Indiens stahlhartes Gehäuse
Offiziell darf es keine Diskriminierung nach Kasten und Ethnien geben – doch Dalit und Adivasi haben immer noch kaum Chancen
von Dalel Benbabaali
von Dalel Benbabaali
Dalit und Adivasi leiden unter dem Wirtschaftsboom in Indien und tragen gleichzeitig zu ihm bei. Die Adivasi („erste Bewohner“) machen 8,6 Prozent der Bevölkerung aus – bei einer Gesamtbevölkerung von 1,3 Milliarden sind das über 110 Millionen Menschen. Und mehr als 200 Millionen Inderinnen und Inder gehören zu den Dalit oder „Unberührbaren“, wie sie früher genannt wurden.
Da Indiens Verwaltung die beiden historisch benachteiligten Gruppen als „gelistete Stämme und Kasten“ einstuft, profitieren sie von Quotenregelungen, das heißt, ihrem Bevölkerungsanteil entsprechend haben sie Anspruch auf Plätze in Bildungseinrichtungen, im öffentlichen Dienst und in gewählten Gremien.1 Diese „positive Diskriminierung“, die in der Verfassung von 1950 verankert ist, sorgte für eine gewisse soziale Mobilität. Da sie aber im Privatsektor nicht gilt, werden die verantwortungsvollen Posten meistens mit Angehörigen hoher Kasten besetzt.
Seit der wirtschaftlichen Liberalisierung verzeichnet Indien regelmäßig Rekordwachstumsraten von 6 bis 8 Prozent jährlich. Doch an der elenden Lage der Adivasi und Dalit hat sich seither wenig geändert: 82 Prozent leben unterhalb der international definierten Armutsschwelle und haben weniger als 2 Dollar am Tag zur Verfügung. Unter Einbeziehung anderer Faktoren wie Einkommen, Zugang zu Strom, Trinkwasser, sanitären Einrichtungen und Bildung ergibt sich die gleiche Verteilung: 81,4 Prozent der Adivasi und 65,8 Prozent der Dalit gelten als arm gegenüber 33,3 Prozent bei den höheren Kasten und 55,4 Prozent für den Durchschnitt der Gesamtbevölkerung (zum Vergleich: in China sind nur 12,6 Prozent von Armut betroffen).2 Um die Situation zu verstehen, muss man die tief verwurzelten Strukturen von Diskriminierung und Unterdrückung in den Blick nehmen, die durch das Zusammenwirken von Kaste, Klasse, Geschlecht und ethnischer oder regionaler Herkunft entstanden sind.
Das Gewicht der ererbten Zuschreibung hat sich durch die kapitalistische Modernisierung nicht abgeschwächt, sondern noch verstärkt. Die neoliberalen Reformen seit den 1980er Jahren und vor allem nach der Finanzkrise 1991 sollten ausländisches Kapital anziehen und das Wachstum fördern. Das kam indischen und internationalen Investoren zugute, die von dem billigen und sozial heterogenen Arbeitskräfteangebot profitierten. Heute arbeiten 90 Prozent der Beschäftigten im informellen Sektor und haben keinerlei soziale Absicherung. Es ist schwierig für sie, sich zu organisieren, um Lohnerhöhungen zu fordern oder sich mit den besser gestellten Beschäftigten im formellen Sektor zu solidarisieren.
Dalit bekommen meist besonders schwere oder erniedrigende Tätigkeiten zugewiesen, während die extrem prekären Arbeitsplätze meist mit Wander- und Saisonarbeitskräften aus den ärmsten Regionen besetzt werden, wo der Staat das Land der Adivasi beschlagnahmt hat. Inzwischen treten aber auch innerhalb der Adivasi und Dalit Klassenunterschiede deutlicher zutage, weil sich dank der Quotenpolitik allmählich eine – bislang noch extrem kleine – Elite herausgebildet hat. Nur 18 Prozent der Angehörigen der beiden Gruppen verfügen über ein mittleres oder höheres Einkommen gegenüber 55 Prozent in den anderen Kasten.
In den Dörfern rund um den Industriekorridor von Cuddalore im südindischen Bundesstaat Tamil Nadu konnten sich Dalit-Landarbeiter aus der Unterjochung infolge von Überschuldung befreien, die viele von ihnen lebenslang an die Großgrundbesitzer gebunden hatte.3 Aber ihre Ehefrauen beackern weiter ihr Land und werden tageweise bezahlt.
