Wütend, müde, unbeugsam
Die Jugend in Palästina schwankt zwischen Resignation und Widerstand – gegen die israelische Besatzung und die eigene politische Elite
von Akram Belkaïd und Olivier Pironet
Die palästinensischen Fahnen knattern im Wind auf der Zufahrtsstraße zur Bir-Zait-Universität nahe Ramallah, dem Sitz der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA). Nicht weit entfernt von dem Gedenkstein zu Ehren der 28 Märtyrer der Hochschule – Studenten, die von der israelischen Armee getötet wurden – setzt sich eine Parade in Bewegung. Ein Ordner mit Sturmmaske, Kampfhelm und Tarnanzug geht von einer Abteilung zur nächsten. Er gibt das Tempo für die jungen Frauen und Männern vor, die olivgrüne Militärhosen tragen und ihre Gesichter mit Kufijas vermummen.
Im Chor rufen sie Slogans, die den bewaffneten Widerstand preisen, und tragen Fahnen in den Farben der Fatah zum Gedenken an Jassir Arafat (1929–2004) sowie Transparente zu Ehren von Hamas-Gründer Scheich Ahmad Jassin (1937–2004). Organisiert wurde der Umzug von Mitgliedern der Schabiba, der Jugendbewegung der Fatah-Partei von Präsident Mahmud Abbas. Ihnen war daran gelegen, beide großen Gruppierungen der palästinensischen Politik zu feiern, die sich schwertun, ihr im Oktober 2017 unterzeichnetes Versöhnungsabkommen umzusetzen. Die Vereinbarung soll nach einem von Rivalität und teils blutigen Kämpfen geprägten Jahrzehnt endlich ein neues Kapitel aufschlagen.
Aus einiger Entfernung verfolgt eine Gruppe Soziologiestudenten das Geschehen mit strengem Blick. „Das ist reine Folklore“, urteilt der 20-jährige Rami.1 „Die Fatah und die Palästinensische Autonomiebehörde haben der Jugend nichts weiter als symbolisches Getue zu bieten. Das Regime will keine kollektive Mobilisierung organisieren, die wirklich Früchte tragen könnte. Es fürchtet, dass eine politisierte Jugend sich zuallererst gegen es selbst auflehnen würde.“ 70 Prozent der Bevölkerung in den palästinensischen Gebieten sind unter 30, und die Politisierung der jungen Leute stellt ein heikles Thema dar für die palästinensische Führung, deren Legitimität immer stärker in Zweifel gezogen wird.
Jussef, 22 Jahre alt und ebenfalls Soziologiestudent, erklärt: „Die Palästinensische Autonomiebehörde will die jungen Leute von jedem echten politischen Engagement vor Ort fernhalten und daran hindern, neue Formen des politischen Handelns zu entwerfen.“ Dabei sei die Jugend seit Beginn der 2000er Jahre und dem Scheitern des Osloer Friedensprozesses orientierungslos. „Wir sind wütend. Politisch hat unser Volk nichts gewonnen. Die Spaltung zwischen Fatah und Hamas empört uns. Die Besatzung ist eine ständige Realität, deren Gewalt wir alltäglich erfahren. Unsere soziale und ökonomische Lage ist weiterhin prekär. Alle Bedingungen für eine breite Mobilisierung sind also vorhanden“, fügt Jussef hinzu. Die jungen Leute sind „die ersten Opfer des Kampfs gegen die [israelische] Besatzung, was die Zahl der Toten, Verletzten, der Verhaftungen und Haftstrafen angeht“, heißt es in einer aktuellen Studie.2 Von den 2017 durch israelische Soldaten oder Siedler getöteten 95 Palästinensern waren gut 50 noch keine 25 Jahre alt.3
Auch die wirtschaftlichen Schwierigkeiten lasten vor allem auf den Jungen: Die geschätzte Arbeitslosenquote liegt bei 27 Prozent (18 Prozent im Westjordanland, 42 Prozent im Gazastreifen), laut der Welthandels- und Entwicklungskonferenz der Vereinten Nationen eine der „höchsten der Welt“4 . Etwa ein Drittel der 15- bis 29-Jährigen im Westjordanland haben keinen Job, bei den jungen Frauen ist es sogar die Hälfte. Und im Gazastreifen liegt die Jugendarbeitslosigkeit mit 56 Prozent noch höher.
Die Zahl der an Hochschulen eingeschriebenen jungen Leute ist zwar eine der höchsten in der arabischen Welt (laut Unesco 44 Prozent), doch die Chancen auf eine berufliche Karriere nach erfolgtem Abschluss sind gering. Die Mehrheit der jungen Akademiker arbeitet im informellen Sektor, auf dem sie oft noch unter dem von der PA festgelegten Mindestlohn von 2,4 US-Dollar (2 Euro) pro Stunde bezahlt werden und nicht sozialversichert sind.
