach dem Motto: Es ist nicht unser Geld, also können wir es stehlen.
Ist Rumänien wirklich schlimmer als Luxemburg?
Da Babiš überzeugend auftrat, seine Gegner sich als unfähig erwiesen und die Öffentlichkeit unzufrieden war, sahen 1,5 Millionen Wähler über die Anschuldigungen gegen den Populisten hinweg. Die ANO holte 29,6 Prozent der Stimmen, die Piratenpartei lag mit 10,8 Prozent an dritter Stelle, knapp dahinter folgte die neofaschistische SPD (10,6 Prozent). Fünftstärkste Partei wurde die orthodox kommunistische KSČM (7,8 Prozent). Insgesamt stimmten damit fast 59 Prozent für Parteien, die sagen, sie würden den Status quo bekämpfen.
Der Erfolg von Parteien, die die Eliten dämonisieren, kann kaum überraschen. Nach dem jüngsten Eurobarometer glauben 84 Prozent der Tschechen, dass die Korruption in ihrem Land weit verbreitet ist. Zum Vergleich: In Frankreich sind es 67 Prozent, in Deutschland 51 Prozent und in Dänemark 22 Prozent.2
Zugleich aber sagen nur 19 Prozent der befragten Tschechen, dass die Korruption in ihrem Alltag eine Rolle spiele, und nur 13 Prozent haben im vergangenen Jahr selbst erlebt, dass öffentliche Bedienstete von ihnen Geschenke oder andere Gegenleistungen verlangten. Im Nachbarland Österreich liegen die entsprechenden Werte bei 18 beziehungsweise 15 Prozent – und doch glauben hier nur 50 Prozent, dass Korruption in ihrem Land weit verbreitet sei. Das heißt: Obwohl man in Österreich eher mit Korruption in Berührung kommt als in Tschechien, sehen weniger Leute darin ein Problem.
Im gesamteuropäischen Vergleich widersprechen die Zahlen dem alten Bild vom „rückständigen“ Osten. Die Griechen (32 Prozent) und die Schweden (17 Prozent) kennen eher jemanden, der sich hat bestechen lassen, als die Rumänen (13 Prozent), und dennoch halten 80 Prozent der Rumänen Korruption für ein gravierendes Problem in ihrem Land, während es bei den Schweden nur 37 Prozent sind. Und nur 14 Prozent der Polen kennen jemanden, der im letzten Jahr Bestechungsgeld kassiert hat – das sind weniger als in Belgien, Luxemburg oder Frankreich (15, 18 und 16 Prozent).
Kurzum: Zentral- und Osteuropäer betrachten Korruption als größeres Problem, obwohl sie weniger damit in
Gefühlte Korruption
von Benjamin Cunningham
Berührung kommen. In ihren Augen ist Bestechung überall gängig, wo Geschäfte gemacht oder öffentliche Leistungen in Anspruch genommen werden, und sie haben das Gefühl, dass ihre Regierungen die Korruption nicht wirklich bekämpfen.
Korruption quantitativ zu messen, ist schwierig. Das liege vor allem an den unzuverlässigen Daten, sagt der Politikwissenschaftler Dan Hough von der Universität Sussex. Die allgemeine Wahrnehmung entspreche selten den persönlichen Erfahrungen, und die Kluft zwischen beiden begünstige Verschwörungstheorien, weil der Eindruck entsteht, dass der Öffentlichkeit vieles verborgen bleibt. Es ist also denkbar, dass verzerrte Vorstellungen über das Ausmaß von Korruption stärker zur Instabilität in Zentral- und Osteuropa beitragen als die tatsächliche Korruption. Das hat katastrophale Folgen für die politischen Systeme.