Die Bosse spielen die Ärmsten gegeneinander aus
Doch von einer richtigen Befreiung kann sowieso nicht die Rede sein. Schließlich haben die Dalit meistens nicht die erforderliche Ausbildung, um sich auf Stellen im öffentlichen Dienst bewerben zu können, und arbeiten deshalb oft in gesundheitsgefährdenden Jobs in giftigen Fabriken. In dem Chemiewerk Pioneer Jellice in Cuddalore wird ohne Schutzvorkehrungen mit chemischen Produkten hantiert, um Rinderknochen für die Herstellung von Gelatine zu reinigen. Als die 500 Beschäftigten, zu 70 Prozent Dalit, 2008 für bessere Arbeitsbedingungen streikten, schlug die Firmenleitung ihren Protest nieder – und stellte vermehrt Wanderarbeiter von den Adivasi ein, die nicht gewerkschaftlich organisiert waren. Die gleichen Methoden wenden auch die Arbeitgeber auf den Teeplantagen von Kerala an, wo Adivasi aus den armen Regionen Ostindiens (Jharkhand), die als gefügiger gelten und Stücklohn beziehen, nach und nach die unbefristet beschäftigten und etwas kämpferischeren Dalit-Pflückerinnen ablösen.4 Diese sich verschärfende Ausbeutung illustriert, wie im indischen Kapitalismus gesellschaftliche, ethnische und regionale Trennlinien instrumentalisiert werden.
Im September 2016 streikten 8000 auf den Teeplantagen verbliebene Dalit-Frauen einen Monat lang gegen die drastische Verschlechterung ihrer Arbeitsbedingungen. Zuvor waren ihre Ehemänner entlassen worden, die in den Teefabriken gearbeitet hatten. Den Männern blieb nichts anderes übrig, als in die großen Städte im benachbarten Bundesstaat Tamil Nadu abzuwandern und Arbeit in der Textilindustrie zu suchen, wo sie ebenfalls diskriminiert wurden. Einige änderten sogar ihren Familiennamen, um die daraus ablesbare Kastenzugehörigkeit zu verbergen.
In Regionen, in denen mehrheitlich Adivasi leben, hängt deren Verarmung hauptsächlich mit einem Prozess der Akkumulation durch Enteignung zusammen. Das betrifft besonders Bhadrachalam im Nordosten des Bundesstaats Telangana.5 Auf dem Papier sind die Adivasi-Gebiete durch die Verfassung geschützt, die Landerwerb durch andere Bevölkerungsgruppen verbietet. Tatsächlich werden diese Regelungen aber andauernd unterlaufen: Zum einen gibt es zunehmend Großbauern, die sich den Grund und Boden illegal aneignen, um dort Tabak oder Baumwolle industriell anzubauen. Auf der anderen Seite erwirbt auch der Staat Land – angeblich um die Entwicklung zu fördern, in Wahrheit aber, um es Investoren zu überlassen oder Infrastrukturprojekte wie große Staudämme zu bauen.
In Bhadrachalam, mitten in einem geschützten Adivasi-Gebiet im fruchtbaren Tal des Flusses Godavari, steht eine riesige Papierfabrik, die dem indischen Mischkonzern Indian Tobacco Company (ITC) gehört, einem der größten Produzenten von Papier und Verpackungsmaterial in Südasien. Anders als die indische Regierung behauptet, um die Industrialisierung der indigenen Gebiete zu rechtfertigen, arbeiten nur ganz wenige Adivasi in der Fabrik: sie machen weniger als 5 Prozent der 1575 Festangestellten aus und nur 8 Prozent der 4000 Gelegenheitsarbeiter, die tageweise bezahlt werden. Unter diesen Arbeitern sind viele Dalit, die in dem Gebiet keine Grundstücke erwerben dürfen, während es die Adivasi vorziehen, auf ihrem Land Nahrungsmittel für den Eigenbedarf anzubauen – wenigstens auf den Parzellen, die ihnen noch geblieben sind.