Die 20-jährige Huda studiert Journalismus an der Universität Bethlehem. Die 3500 Studierenden der katholischen Hochschule sind zu drei Vierteln muslimisch und zu 80 Prozent weiblich. Huda lebt in Ostjerusalem, wo weiterführende palästinensische Bildungseinrichtungen von Israel verboten wurden. Und obwohl die Entfernung zwischen Jerusalem und Bethlehem nicht mehr als sechs Kilometer beträgt, braucht sie aufgrund der israelischen Checkpoints jeden Tag drei Stunden für die Hin- und Rückfahrt.
„Die Besatzung lastet auf uns Studierenden. Sie diktiert unsere Entscheidungen, zum Beispiel an welcher Universität wir studieren können. Wenn du in Jerusalem wohnst, überlegst du es dir zweimal, ob du dich an der Universität in Bir Zait oder in Nablus einschreibst, und sei es nur, weil Israel unsere Bewegungsfreiheit einschränkt.“5
Allerdings bleibe die Universität eine Art abgeschottete Blase, sagt Huda. „Wir bekommen hier keine politische Bildung, um zu lernen, uns mit dieser Situation auseinanderzusetzen. Sich an der Universität einschreiben bedeutete früher, sich für eine Partei zu entscheiden und sich politisch zu engagieren. Das ist heute vorbei.“
Viele Studierende und Lehrkräfte klagen, dass weder Fatah noch Hamas ein politisches Projekt zur Mobilisierung der jungen Menschen oder zur Förderung neuer Eliten entwickeln, die zukünftig die Führung der erlahmten Nationalbewegung übernehmen könnten.
An der Universität Bethlehem wird diese Ambivalenz an einem Vormittag mit Freizeitaktivitäten deutlich: Während in einem schattigen Hof knapp 200 Studierende in geselliger Stimmung und zu westlicher oder libanesischer Popmusik lautstark an einem Frage-und-Antwort-Spiel teilnehmen, folgen nur etwa 30 Personen in einem Hörsaal aufmerksam einer Debatte über ein umstrittenes Gesetz gegen Onlinekriminalität, das die Palästinensischen Autonomiebehörde im Juni 2017 verabschiedet hat.
Auf seiner Grundlage können Bürger inhaftiert werden, deren Online-posts eine Gefährdung der „Integrität des Staats, der öffentlichen Ordnung sowie der inneren oder äußeren Sicherheit des Landes“ darstellen oder „die nationale Einheit und den sozialen Frieden bedrohen“6 .
Aus Sicht eines großen Teils der Zivilgesellschaft steht dieses Gesetz im Widerspruch zu den Grundrechten und zielt vor allem darauf ab, regimekritische Journalisten und Oppositionelle zum Schweigen zu bringen; aber auch junge Menschen, die in den sozialen Medien sehr aktiv sind, wo es Kritik an den Machthabern hagelt. Davon zeugt die Festnahme von Issa Amro, dem Gründer der Gruppe „Youth against Settlement“ (Jugend gegen Siedlungen) im September 2017 in Hebron (al-Chalil) durch palästinensische Sicherheitskräfte. Amro hatte auf Facebook die Verhaftung eines Journalisten verurteilt, der den Rücktritt von Mahmud Abbas gefordert hatte. Schon im Februar 2016 war Amro von der israelischen Armee verhaftet worden, nachdem er eine friedliche Demonstration gegen die Siedlungspolitik organisiert hatte.7
Jassir, den 23-jährigen Mitorganisator der Diskussionsveranstaltung, überrascht es nicht, dass sich nur so wenige Studierende für das Thema interessieren, obwohl sie als Erste davon betroffen sein könnten, und niemand gegen das Gesetz protestiert. „Unsere Eltern werden von der Regierung dazu verlockt, sich zu verschulden, um konsumieren zu können8 , und schrecken deswegen davor zurück, gegen die herrschende Ordnung aufzubegehren.“
„Und was die jungen Leute betrifft: Deren Lebensbedingungen sind miserabel, aber auch sie wollen sich mal amüsieren“, fügt Jasser hinzu. „Und so wiegt man sie in der Hoffnung, dass das hier genauso gut möglich ist wie überall auf der Welt.“ Das bedeute aber nicht, dass sie kein politisches Bewusstsein hätten, sagt der Student. „Sie identifizieren sich jedoch mit keiner der existierenden politischen Strömungen.“ Einer Studie zufolge gehören 73 Prozent der 25- bis 29-jährigen Palästinenser keiner Partei an und sind den Behörden gegenüber sehr misstrauisch.9
Manal, eine 22-jährige Studentin der Kommunikationswissenschaft, hat die ganze Diskussion mitverfolgt. Sie applaudiert dem Schriftsteller und Kolumnisten Hamdi Faraj, der das „freiheitsraubende Gesetz, mit dem Ziel dissidente Stimmen zum Schweigen zu bringen“, verurteilt. Und sie versteckt ihren Ärger nicht, als ein regimenaher Anwalt erklärt, die schwierige Lage der Palästinenser erfordere „Zurückhaltung“ und völlige Meinungsfreiheit sei weder möglich noch wünschenswert.
