Auf dem Weg der Besserung
von Loïc Ramirez
Eine Stunde hat die Fahrt durch Täler und Schluchten gedauert, dann hält das Auto vor dem nagelneuen Krankenhaus. „Sigchos heißt uns willkommen“, ruft Doktor César Molina und deutet auf einen sonnenbeschienenen Schneegipfel. Das Hospital in der Kleinstadt wurde im Januar 2017 eröffnet. Rund 100 Menschen arbeiten in dem modernen Zweckbau. Auf der Fassade ein Kreis in Regenbogenfarben – die unter Präsident Rafael Correa eingeführte „Landesmarke“ Ecuadors.
Vor der Wahl Rafael Correas (2007) war über ein Drittel des Staatshaushalts direkt an NGOs gegangen. Der neue Präsident und seine Partei Alianza País (Landesbündnis) versprachen eine Rückkehr zur „grundlegenden“ Rolle des Staats, zum Beispiel im Gesundheitswesen: „In den 30 Jahren vor der Wahl Correas wurde kein einziges staatliches Krankenhaus gebaut“, erzählt Gesundheitsministerin Maria Verónica Espinosa. Das änderte sich mit der Verfassung von 2008, die den Staat verpflichtet, den Bürgern einen kostenlosen Zugang zu ärztlicher Behandlung und Medikamenten zu garantieren.
Zwischen 2008 und 2016 investierte die Regierung über 15 Milliarden US-Dollar (seit 2000 offizielle Währung in Ecuador) im Gesundheitswesen, das ist fünfmal so viel wie im Zeitraum von 2000 bis 2006. Die Zahl der Fachkräfte im öffentlichen Gesundheitswesen stieg zwischen 2008 und 2015 von gut 11 000 auf über 33 000 Beschäftigte. Und auch die Gehälter wurden erhöht. Die Correa-Regierung stand jedoch vor strukturellen Probleme, die Frau Espinosa erklärt.
Im öffentlichen Gesundheitssektor gab es vier Trägerinstitutionen – das Ministerium sowie drei separate Versicherungsträger: das allgemeine Ecuadorianische Sozialversicherungsinstitut (IESS) und dazu die Sozialversicherung der Nationalpolizei (Isspol) und der Armee (Issfa). „Dazu kamen der Privatsektor und die NGOs. Und jede Institution hatte eigene Regeln und Gesetze.“
Im Jahr 2006 sah die Lage für einen durchschnittlichen Ecuadorianer so aus: Die Sozialversicherung des IESS, in die Arbeitgeber und Arbeitnehmer auf freiwilliger Basis einzahlen, konnte er sich nicht leisten. Wurde eine spezielle Operation nötig, die in den Krankenhäusern des Gesundheitsministeriums nicht möglich war, blieb seine einzige Chance die Operation in einem IESS-Krankenhaus. Aber dafür hätte er mindestens drei Monate Beiträge zahlen müssen.
Nach der Verfassung von 2008 musste in solchen Fällen eine Lösung gefunden werden. Dank der Einkünfte aus den Ölexporten konnte die Regierung eine allgemeine Krankenversicherung einführen. Und dazu ein umfassendes öffentliches Gesundheitsnetz aufbauen, das die Versorgung der Patienten und die Kostenerstattung übernimmt – egal welches Krankenhaus der Versicherte aufsucht. Für alle Arbeitnehmer ist der Beitritt zum IESS verpflichtend, informell Beschäftigte können sich freiwillig versichern1 ; seit 2010 sind Familienmitglieder mitversichert, ohne zusätzliche Kosten.
Das IESS hatte vor der Reform 2,5 Millionen Mitglieder. „Heute sind es 3,5 Millionen, es muss aber 9 Millionen Menschen versorgen“, erklärt der Ökonom José Martínez. Für so viele Menschen ist das System jedoch nicht ausgelegt. Deshalb muss das IESS Patienten an private Kliniken, Praxen oder Labore überweisen. Zwischen 2008 und 2015 schloss der allgemeine Versicherungsträger 846 Verträge über 3,2 Milliarden Dollar mit privaten Gesundheitsdienstleistern ab.2 Inzwischen ist das IESS laut Martínez „der profitabelste Kunde für den Privatsektor“.
