Mehr Armut, weniger Hilfe
von Pierre Daum
Egal wen man fragt – den Straßenverkäufer in einem der informellen Viertel Kairos,1 einen Verwaltungsbeamten oder einen berühmten Schriftsteller in seinem schönen Apartment in Wust al-Balad (das Stadtzentrum um den Tahrir-Platz) –, die Antwort auf die Frage „Was hat sich seit 2011 verändert?“ ist immer die gleiche: „Das Leben ist so teuer geworden, es ist furchtbar!“ Diese Teuerung wurde ab 2014 spürbar, im Anschluss an die Präsidentschaftswahl, als die Regierung von Abdel Fattah al-Sisi die vom IWF geforderten „Strukturreformen“ umsetzte, wofür das Land jährliche Hilfszahlungen von 12 bis 15 Milliarden Dollar erhielt. „Es geht darum, ein System, in dem grundlegende Konsumgüter generell subventioniert werden, umzustellen auf ein System, in dem finanzielle Hilfe gezielt Menschen mit äußerst geringem Einkommen zugutekommt“, erklärt Marie Vannetzel, Wissenschaftlerin am französischen Forschungszentrum CNRS, die derzeit in Kairo forscht.
Früher wurden Grundnahrungsmittel wie Brot, Zucker, Öl, Bohnen, aber auch Benzin, Gas und Strom massiv bezuschusst. So kostete vor der Reform eines der Fladenbrote, die zentraler Bestandteil der Ernährung in Ägypten sind, in einer subventionierten Bäckerei 5 Piaster (0,22 Eurocent), auf dem freien Markt hingegen 36 Piaster. Jeder hatte darauf in unbegrenzter Menge Anspruch. Man musste nur die Warteschlangen vor den Bäckereien in Kauf nehmen. Für alle anderen Lebensmittel war ein Heft erforderlich, in dem der Händler vermerkte, was man eingekauft hatte, damit eine bestimmte Monatsration nicht überschritten wurde. Diese Hefte wurden theoretisch nach sozialen Kriterien zugeteilt, praktisch besaßen sie jedoch 85 Prozent der Bevölkerung. Inzwischen ist auch die Zahl der Brote auf zwanzig pro Familie und Tag begrenzt, zu einem Preis von einem Pfund (4,5 Eurocent im Februar 2018).
Den häufig sehr kinderreichen Familien genügen diese zwanzig aber meistens nicht. Sie müssen ihren Mehrbedarf also zu einem höheren Preis auf dem freien Markt kaufen: 20 Pfund (0,90 Euro) für zwanzig Brote. Bei den anderen Grundnahrungsmitteln ersetzt nun eine Chipkarte das Heft. Zudem zahlt der Staat eine monatliche Unterstützung von 200 Pfund (9,13 Euro) für eine vierköpfige Familie. Die Zahl derer, die eine solche Karte besitzen, entspricht in etwa derjenigen der früheren Heftbesitzer.
Allerdings ist der Preis der subventionierten Erzeugnisse stark gestiegen. Zwischen 2014 und 2017 sei der Preis für ein Kilo Zucker von 4,5 auf 10 Pfund angehoben worden, für einen Liter Öl von 6,5 auf 14 Pfund, erläutert Marie Vannetzel. Und das in einem Land, wo ein Klinikarzt im Monat 1300 Pfund (65 Euro) verdient und ein Arbeiter als „gut bezahlt“ gilt, wenn er 1200 Pfund (60 Euro) erhält. Den Ärmsten, deren Zahl sich nach den geltenden Kriterien auf 9 Millionen beläuft, wird außerdem eine monatliche Sozialleistung von etwa 700 Pfund (35 Euro) pro Familie gewährt.
Auch im Bereich Energie hat die Regierung ihre Subventionen drastisch verringert. Innerhalb von drei Jahren haben sich die Benzin- und Gaspreise verdreifacht, der Strompreis stieg um das Vier- bis Fünffache. Es ist also kein Wunder, dass nach Angaben der Weltbank der Anteil der Bevölkerung, der unter der Armutsgrenze lebt, von 25 Prozent (2010) auf fast 28 Prozent (2015) angewachsen ist und heute vermutlich bereits die 30-Prozent-Schwelle überschritten hat. Der dramatische Einbruch des ägyptischen Pfunds im November 2016 hat die Lage weiter verschärft, weil dadurch sämtliche Preise in die Höhe geklettert sind, während die Löhne sich nur geringfügig entwickelt haben.
Die Armee, die bereits in vielen Wirtschaftssektoren präsent ist und die seit dem Sturz von Husni Mubarak massiv in allen Branchen investiert, scheint eine Pufferfunktion übernehmen zu wollen und pflegt damit zugleich ihr volksnahes Image: „Man sieht immer wieder, wie Armeelastwagen morgens in einem armen Viertel anhalten, die Ladefläche voll Fleisch, das dann deutlich unter dem Marktpreis verkauft wird“, erzählt Marie Vannetzel. In denselben Stadtteilen leben Mütter, die ihre zehn Kinder und Enkel täglich nur mit Brot und Kartoffeln durchfüttern müssen und beteuern: „Wenn das so weitergeht, gehen hier bald alle auf die Straße! Und wenn die Armee auf uns schießt, ist uns das egal!“
Es sehe so aus, als ob Präsident al-Sisi dennoch entschlossen sei, diese Reformen durchzusetzen, sagt die Politologin Karima H. Riskiert er damit Massendemonstrationen? „Vielleicht sporadische Aufstände, aber mehr nicht“, glaubt Karima H. Im März 2017 hatten die Ägypter gegen die Anhebung des Brotpreises protestiert, aber die Bewegung griff nicht auf die Politik über. Dank der staatlich gelenkten Medien, der Zerschlagung der Opposition und eines regionalen Umfelds, das als abschreckendes Beispiel herangezogen wird, scheint das Regime das Volk fest im Griff zu haben. ⇥Pierre Daum