08.02.2018

Von Peking ins Silicon Valley – und zurück

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Von Peking ins Silicon Valley – und zurück

Die neue chinesische Diaspora ist jung, mobil und hochqualifiziert

von John Lee

Von Peking nach New York und zurück: der Berufsrevolutionär Sun Yat-sen (1866–1925) und seine Frau Song Qingling akg
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Vor Kurzem berichtete Bloomberg News über die Versuche chinesischer Unternehmen, ihre Landsleute von den US-amerikanischen IT-Firmen, bei denen sie arbeiten, abzuwerben.1 Seit China sich in vielen Bereichen zu einer Konkurrenz für die westlichen Industrieländer entwickelt hat, wird dort mehr und mehr darüber nachgedacht, wie hochqualifizierte Chinesinnen und Chinesen, die im Westen gelebt und gearbeitet haben, zu Wachstum und technologischer Entwicklung daheim beitragen können. Schließlich ist seit Mitte der 1990er Jahre eine neue, weltweit mobile chinesische Diaspora entstanden: Studierende, Freiberufler und Unternehmerinnen und Unternehmer, die im Ausland leben, aber enge Bindungen zu China haben.

Chinas Boom verdankte zu Anfang viel der „alten“ Diaspora. Diese war vor allem in „Großchina“ und Südostasien fest etabliert und sorgte in den ersten beiden Jahrzehnten der Reform- und Öffnungspolitik unter Deng Xiaoping seit 1978 für den Großteil der Auslandsinvestitionen in der Volksrepublik.

Heute ist die „neue“ Diaspora vielleicht noch wichtiger: gut ausgebildete, oft in Festlandchina aufgewachsene Menschen, die beim Übergang Chinas zu einer wissensbasierten Hightech-Ökonomie ganz vorn mit dabei sind. Sie sind das Gesicht von Chinas heutiger Rolle in der Welt, ihre internationalen Verbindungen sind komplexer und vielfältiger als einfache Import-Export-Beziehungen.

Die „alte Diaspora“ half mit, dass China zu einer dienstleistungsorientierten Volkswirtschaft mit höherer Wertschöpfung werden konnte – so gaben taiwanische Ingenieure das Wissen aus dem Silicon Valley an Chinas jungen IT-Sektor weiter, und die südchinesische Hafenstadt Guangzhou profitierte beim Großprojekt Guangzhou Knowledge City von der Kooperation mit Singapur.

Bei der „neuen Diaspora“ verstärken sich mehrere Faktoren gegenseitig. Auf der einen Seite treiben die Anstrengungen des chinesischen Staats, den technologischen Rückstand zu den hochentwickelten Ländern aufzuholen oder diese gar zu überholen, den Bedarf an qualifizierten jungen Leuten in die Höhe. Und auf der anderen Seite führen die enorme Ausweitung der akademischen Ausbildung in China2 und die zahlreichen chinesischen Absolventen ausländischer Unis zu einem gestiegenen Angebot an Hochqualifizierten, von denen viele auch noch Berufserfahrungen im Ausland gesammelt haben.

Die „alte Diaspora“ erlebte ihre Glanzzeit in den frühen Reformjahren, als das Land auf ausländisches Investitionskapital und den Zugang zu internationalen Lieferketten und Märkten angewiesen war, die Chinesen in Hongkong, Taiwan und Südostasien bieten konnten. Heute braucht China seinerseits Investitionsmöglichkeiten für sein Kapital und Absatzmärkte für seine Überkapazitäten. Die hochqualifizierten chinesischen Arbeitskräfte in den westlichen Industrieländern sitzen somit an der idealen Stelle, um die Geld- und Informationsflüsse in beide Richtungen zu lenken.

Schon vor zehn Jahren nannte man sie die „neuen Argonauten“: Menschen, die in den – durch die digitale Kommunikation und billige Flugverbindungen plötzlich erreichbaren – Weiten der Weltwirtschaft zu Geld kommen wollen. Anders als frühere Migranten können sie in zwei (oder mehr) Ländern ein Standbein haben und die Chancen nutzen, die sich ihnen dank ihrer hohen Qualifikation und ständiger Kontakte über alle Grenzen hinweg bieten.

Diese neue Art der permanenten, intensiven Vernetzung prägt vor allem den Bereich der IT-Dienstleistungen, in dem chinesische Firmen das Zeug zur Weltmarktführerschaft haben. Ein prominentes Beispiel ist der Suchmaschinengigant Baidu, der ein innovatives Projekt für künstliche Intelligenz (KI) mit Beteiligung von Labors in Peking und im Silicon Valley entwickelt hat.3

Die Baidu-Gründer Robin Li und Eric Xu, die inzwischen zu den reichsten Männern des Landes gehören, haben ihre Ausbildung in den USA absolviert und dort auch erste Berufserfahrungen gesammelt, genau wie der heutige Geschäftsführer Qi Lu (der zuvor für Microsoft gearbeitet hat) und der ehemalige Leiter des Baidu-Big-Data-Labors Zhang Tong (der inzwischen für den chinesischen Technologiegiganten Tencent arbeitet). Auch der frühere Leiter des KI-Projekts von Baidu, Andrew Ng, hat das US-Collegesystem durchlaufen. Mittlerweile ist er Lehrbeauftragter in Stanford – nachdem er zuvor bei Google ein KI-Projekt für Deep Learning ins Leben gerufen hat.