Juan Cuvi, der die Donum-Stiftung in Cuenca leitet, schildert das Dilemma: „Wer zum ersten Mal Zugang zu Gesundheitsversorgung hat, interessiert sich nicht dafür, ob sie vom Staat oder von einem privaten Dienstleister durchgeführt wird. Für Cuvi liegt das Problem darin, „dass der größte Teil der staatlichen Leistungen im Gesundheitssystem in den letzten 10 Jahren in die Taschen privater Dienstleister geflossen ist, die häufig überteuerte Rechnungen stellten.“ Das habe den Ausbau der staatlichen Gesundheitsversorgung gebremst und die Korruption gefördert.
Moderne Medizin und altes Wissen
Am 2. Januar 2016 kritisierte Präsident Correa im Fernsehen die überhöhte Zahl teurer „Komplikationen“ bei chirurgischen Eingriffen in Privatkliniken: „In den IESS-Kliniken liegt der Anteil bei 20 Prozent und in den Privatkliniken bei 80 Prozent. Da ist etwas faul, liebe Landsleute!“ Daraufhin ging die Zahl der Überweisungen 2016 um ein Viertel gegenüber 2015 zurück.
Das Allgemeine Krankenhaus in der Stadt Puyo sieht mit seinen 36 000 Quadratmetern eher aus wie eine Reihe von Gewächshäusern. Puyo liegt im Osten Ecuadors, am Rand des Amazonas. „Wir haben im März 2013 eröffnet und verfügen über 125 Betten“, erklärt Verwaltungsleiter Christian Ruiz stolz.
In der Frühgeborenenstation ist das einzige Gerät zur Reanimation und Beatmung allerdings kaputt. Der leitenden Ärztin ist die Situation peinlich. Sie lässt ein Frühchen in ein anderes staatliches Krankenhaus überführen; der Transport dauert zwei Stunden. „So etwas kommt leider überall vor“, meint Ruiz – selbst in Europa, können die Besucher bestätigen. Doch hier ist das kein Einzelfall. Solche Pannen verweisen auf ein größeres Problem.
Vor Correas Wahl durchlief Ecuador eine Phase der politischen Instabilität. Von den vier Präsidenten zwischen 2000 und 2007 überstanden nur zwei ihre volle Amtszeit. „Correas Team musste schnell handeln“, erläutert Ivan Cevallos, früher Chefarzt für Chirurgie im IESS-Krankenhaus Carlos Andrade Marín in Quito. „Um die nächsten Wahlen zu gewinnen, mussten sie die sichtbarsten Probleme lösen. Also baute man neue Krankenhäuser, die man vorzeigen konnte. Der Haken war, dass die nicht immer über die nötigen Gelder, Geräte und Fachkräfte verfügten.“
Härter fällt das Urteil der Kinderärztin Beatriz León aus, die in einer Privatklinik arbeitet: „Sie wollten unbedingt alles neu machen“, meint sie ironisch. Halbwegs funktionierende Strukturen wurden zerschlagen. Dazu erzählt sie die Geschichte des Nationalen Instituts für Hygiene und Tropenmedizin Leopoldo Izquieta Pérez. Das wurde 2012 per Präsidentendekret durch das neugegründete Nationale Institut für öffentliche Gesundheit und Forschung (Inspi) ersetzt, das dem Gesundheitsministeriums untersteht.
„Natürlich war im Izquieta Pérez nicht alles perfekt. Aber wenn ein Arzt 25 Jahre praktiziert, hat er 25 Jahre Erfahrung, auch wenn er schlecht ausgebildet ist.“ Das alte Institut hat mehr als 70 Jahre existiert – sein frischgebackener Nachfolger muss seine Leistungsfähigkeit erst noch beweisen. Eine Studie der Donum-Stiftung verweist auf ein Beispiel: Das Institut Izquieta Pérez hatte ein wirksames Antidot produziert; heute werden solche Gegengifte aus Costa Rica importiert.