Eine Untersuchung über das Wahlverhalten im Zeitraum 1980 bis 2016 konnte keinen klaren Zusammenhang zwischen den Wahlerfolgen von Rechtspopulisten und der Einwanderung in ein Land ermitteln; auch ökonomische Gründe spielten dafür anscheinend keine wesentliche Rolle. Wohl aber belegt die Studie, dass am ehesten die „gefühlte Korruption“ auf die Unterstützung autoritärer Populisten schließen lässt.3 Politiker wie Viktor Orbán in Ungarn oder Jarosław Kaczyński in Polen – beide ehemals politische Außenseiter – haben die Vorstellungen von einer vermeintlich überall grassierenden Korruption für sich ausgebeutet.
Angesicht der vielen Skandale in Rumänien könnte man annehmen, das Land sei korrupter als Schweden, doch laut Eurobarometer ist Kleinkorruption in Schweden weiter verbreitet. Was wiederum Grund für die Annahme ist, dass es auch mehr Bestechungsfälle auf höheren Ebenen gibt, denn wo einfache Polizisten Schmiergelder kassieren, tun das in der Regel auch höhere Staatsbedienstete.
Solche Diskrepanzen zeigen, dass die gefühlte Korruption weniger von persönlichen Erfahrungen als vielmehr von Medien oder NGO-Kampagnen bestimmt wird. So sieht es auch Dan Hough: „Es kommt auf die Wahrnehmung an: Wenn du das Gefühl hast, dass ein Tiger im Zimmer ist, wirst du da nicht bleiben wollen. Dass die Gefahr nicht real ist, ist dabei unerheblich.“
Dass die Korruption in Mittelosteuropa als Problem überschätzt wird, lässt sich durchaus erklären. In Polen etwa hat die konservativ-nationalistische PiS die Parlamentswahlen im Oktober 2015 zum Teil wegen des „Waitergate“-Skandals gewonnen: In einem Warschauer Restaurant hatte ein Kellner (Englisch: waiter) mehrere Gespräche von Politikern der Regierungspartei PO (Platforma Obywatelska, Bürgerplattform) mitgeschnitten, die dort auf Staatskosten teure Menüs verspeisten.
Was der EU-Kommissar nicht preisgeben will
In einer dieser – mit drastischen Sprüchen gespickten – Unterhaltungen forderte ein Minister den Zentralbankpräsidenten auf, die Wirtschaft anzukurbeln, um die Wahlchancen der PO aufzubessern. „Für den Durchschnittsbürger klang das nicht gut“, sagte damals Łukasz Lipiński von dem Warschauer Thinktank Polityka Insight. Während die Medien täglich neue Mitschnitte veröffentlichten, redete die PiS den Leuten ein, dass „die gesamte politische und ökonomische Elite korrupt ist und die Nation aussaugt“.
Diese Strategie verfing, weil die PiS damit an die Privatisierungen der 1990er Jahre erinnerte. Damals waren in einer ökonomischen Schocktherapie viele staatliche Besitztümer auf intransparente Weise in private Hände gelangt. Die Darstellung, dass Eliten in Hinterzimmern über die Zukunft des Landes entscheiden, war 2015 deswegen glaubhaft, weil es 1991 tatsächlich so gewesen war. Dieser Fall, in dem die aufgestaute Wut auf lange zurückliegende Ereignisse entscheidend war, zeigt exemplarisch, wie die Vergangenheit die Wahrnehmung der Gegenwart verzerrt.
In der Slowakei glauben 48 Prozent der Bevölkerung, dass die Korruption immer schlimmer werde. Das nutzt der populistischen Rechten: Bei der Nationalratswahl im März 2016 haben 8 Prozent der Wähler – und ganze 22 Prozent der Erstwähler – für die Volkspartei Unsere Slowakei (LSNS) gestimmt, die den Holocaust leugnet.4 Als wichtigsten Grund für ihr Abstimmungsverhalten nannten diese Wähler die grassierende Korruption.