Der chinesisch-US-amerikanische Informatiker Andrew Ng ist heute weltweit bekannt als Pionier auf dem Gebiet selbstlernender Maschinen, während sein ehemaliger Google-Kollege Kai-Fu Lee für China als digitale Supermacht wirbt. Lee, geboren in Taiwan, ausgebildet in den USA, ist der Vorzeigetyp eines Mitglieds der „neuen Diaspora“: Er arbeitete zunächst für Microsoft, leitete dann das China-­Geschäft von Google und steht heute an der Spitze einer Risikokapitalfirma, die Büros in drei chinesischen Städten und außerdem in Seattle und im Silicon Valley unterhält. Inzwischen gibt es mehr und mehr IT-Firmen, die Firmensitze und Finanzquellen sowohl in China als auch im Silicon Valley haben, wo die Hälfte der Beschäftigten keine US-Staatsbürgerschaft besitzt und Chinesisch nach Spanisch die am häufigsten gesprochene Fremdsprache ist.

Auch andere Länder wollen von Chinas boomendem Hightechsektor und seinen rasch ansteigenden Auslandsinvestitionen profitieren. Die chinesischen Investitionen in Israel haben sich 2016 verzehnfacht,4 finanziert wurden Projekte wie ein ganzes Netz von Zentren für KI und Forschung und Entwicklung, das an der Universität Haifa angesiedelt ist und zahlreiche chinesische Studierende anzieht.5 Auch Australiens Bemühungen um grenzüberschreitende Industriekooperationen locken mehr und mehr chinesische Expats an, so dass die meisten australischen Einwanderer inzwischen aus China kommen.

Zwar treibt die „neue Diaspora“ Chinas Aufstieg in keinem anderen Sektor so energisch voran wie in der IT-Branche, doch auch in anderen wissenschaftlichen und technologischen Bereichen leisten im Ausland ausgebildete Chinesen wichtige Beiträge. Zum Beispiel die Molekularbiologin Nieng Yan, die im Herbst 2017 als Professorin an die US-Universität Princeton ging. Davor hatte sie zehn Jahre an der Tsinghua-Universität in China gearbeitet und dort jene Arbeitsgruppe geleitet, die als weltweit Erste ein Membrantransportprotein entschlüsselte.

Nieng Yan hat in Princeton promoviert – bei einem Professor, der ebenfalls aus China stammte und später nach Tsinghua zurückkehrte – und erklärte ihre Entscheidung für eine Rückkehr dorthin mit ihrer Hoffnung auf neue berufliche Anregungen. Beobachter sahen darin allerdings auch eine Reaktion auf die Probleme innerhalb der chinesischen Wissenschaftskultur.

Entscheidend ist jedoch, dass ­Nieng Yan nun die Möglichkeit hat, zwischen den beiden Ländern hin und her zu wechseln, hier wie dort bahnbrechende Forschungen zu betreiben und die nächste Generation von Wissenschaftlern zu prägen. Schließlich besetzen in den USA ausgebildete Forscher heute wichtige Positionen in allen Forschungs- und Entwicklungseinrichtungen Chinas, sogar in sicherheitsrelevanten Bereichen. Inzwischen existiert schon ein ganzes Netz von „Los-Alamos-Clubs“, zu denen sich die zahlreichen Mitarbeiter chinesischer Unis, die zuvor in der US-Forschung beschäftigt waren, zusammengeschlossen haben.6

Mit ihrem im Westen erworbenen Know-how können diese Menschen helfen, die Lücken im Bildungssystem und in der Forschungskultur Chinas zu schließen. Seit einigen Jahren kehren die allermeisten Chinesinnen und Chinesen nach dem Studium oder einem längeren Auslandsaufenthalt, vorzugsweise in den USA, wieder zurück.7 Das entspricht im Übrigen einem allgemeinen Trend, wonach ausländische Absolventen westlicher Universitäten wieder vermehrt in ihre Heimatländer zurückgehen oder sich dort zumindest beruflich engagieren.

Chinas langes und intensives Werben um qualifizierte rückkehrwillige Emigranten scheint sich auszuzahlen, auch weil sich die ökonomischen und technologischen Bedingungen deutlich verbessert haben – inzwischen hat China teils ähnlich gute Jobs anzubieten wie die westlichen Industrieländer. So sind beispielsweise am Jangtse-Delta Dutzende Biotech-Start-ups entstanden, die eigene Medikamente gegen Diabetes, Hepatitis B, Krebs und andere Krankheiten entwickeln.

Zu den Gründen für die neue Attraktivität Chinas gehören sicher auch der Anstieg der Arbeitslosigkeit in westlichen Ländern nach 2008, eine rigide Einwanderungspolitik (die es zumindest in den USA schwerer macht, ausländische Talente zu halten) und die „Bambus-Decke“, die die Karrieren von asiatischen Beschäftigten bremst.