Beim Wiederaufbau des ecuadorianischen Staats ging es vor allem darum, die Kontrolle über Bereiche zurückzugewinnen, aus denen er sich verabschiedet hatte. Zu Hochzeiten des Neoliberalismus hatte der Rückzug des Staats nicht nur in Ecuador höchste Priorität. Als das Land dann nicht mehr in der Lage war, die Armen zu versorgen (1990 lebten 45 Prozent der Bevölkerung in extremer Armut), rief man Nichtregierungsorganisationen zu Hilfe, um die Sozialpolitik auszulagern. Zwischen 1960 und 1980 entstanden 104 NGOs, bis 1995 stieg deren Zahl auf 376.3
2007 schuf die Regierung Correa eine Geschäftsstelle für internationale Kooperation (Seteci). Das war eine ganz neue Form der Regulierung ausländischer NGOs, erläutert Gabriela Rosero, die zwischen 2009 und 2016 die Sateci leitete: „Es gab internationale NGOs, die einen Teil ihrer Geschäftsbereiche an nationale NGOs abgaben und ihnen Gelder überwiesen. Doch fast nie ließ sich nachprüfen, wofür diese Gelder genau gezahlt wurden. Man musste also einen Rahmen vorgeben und Kontrollen einführen.“
Umstritten war vor allem das Dekret Nr. 16 vom Juni 2013, das die Auflösung von Vereinen möglich machte. Und zwar unter Berufung auf diverse Gründe, zu denen etwa „parteipolitische Aktivitäten“ zählten oder „Störung des öffentlichen Friedens“ oder „Einmischung in die staatliche Politik“. Aufgrund dieses Dekrets wurde 2014 die US-Entwicklungsbehörde USAID des Landes verwiesen, die als Instrument einer neoliberalen Interventionspolitik gilt. Zudem wurden die Aktivitäten von NGOs eingeschränkt, die sich im Auftrag Washingtons in die Politik „einmischen“.
Die Folge waren Spannungen und ein organisatorisches Durcheinander, das auch zulasten der Patienten ging. „Vor Correas Amtsantritt war unsere Zusammenarbeit mit dem Ministerium besser, wir waren stärker in die Entscheidungen eingebunden“, berichtet die Ärztin María Elena Acosta.
Doktor Acosta arbeitet für die NGO Kimirina, die HIV-Infizierte und andere Patienten mit sexuell übertragbaren Krankheiten betreut. „Plötzlich wollten sie alles zentralisieren und bei der Umstrukturierung sofort Ergebnisse sehen. Wenn eine Maßnahme nicht direkt Erfolg hatte, wurde sie reformiert, immer wieder. Diese Vorgehensweise hat uns daran gehindert, eine langfristige Zusammenarbeit mit dem Ministerium aufzubauen.“
Hinzu kamen politische Meinungsverschiedenheiten. Acosta verweist auf das Beispiel des Präventionsprogramms gegen Teenagerschwangerschaften (Enipla), das 2011 eingeführt wurde, mit der Gratis-Hotline „Ernsthaft reden: Sexualität ohne Geheimnisse“.
Dann aber ernannte Präsident Correa im November 2014 mit Mónica Hernández eine neue Programmleiterin, die dem katholischen Opus Dei nahesteht. Die stellte die Hotline ein und gründete stattdessen den „Familienplan Ecuador“, der „die Rolle der Familie wiederherstellen“ soll. Damals kritisierten zahlreiche progressive Organisationen eine Gesundheitspolitik, die von „religiösen Visionen“ geleitet sei und sich von den „wissenschaftlichen Realitäten“ weit entfernt habe.4
Zu alledem hat sich der Staatsapparat auch zum Wächter der Selbstbestimmung indigener Bevölkerungsgruppen ernannt. In Chugchilán in der Provinz Cotopaxi lebt eine winzige indigene Gemeinde auf einem nebligen Berghügel. Uns empfängt eine alte Frau mit Hut, die von zahlreichen Kindern umringt wird. „Das ist die Dorfhebamme“, erklärt unser Begleiter Pilatasig, Verbindungsmann zwischen Gesundheitsministerium und indigenen Gemeinden in dieser Region.
Pilatasig ist selbst indigener Abstammung, spricht Spanisch, Quechua und einige lokale Dialekte. Er soll das Zusammenspiel zwischen moderner Medizin und dem alten Wissen der Indigenen fördern. „Wir nehmen mit den Hebammen Kontakt auf, bringen ihnen elementare Hygieneregeln bei und zeigen ihnen, wie sie Schwangerschaftskomplikationen frühzeitig erkennen, damit wir die Patientinnen übernehmen können.“ Keine Spur von einem zentralisierten Staat, der alle Differenzen ausradiert. „Zum ersten Mal“, sagt Pilatasig, „ werden die indigene Kultur und ihre Praktiken offiziell anerkannt und geschützt.“
1 Diese Gruppe macht rund 5 Prozent der Erwerbsbevölkerung aus (Stand: März 2017).
2 „Los últimos 5 presidentes diagnostican al IESS“, in: El Telégrafo, Quito, 2. Februar 2016.
Aus dem Französischen von Sabine Jainski
Loïc Ramirez ist Journalist.