Dabei hat sich die Transparenz in der Slowakei verbessert: Seit 2011 gibt es ein Gesetz, das die Regierung verpflichtet, alle Vereinbarungen über öffentliche Aufträge ins Internet zu stellen. Aus einer Studie von Transparency International Slovakia geht zudem hervor, dass die Medien in den drei Jahren nach Verabschiedung dieses Gesetzes 25 Prozent mehr über die Vergabe öffentlicher Aufträge berichtet haben.5
Das heißt: Trotz größerer Transparenz und mehr öffentlicher Kontrolle gehen die Leute vom Gegenteil aus. Gerade wegen der intensiveren Untersuchungen in Sachen Korruption nimmt die Skepsis zu. Die Medien sind eben, wie Gabriel Šípoš, Direktor von Transparency International Slovakia, anmerkt, „schießfreudiger“ geworden. Sie melden immer mehr Verdachtsfälle, geben sich aber nicht mehr so viel Mühe, die Korruption im Einzelfall durch gründliche Recherchen zu belegen.
Damit hat eine eigentlich positive Entwicklung letztendlich dazu geführt, das Vertrauen in die Regierenden zu schwächen. Der bulgarische Politologe Ivan Krastev beschreibt diesen Effekt so: „Das Thema Korruption beherrscht die Fantasie der Medien, und die Überproduktion entsprechender Geschichten prägt die öffentliche Meinung, sodass der Eindruck entsteht, die Korruption sei im öffentlichen Leben allgegenwärtig.“
Der Diskurs und die politischen Auseinandersetzungen werden also von einer Berichterstattung befeuert, die obendrein dem verbreiteten Bild vom korrupten, postkommunistischem Zentral- und Osteuropa entspricht. Dieser Effekt wird durch die Einmischung wohlmeinender Ausländer nur noch verstärkt. Das US-Außenministerium hat tschechische Anti-Korruptions-NGOs im Zeitraum von 2015 bis 2017 mit 100 000 Dollar unterstützt.
In Österreich gab es solche Gelder nicht. Und auch wenn es sich um eher geringe Summen handelt, prägen sie doch die Wahrnehmung der Menschen in Zentral- und Osteuropa. Zumal die Mittel an lokale NGOs fließen, die als Korruptionsbekämpferinnen die Zusammenarbeit mit den Medien suchen und die Öffentlichkeit mit noch mehr Antikorruptionsrhetorik versorgen – und damit die Überzeugung immer weiter verbreiten, dass ihre Gesellschaften korrupt seien.
In der Ukraine, wo internationale NGOs besonders präsent sind, hat das Ganze inzwischen groteske Züge angenommen. Nach einer Umfrage betrachten 69 Prozent der Bevölkerung die Korruption als das größte Problem des Landes, aber nur 29 Prozent zählen sie zu den fünf drängendsten Problemen in ihrem persönlichen Leben.6 Diese Diskrepanz erklärt Balázs Jarábik von der Carnegie Stiftung mit der „permanenten Antikorruptionskampagne internationaler NGOs und insbesondere der Europäischen Union“.
Die EU blendet bei dem Thema freilich das restliche Europa aus. Die Brüsseler Kommission hatte ihren ersten EU-weiten Korruptionsbericht 2014 veröffentlicht, ein zweiter war für 2016 geplant. Dieser ist auch fertiggestellt worden, aber nie erschienen.
In einem Schreiben hat Kommissionsvizepräsident Frans Timmermans erläutert, warum er den Report einkassiert und das ganze Projekt beendet hat. Darin bezeichnet er die Korruption zwar als „Schlüsselproblem in mehreren Mitgliedstaaten“, um dann aber festzustellen: „Der erste Bericht war insoweit nützlich, als er eine analytische Übersicht bot und die Grundlage für weitere Arbeiten schuf, aber das bedeutet nicht zwingend, dass eine weitere Folge ähnlicher Berichte auch in Zukunft das beste Prozedere sein würde.“7
Ein Brüsseler Insider berichtet, dass der zweite Bericht begraben wurde, nachdem mehrere westeuropäische Länder – darunter Frankreich, das damals gerade vor Wahlen stand – sich gegen eine Veröffentlichung ausgesprochen hatten. Die Staaten befürchteten innenpolitische Querelen, weil der Bericht sie als korrupt darstellte. Angesichts solcher Vorgänge wirkt die Aufteilung Europas in den korrupten Osten und Süden und den sauberen Norden und Westen natürlich erst recht verlogen.