Aber ist sie auch bereit, sich politisch zu engagieren? „Ich bin dazu entschlossen, aber es ist nicht einfach. Es gibt eine Regel, die alle jungen Menschen kennen: Sich politisch zu betätigen bedeutet, früher oder später im Gefängnis zu landen, sei es ein palästinensisches oder ein israelisches.“ Für eine Frau könne das dramatische Folgen haben, sagt Manal. Jenseits der körperlichen und psychologischen Spuren, die die Haft hinterlässt, liefen Frauen Gefahr, keinen Ehemann zu finden. „Unsere Gesellschaft ist immer noch sehr konservativ, und der Ruf einer Frau, die im Gefängnis saß, kann durch vielerlei Gerüchte Schaden nehmen.“
Nicht alle Aktivistinnen bekommen so viel internationale Medienaufmerksamkeit wie die 16-jährige Ahed Tamimi, die im Dezember 2017 in Gewahrsam genommen wurde, weil sie israelische Soldaten geschlagen hatte. Seit 1967 hat Israel knapp 800 000 Palästinenser und Palästinenserinnen aus den besetzten Gebieten inhaftiert, davon 15 000 Frauen. In vielen Fällen handelt es sich um eine Verwaltungshaft ohne Anklage oder Gerichtsverfahren.
Der 26-jährige Wissam studiert Soziologie in Bir Zait. Wie viele andere Studenten der als Sammelbecken des palästinensischen Aktivismus geltenden Universität hat auch er schon im Gefängnis gesessen (in den vergangenen zehn Jahren wurden knapp 800 Studenten aus Bir Zait von der israelischen Armee inhaftiert). Nach drei Jahren in israelischen Gefängnissen wurde er 2015 freigelassen. „Ich wurde wegen ‚Aktivismus‘ verhaftet und verurteilt“, erzählt er uns mit einem zurückhaltenden Lächeln und ohne weitere Einzelheiten preiszugeben.
Wie seine Kommilitonen Rami und Jussef engagiert Wissam sich bei Nabed („Impuls“ auf Arabisch), einer Jugendbewegung gegen die israelische Besatzung und Siedlungspolitik. „Aber auch gegen die Autonomiebehörde, die innerpalästinensische Spaltung und die ‚Normalisierung‘ der Beziehungen zu Israel, wie sie von einigen Nichtregierungsorganisationen und führenden Persönlichkeiten des Regimes gepriesen wird“, fügt Jussef hinzu.
Nabed wurde 2011 in Ramallah gegründet, im Fahrwasser der Protestbewegung vom 15. März, die zur nationalen Einheit gegen Israel aufrief.10 Die Organisation versteht sich als „unabhängig von den großen Parteien“, erklärt Jussuf weiter, „Aber wir handeln nicht gegen sie, auch wenn wir uns außerhalb der traditionellen Politik verorten, die längst an ihre Grenzen gestoßen ist.“
Nabed gilt als „links“, einige Mitglieder sollen aber auch aus der islamistischen Ecke kommen. Die Organisation unterhält in mehreren Städten des Westjordanlands Ortsgruppen und versucht auch Verbindungen mit jungen Menschen aus dem Gazastreifen aufzunehmen. Nabed ist vor allem in der politischen Bildungsarbeit aktiv, mit dem Ziel der „Wiederaneignung der palästinensischen Identität, der Geschichte und des kollektiven Gedächtnisses, die von gesellschaftlicher Vereinzelung bedroht sind – begünstigt durch die neoliberale Politik der von der Weltbank und dem Westen beeinflussten Autonomiebehörde“.