Nach einer Reihe von Spionageermittlungen gegen chinesischstämmige Forscher in den USA – die meisten wurden wieder eingestellt – fürchten Beschäftigte in sicherheitsrelevanten Bereichen zudem eine Benachteiligung aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit. Viele fühlen sich schon an die McCarthy-Ära erinnert. 1955 wiesen die USA wegen Spionageverdachts den in Hangzhou geborenen Wissenschaftler ­Qian Xuesen aus, der an der Eliteuni Caltech in Pasadena arbeitete und später zum „Vater des chinesischen Raketen- und Raumfahrtprogramms“ wurde. Ein Pentagon-Mitarbeiter bezeichnete den Schritt als „das Dümmste, was dieses Land jemals getan hat“.

Im neuen Jahrtausend hat die grenzüberschreitende Zusammenarbeit in der Forschung stetig zugenommen, aus China stammen immer mehr wissenschaftliche Veröffentlichungen, und immer mehr junge Leute studieren an westlichen Universitäten.

Mehr als die Hälfte der Doktortitel in den Ingenieur- und Computerwissenschaften, die heute in den USA verliehen werden, geht an ausländische Studierende, und jeder dritte ausländische Studierende kommt aus China. Angesichts wachsender Ressentiments gegen Zuwanderung warnen Universitäten und Industrie jedoch, dass die technologische Führungsrolle der USA gefährdet sei, wenn es nicht gelinge, die Zuwanderer im Land zu halten.

Während Chinas internationale „kreative Klasse“ größer wird, setzt Peking auf mehr Repression zu Hause und ein energischeres Auftreten im Ausland. Dazu gehört auch, dass China verstärkt ideologische Loyalität von seinen Staatsbürgern einfordert und das Ziel vorgibt, den eigenen Anteil an der Produktion zu steigern und in Schlüsselbereichen eine technologische Führungsrolle einzunehmen.

Junge Chinesen im Ausland demonstrieren schon einen neuen patriotischen Eifer – zum Beispiel in der „Little Pink“-Bewegung8 –, was zu Spannungen mit der Bevölkerung der Gastländer führt, aber auch mit chinesischstämmigen Menschen, die andere Überzeugungen haben. Und seit Peking seine Auslandsinvestitionen zunehmend in die Übernahme von Technologiefirmen lenkt, wächst in westlichen Ländern die Sorge vor der neuen Konkurrenz, die man sich da womöglich heranzieht.

In den 1980er und 1990er Jahren trieb die „alte Diaspora“ Chinas Entwicklung zur Drehscheibe der Produktion im asiatisch-pazifischen Raum an und setzte damit eine Verschiebung der Kräfteverhältnisse in der Region in Gang. Die neue chinesische Diaspora steht im Zentrum einer Transforma­tion, die womöglich noch einschneidendere Folgen haben wird.

In einer Zeit, in der die Zweifel an den Vorteilen der Globalisierung lauter werden und die Zuversicht schwindet, ein aufstrebendes China ließe sich in ein internationales Handels- und Rechtssystem einbinden, spielen diese vielen jungen Menschen – die ja eine Verkörperung der globalisierten Welt sind – eine extrem wichtige Rolle.

1 „Chinese Workers Abandon Silicon Valley for Riches Back Home“, Bloomberg News, 10. Januar 2018.

2 Zwischen 2000 und 2013 stieg die Anzahl der Studierenden in China von 12,3 Millionen auf 34,6 Millionen; siehe: William John Morgan und Bin Wu: „The Chinese dream for higher education and the dilemma it presents“, The Conversation, 15. Dezember 2014.

3 Siehe Gil Press, „Faster Artificial Intelligence: Baidu Benchmarks Hardware For Deep Learning“, Forbes.com, 30. September 2016.

4 Max Schindler, „Chinese investors flock to Israel for unlikely reasons“, The Jerusalem Post, 20. Dezember 2017.

5 Rebecca Fannin, „China And Israel Tech Ties Grow Closer With $10M Deal For 3 AI Center“, Forbes.com 21. März 2017; sowie Sarah Levi, „Chinese enrollment at Israeli universities skyrockets“, The Jerusalem Post, 14. August 2017.

6 Stephen Chen, „America’s hidden role in Chinese weapons research“, South China Morning Post, 29. März 2017.

7 2016 kehrten nach offiziellen Angaben gut 82 Prozent der Personen, die im Ausland studiert hatten, nach China zurück, siehe: Kenneth Rapoza, „China’s ‚Best And Brightest‘ Leaving U.S. Universities And Returning Home“, Forbes.com, 17. April 2017.

8­Junge, sehr nationalistische und meist weibliche „Internetkrieger“, die von innerhalb und außerhalb der Volksrepublik Kritik an China bekämpfen.

Aus dem Englischen von Ursel Schäfer

John Lee lebt in der australischen Hauptstadt Canberra und war Fellow am Mercator Institute for China Studies in Berlin. Der Text ist eine überarbeitete Version von seinem Blog bei The Interpreter des Lowy Institute in Sydney vom März 2017.

© Le Monde diplomatique, Berlin

Le Monde diplomatique vom 08.02.2018, von John Lee