Für die Menschen in Zentral- und Osteuropa umfasst der Begriff der Korruption auch den begründeten Eindruck, dass westliche Unternehmen ihre Region als Reservoir billiger Arbeitskräfte und anspruchsloser Konsumenten behandeln.8 Die Ökonomen Novokmet, Piketty und Zucman beschreiben den erweiterten Osten der EU als ein Dominium ausländischer – häufig deutscher – Unternehmen.9 Entsprechend glauben die Leute in Zentral- und Osteuropa, dass ihr Schicksal diesen Unternehmen egal ist, zumal sie ihre Einnahmen aus der Region zurücktransferieren. Diese Praktiken beeinflussen die Wahrnehmung von Korruption in diesen Regionen sehr stark – und zwar auch dann, wenn staatliche Fördermittel nicht direkt in private Kassen fließen.
In der öffentlichen Debatte in Zentral- und Mitteleuropa spielt die Unterscheidung zwischen illegalen und legalen Praktiken – also etwa der Ausnutzung steuerlicher Vorteile – keine Rolle. Schließlich ist vieles von dem, was die Bürger dort als korrupt empfinden, für westeuropäische Firmen gängige Praxis.
Ein Beispiel: In Tschechien kontrolliert Regierungschef Babiš den Agrarkonzern Agrofert. 2014 war das Unternehmen umsatzmäßig das drittgrößte des Landes und zahlte rund 63 Millionen Euro Unternehmenssteuern (21,8 Prozent vom Gewinn).10 Die zehntgrößte Firma ist die tschechische Tochter der deutschen Supermarktkette Lidl. Die aber machte sich die Rechtsform einer „allgemeinen Handelspartnerschaft“ zunutze, die eigentlich auf kleine Firmen wie Architektur- oder Anwaltsbüros zugeschnitten ist. So konnte die tschechische Lidl Holding 99 Prozent ihrer Gewinne auf die deutsche „Schwarz Beteiligungs GmbH“ überschreiben.
Was das für die Steuerlast von Lidl bedeutet, liegt auf der Hand. Die tschechische Holding zahlte offensichtlich keine Steuern. Allerdings gibt Lidl an, auch die Beteiligungs GmbH sei in Tschechien steuerpflichtig und die Handelspartnerschaft insgesamt habe 2014 sehr wohl Unternehmenssteuern abgeführt (ohne einen Betrag zu nennen).11
Entscheidend ist aber ein anderer Punkt: Wenn Lidl seine tschechischen Gewinne an die Beteiligungs GmbH transferiert, kann sie diese gegen Verluste in anderen Ländern verrechnen. In jedem Fall wurde diese Konstruktion gewählt, um die künftige Steuerbelastung für das Unternehmen „optimieren“ zu können – zulasten des tschechischen Staats oder auch anderer Staaten.
Babiš wird vorgeworfen, er habe sich 2 Millionen Euro EU-Subventionen unter den Nagel gerissen. Im Fall Lidl geht es um die Frage, ob das deutsche Unternehmen dem tschechischen Staat größere Steuersummen vorenthalten hat oder künftig vorenthalten kann. Welchen „Betrug“ werden die tschechischen Wähler wohl als den größeren Korruptionsfall ansehen?
In Zentral- und Osteuropa muss „die Korruption“ reflexartig als Erklärung für alles herhalten, was man nur schwer versteht. Der Korruptionsbekämpfer Gabriel Šípoš von Transparency International Slovakia kommt zu dem Schluss: „In Zentraleuropa neigen die Wähler bei ihrem Urteil über Politiker dazu, Korruptionsskandale zu über- und den Faktor der schlichten Unfähigkeit zu unterschätzen.“
Die überzogene Wahrnehmung der Korruption verstärkt die Wut über die Doppelmoral der Westeuropäer und treibt die Wähler in die Arme rechter, autoritärer Populisten, die sich als Rebellen gegen das System stilisieren. An die Macht gelangen sie dann mit dem Versprechen, die Institutionen umzukrempeln – die allerdings weniger kaputt sind, als es scheint. Solche falschen Wahrnehmungen verstärken nur die politischen Turbulenzen. Und am Ende führen sie eher zu mehr – und nicht etwa weniger – Korruptions- und Betrugsfällen.