Die Aktivisten von Nabed wollen zudem gegen die Zersplitterung der palästinensischen Gebiete kämpfen, um zu verhindern, dass sich in den Köpfen der palästinensischen Bevölkerung endgültig das Gefühl eines „Archipels autonomer Städte“ festsetzt. „Wir bieten auch kulturelle und künstlerische Aktivitäten an. Beispielsweise organisiert eine reisende Theatertruppe Aufführungen in Flüchtlingslagern, um die Kultur des Landes wiederzubeleben“, erzählt Wissam.
„Diese Aktivisten wollen ‚auf andere Weise‘ Politik machen“, erläutert Sbeih Sbeih, ein palästinensischer Soziologe, der an der Universität von Aix-Marseille in Frankreich lehrt und die Entstehung der Bewegung verfolgt hat. „Dem Diskurs unserer Führung über die ‚Entwicklung der Wirtschaft‘, den ‚staatlichen Aufbau‘ und den ‚Frieden‘ setzen sie ein Widerstandsmodell entgegen – Widerstand gegen Israel, aber auch auf ökonomischer, politischer, bildungspolitischer und kultureller Ebene – im Namen eines höheren Ziels: der Befreiung Palästinas. Deswegen werden sie zur Zielscheibe der israelischen Behörden, aber auch der Sicherheitskräfte der Autonomiebehörde, wie alle, die die herrschende Ordnung infrage stellen.“
Doch Nabed ist bei Weitem nicht die einzige aktive Jugendorganisation in Palästina. In den vergangenen Jahren entstanden zahlreiche ähnliche Kollektive, Initiativen und Vereine, deren Schlagwort die „Einheit des palästinensischen Volkes“ ist. Dazu gehören beispielsweise „Gaza Youth Breaks Out“ (GYBO) oder die „Jabal Al-Mukaber Local Youth Initiative“.
Sie fühlen sich im Stich gelassen
Etwa 40 Prozent der 15- bis 29-Jährigen sind in solchen Gruppierungen organisiert. Doch welchen Einfluss, welches Gewicht haben sie in der Gesellschaft? Abaher El-Sakka, Professor für Soziologie an der Bir-Zait-Universität, ist der Meinung, dass der Einfluss dieser Gruppen nicht überschätzt werden dürfe, da sie nur in einem begrenzten Raum aktiv seien und durch Machtstrukturen sowie durch die israelische Repression blockiert würden.
„Aber Bewegungen wie Nabed können eine neue Dynamik erzeugen und das Terrain für bedeutende soziopolitische Transformationen vorbereiten“, sagt El-Sakka. „Sicher ist, dass sie eine Möglichkeit des gemeinsamen Engagements junger Palästinenser und Palästinenserinnen bieten, die angesichts des Mangels an Zukunftsperspektiven und der fehlenden Aussicht, jemals eine entscheidende Rolle in der Gesellschaft spielen zu können, alle Illusionen verloren haben.“ Viele dieser jungen Leute fühlten sich im Stich gelassen, lehnten die Parteien als Ganzes ab und zögen sich zurück. Das berge die Gefahr, dass sich einige von ihnen gewaltsamen Aktionen zuwenden.
So kam es während der teils als „Messer-Intifada“ bezeichneten Ereignisse 2015/2016 zu vielen isolierten Angriffen auf Soldaten und Siedler in den besetzten Gebieten. Die Täter waren vor allem Männer unter 25, die keiner Partei angehörten und keine Forderungen formulierten.11 Die darauffolgende Repression forderte zwischen Oktober 2015 und Februar 2016 über 170 palästinensische Todesopfer.
Viele unserer Gesprächspartner zeigen Verständnis für derartige Verzweiflungstaten. Die 25-jährige Anissa lebt im Flüchtlingslager von Dschenin. Als Kind erlebte sie im April 2002 die israelische Offensive gegen das Lager, bei der laut offizieller Bilanz 52 Palästinenser starben (den Bewohnern zufolge waren es mindestens 200). Heute sind 70 Prozent der 13 000 Bewohner des Lagers arbeitslos.
Anissa, die keinerlei Ausbildung hat, arbeitet als Reinigungskraft in einer Ferienanlage im Norden der Stadt. Die Gäste kommen aus Israel, sind aber Palästinenser. Sie gesteht, dass sie oft darüber nachdenkt, selbst zur Gewalt zu greifen: „Ich reiß mich zusammen, weil ich weiß, dass die Israelis meine ganze Familie bestrafen würden und dass wir für jeden Aufstand einen hohen Preis gezahlt haben. Aber ich ertrage das Schicksal unseres Volks nicht mehr. Ich kann mich nicht damit abfinden. Ich bewundere die Menschen, die ihr Leben für unseren Kampf gegeben haben.“
Für Huda, die Journalistikstudentin aus Bethlehem, sind Angriffe Einzelner gegen Soldaten an den Checkpoints „ein Mittel wie jedes andere, um Widerstand gegen die Besatzung zu leisten“. Jussef aus Bir Zait sieht in den „radikalen Aktionen“ vor allem „das Ergebnis einer riesigen Frustration über die immer weitergeführte Siedlungspolitik, die alltäglichen Demütigungen an den Kontrollposten und die Ausweglosigkeit“.