Weil ihnen aber das meiste Land weggenommen und der Zugang zu Wasser verwehrt wird – die Fabrikabwässer verschmutzen den Godavari – verarmen sie mehr und mehr. Die ITC hat erst den Bambus gerodet, der in den Wäldern wuchs, und investiert jetzt in Eukalyptus-Plantagen. Die laugen nicht nur den Boden aus und leeren die Grundwasserspeicher, sondern sie dehnen sich auch auf das umgebende Land der Adivasi aus. So bleibt ihnen nichts anderes übrig, als ihre Arbeitskraft der ITC zu opfern oder in die Städte zu flüchten.
Dalit organisieren sich und gründen Parteien
Seit der Beitrag der Landwirtschaft zum Bruttoinlandsprodukt Indiens zurückgegangen ist (von 29 Prozent 1990 auf 17 Prozent 2016), spielen die ländlichen Gebiete nur noch eine Nebenrolle bei der Akkumulation von Kapital. Die herrschenden agrarischen Kasten diversifizieren ihre Aktivitäten und investieren in Handel und Industrie – ein wirtschaftlicher Wandel, der jedoch an den Abhängigkeits- und Machtverhältnissen nichts ändert.
Unterstützung erhalten die Adivasi im Kampf gegen den Ausverkauf ihres Landes von der maoistischen Guerilla6 Mehrere Multis mussten bereits den Rückzug antreten: die Pohang Iron and Steel Company (Posco); der südkoreanische Stahlproduzent, der mit Billigung der Regierung 800 Hektar Land in Beschlag nehmen wollte; Vedanta, ein Bergbauunternehmen mit Sitz in London, das mit seinen Bauxitminen die Umwelt schwer verschmutzte; und auch der indische Stahlgigant Tata.7 Aber die Regierung übte auch gnadenlose Repression aus wie 2006 in Kalinganagar im Bundesstaat Odisha, als die Polizei in die Menge schoss, die gegen den Bau eines Stahlwerks durch Tata protestierte, und dabei mindestens zwölf Menschen tötete und Dutzende verletzte.
Die Dalit haben es inzwischen geschafft, sich zu organisieren, eigene Parteien zu gründen und sich politisch aus der Hegemonie der hohen Kasten zu befreien. Allerdings kontrollieren die Brahmanen und andere hohe Kasten weiterhin die Produktionsmittel und den Staatsapparat. Die kommunistischen Parteien Indiens, die ebenfalls von Angehörigen aus den hohen Kasten angeführt werden, wollen das Problem nicht wirklich anpacken und befassen sich stattdessen lieber mit der Analyse der Klassenverhältnisse gemäß der orthodoxen marxistischen Lehre.
Doch die Ausbeutung ist in Indien untrennbar mit dem Kastensystem verbunden, neue Machtstrukturen wurden den traditionellen aufgepfropft und haben sie dabei verändert. Die Unterdrückungsmechanismen wirken zusammen und halten Adivasi und Dalit in der Rolle von Beherrschten, selbst wenn sie gebildet sind: 47,8 Prozent derjenigen, die mindestens ein Abitur oder einen gleichwertigen Abschluss haben, sind arm, Diskriminierung aufgrund der Kastenzugehörigkeit gibt es bis in die Universitäten hinein, wie 2016 der Selbstmord des Doktoranden und Dalit Rohith Vemula an der Uni Hyderabad gezeigt hat.
Die Machtverhältnisse, in denen sich seit jeher herrschende Kasten und marginalisierte, stigmatisierte Gruppen gegenüberstehen, haben sich verfestigt, seit die ohnehin Benachteiligten zu entwürdigenden Bedingungen in die Marktwirtschaft integriert wurden. Die internen Spaltungen bei den unterdrückten Gruppen haben sich mit der Ausbreitung des Kapitalismus verschärft, was den gemeinsamen Kampf für soziale Gerechtigkeit behindert. Darum ist es heute besonders wichtig, genau diese Spaltungen zu überwinden.
1 Siehe Purushottam Agrawal, „Indien: Quoten für Unberührbare“, Le Monde diplomatique, Mai 2007.
7 Siehe dazu Jyotsna Saksena, „Tata – eine indische Legende“, Le Monde diplomatique, April 2015.
Aus dem Französischen von Ursel Schäfer
Dalel Benbabaali ist Ethnologin am St John’s College, Oxford.