4 Benjamin Cunningham, „5 takeaways from Slovakia’s election“, Politico, 6 März 2016.
Aus dem Englischen von Niels Kadritzke
Benjamin Cunningham ist Journalist in Prag.
Für eine anständige Slowakei
Am 21. Februar wurde der slowakische Journalist Ján Kuciak ermordet. Der 27-jährige Reporter hatte in letzter Zeit intensiv über mafiöse Verflechtungen zwischen Politik und Wirtschaft recherchiert, die in der Slowakei eine in die Anfänge der Unabhängigkeit reichende Vorgeschichte haben.
Schon der erste Regierungschef Vladimír Mečiar war in zahllose politisch-ökonomische Skandale verwickelt, deren Aufklärung systematisch verhindert wurde. Das gilt auch für die spektakuläre Entführung des Sohns des damaligen Präsidenten Michal Kováč nach Österreich im August 1995. Acht Monate später wurde ein Mitwisser in Bratislava von einer Autobombe zerfetzt, was den Verdacht nährte, dass die Entführung ein Werk des slowakischen Geheimdienstes war.
Mečiar ist zwar seit 1998 Geschichte. Aber seinen Stil haben einige seiner Nachfolger übernommen. Zum Beispiel der langjährige Ministerpräsident Róbert Fico, der Journalisten mit wüsten Beschimpfungen einzuschüchtern versuchte. Dass dubiose Beziehungen zwischen Politik und Wirtschaft unter allen Regierungen existierten, zeigte sich 2012. Die Veröffentlichung der „Akte Gorilla“ belegte, wie im Zuge der Privatisierung großer Staatsunternehmen die Wirtschaftsbosse den Politikern ihre Bedingungen diktierten.
Die Akte Gorilla motivierte auch Ján Kuciak zu seinen Recherchen über den Einfluss der kalabrischen ’Ndrangheta auf die slowakische Politik, über eine ominöse Justizmafia oder über windige Unternehmer und ihre Machenschaften.
Der Mord an Ján Kuciak und seiner Freundin Martina Kusnirova – beide wurden mit einer manipulierten Gaspistole erschossen – wird wohl nie aufgeklärt. Die Schüsse haben jedoch viele Slowaken aufgeschreckt. Zehntausende demonstrierten in mehreren Städten für „eine anständige Slowakei“ und forderten den Rücktritt von Regierungschef Fico. Der erfolgte am 15. März. Allerdings kann die alte Koalition unter einem neuen Ministerpräsidenten weiterregieren, weil es im Parlament weder für eine neue Regierung noch für Neuwahlen eine Mehrheit gibt.
Kuciak hat mit seinen Recherchen umfassende Netzwerke aufgedeckt, deren Fäden immer zu irgendwelchen Regierungsstellen führten. Er stieß auf einen Unternehmer, der vom Staat billig Grundstücke kaufte, um sie profitabel an koreanische Investoren zu verkaufen. Der Mann, dem Kuciak Geldwäsche und Steuerbetrug nachweisen konnte, war Ficos Nachbar. Weiter hat er herausgefunden, dass die Chefberaterin und ständige Begleiterin Ficos, ein ehemaliges Model, enge Beziehungen zu einem ’Ndrangheta-Paten in der Ostslowakei pflegte.
Der Mord an Ján Kuciak und seiner Freundin sollte die Enthüllungen über die Herrschaftsstruktur verhindern, die das Land seit 25 Jahren überzieht. Die Täter haben das Gegenteil erreicht. Sie haben die Slowaken wachgerüttelt und dafür gesorgt, dass Ján Kuciak und Martina Kusnirova zum Symbol für einen Neuanfang in der Slowakei geworden sind.⇥Alexandra Mostyn