Ähnlich sieht es der 20-jährige Mohsen, der in einem Café in der Altstadt von Nablus kellnert: „Seit meiner Geburt haben die Israelis mir nur ein einziges Mal erlaubt, nach Jerusalem zu fahren, ich habe das Gefühl, hier zu ersticken, eingesperrt zu sein in meinem eigenen Land. Ich habe keine Ersparnisse, keine Frau, und ich habe nicht studiert. Ich habe mich für meine Heimat geopfert, denn ich bin geblieben, doch jetzt will ich nur noch eines: ins Ausland gehen. Entweder das, oder ich werfe mich auf einen Soldaten an einem Checkpoint!“
Für den 28-jährigen Majdi aus dem Flüchtlingslager Dheischeh in Bethlehem ist Exil keine Option. Die Situation im Lager, das mit 15 000 Bewohnern zu den größten des Westjordanlands zählt, veranschaulicht, wie sehr die Jugend zur Untätigkeit verdammt ist. „Die israelische Armee hat Dheischeh ins Visier genommen, sie fällt oft dort ein, wie in vielen anderen Lagern auch“, erklärt uns Majdi. „Der Großteil der Verhafteten sind junge Menschen, denen Aufrufe zur Gewalt auf Facebook oder Steinwürfe gegen Soldaten vorgeworfen werden. In den vergangenen sechs Monaten wurden mehr als hundert Jugendliche verletzt. Dazu kommen dieses Jahr zwei Tote, einer 21, der andere 18 Jahre alt, und etwa 80 behinderte Kinder, die mit Absicht an den Beinen verletzt wurden.“
Majdi fügt hinzu: „Wir können nicht protestieren oder politischen Aktivitäten nachgehen, ohne dass wir von den Behörden kontrolliert werden. Wir bekommen Druck von allen Seiten. Die einzige Möglichkeit ist friedliches Engagement.“ Er habe entschieden, nicht ins Ausland zu gehen und sich mit sozialen und kulturellen Aktionen für die Gemeinschaft einzusetzen.
In Palästina bleiben ist also ein Akt des Widerstands, für den es Sumud („Durchhaltevermögen“ auf Arabisch) braucht. Das findet auch der 26-jährige Maher, Ladenbesitzer in der Altstadt von Hebron, unweit der Höhle der Patriarchen und der Ibrahim-Moschee. 1997 wohnten hier 35 000 Palästinenser. Heute sind es nur noch 8000, die ständig von 800 äußerst aggressiven Siedlern und 3000 Soldaten bedrängt werden.
Die israelische Armee errichtet Betonmauern, Checkpoints, Überwachungskameras und Sicherheitsschleusen mit Metalldetektoren. Die palästinensischen Händler versuchen die wenigen noch geöffneten Läden mit Metallgittern vor den Wurfgeschossen und dem Unrat der Siedler aus den oberen Stockwerken zu schützen.
Das Leben hier ist die Hölle. Das weiß auch Maher, der mit angespanntem Blick erklärt, dass er nach einem dreijährigen Auslandsaufenthalt das Land nun nicht mehr verlassen will. „Ich bin nach Deutschland gegangen, aber es zog mich wieder zurück in meine Heimat. Ich könnte wieder weggehen. Die Siedler und deren Organisationen drängen uns dazu, manche bieten sogar Geld. Es wäre einfach: Mein Laden läuft extrem schlecht, denn nur wenige trauen sich, weiter bei uns einzukaufen. Aber ich werde niemals verkaufen, und ich werde hierbleiben, komme, was wolle. Ich warte. Die Zeit ist nicht unser Feind.“
1 Die Namen der Studenten wurden geändert.
3 Siehe „Deaths in 2017“, Israel-Palestine Timeline: www.israelpalestinetimeline.org.
7 Siehe „Menschenrechtler vor Militärgericht“, Amnesty International, 23. Oktober 2017,.
9 „The Status of Youth in Palestine 2013“, Sharek Youth Forum, Ramallah 2013.
11 Siehe Sylvain Cypel, „Pourquoi ‚l’Intifada des couteaux‘ continue“, Orient XXI, 24. Februar 2016.
Aus dem Französischen von Inga Frohn