08.02.2018

Auch eine Frage der Würde

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Auch eine Frage der Würde

Ruanda und andere afrikanische Länder wehren sich gegen den Import von Secondhandklamotten

von Kimiko de Freytas-Tamura

Mode aus Sierra Leone für Sierra Leone KATRINA MANSON/reuters
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In Kenia nennt man sie die „Kleidung von toten Weißen“. In Mosambik gelten sie als „Unglückskleider“. Gemeint sind die gebrauchten, ausgesonderten Kleidungsstücke aus dem Westen, die meist in Afrika landen.

Doch inzwischen versuchen einige ostafrikanische Länder, ihre Kleidung selbst zu produzieren – und wollen deshalb die abgelegten Stücke der anderen nicht mehr haben. Die Regierungen von Ruanda, Kenia, Uganda, Tansania, Südsudan und Burundi wollen Importen von Secondhandkleidung und -schuhen einen Riegel vorschieben, weil die Flut der alten Sachen ihren Bemühungen zuwiderläuft, eine einheimische Textilindustrie aufzubauen. Ab 2019 sollen solche Importe generell verboten werden.

Der Gebrauchtwarenhandel ist in ganz Afrika eine Hauptbezugsquelle nicht nur für Kleidung, sondern auch für Autos, Flugzeuge, medizinische Geräte, Computer und manchmal sogar für Arzneimittel. In den Straßen fahren Busse mit japanischen Schriftzeichen. Im Kongo haben die Flugzeuge noch italienische Aufschriften. In Kamerun ist der Markt mit Aspirin aus Osteuropa überschwemmt, wobei das Verbrauchsdatum oft überschritten ist. In Krankenhäusern Südafrikas stehen alte Apparaturen aus den Niederlanden herum. Und Ghana ist zu einer gigantischen Müllkippe für Elektroschrott geworden.

Das Land, das am stärksten auf eine Importbeschränkung von Secondhandkleidung drängt, ist Ruanda. Und das nicht nur, weil man die junge einheimische Textilindustrie schützen will, sondern auch mit dem Argument, dass das Auftragen abgelegter Kleidung die Würde der Menschen verletzt.

Nachdem mehrere ostafrikanische Länder 2016 ihre Importzölle für Gebrauchtkleidung so stark angehoben haben, dass es de facto auf Importverbote hinauslief, reagierte der Westen mit scharfer Kritik.

Im März 2017 drohte der US-Handelsbeauftragte1 , vier ostafrikanische Länder von dem Abkommen auszuschließen, das den Handel und das Wachstum in Subsaharaafrika fördern soll. Diese Vereinbarung, abgekürzt Agoa2 , eröffnet den Zugang zum US-Markt für Produkte wie Erdöl, Kaffee und Tee zu niedrigen Zollsätzen. Allerdings kann die US-Regierung Agoa für bestimmte Länder kündigen, wenn sie zu der Auffassung gelangt, dass die Beziehungen mit diesen Ländern den USA keine Vorteile mehr bringen.

Der Streit hat eine alte Debatte wieder aufflammen lassen, die die Entwicklungsländer schon lange beschäftigt: die Frage nach dem richtigen Maß an Protektionismus und nach dem damit verbundenen Risiko, den Beziehungen zu einer mehr und mehr vernetzten Welt zu schaden.

Mit ihrer Reaktion geben die USA die Absicht zu erkennen, sowohl die eigenen Jobs zu schützen als auch freien Zugang zu kleinen, aber vielversprechenden Märkten zu gewinnen. Die ostafrikanischen Staaten versuchen ihrerseits aus den Erfolgsgeschichten zu lernen, die sie in Asien, aber auch in den USA beobachten konnten: wie man eine im Aufbau befindliche Fertigungsindustrie vor Konkurrenz schützt und so fördert, dass sie sich irgendwann auf dem Weltmarkt behaupten kann.

Besonders lautstark setzt sich Ruandas Präsident Paul Kagame für ein Verbot der Gebrauchtwarenimporte ein. Seiner Meinung nach sollten die Länder der Region das Verbot selbst dann durchsetzen, wenn dies zulasten des Wirtschaftswachstums ginge: „Wir müssen unsere Industrien aufbauen und konsolidieren, wir haben gar keine andere Wahl. Wir werden womöglich die Konsequenzen zu spüren bekommen. Wir stehen hier zwar vor einer schwierigen Entscheidung, aber es gibt immer eine Lösung.“3

Ostafrika hat 2015 gebrauchte Kleidungsstücke und Schuhe im Wert von 151 Millionen Dollar eingeführt. Ein Großteil kam aus Europa und den USA, wo die Verbraucher sich regelmäßig neue Sachen kaufen und die alten entsorgen, meist in den Containern des Roten Kreuzes und anderer Hilfsorganisationen. Mindestens 70 Prozent der Kleidersammlungen landen in Afrika, schätzt die britische NGO Oxfam, die „gespendete“ Secondhandkleidung auf dem afrikanischen Kontinent verkauft.

Viele Regierungsvertreter in Ostafrika erkennen in der Drohung aus Washington wieder einmal die typisch westliche Schikane gegenüber Ländern, die das übliche afrikanische Wirtschaftsmodell überwinden wollen, das auf dem Export von Rohstoffen statt von Fertigwaren beruht.

Für ein Land wie Ruanda, das klein ist, keinen Zugang zum Meer hat und über keine nennenswerten exportfähigen Bodenschätze verfügt, ist der Aufbau einer eigenen Fertigungsindustrie ein wichtiger Baustein in der wirtschaftlichen Entwicklung. Nach einer Studie der Unternehmensberatung McKinsey könnte Ostafrika bereits in zehn Jahren Textilien im Wert von bis zu 3 Milliarden Dollar jährlich exportieren.

Die Drohung der USA, ostafrikanische Länder aus dem Handelsabkommen auszuschließen, ist „politisch und moralisch falsch“, erklärt Mukhisa Kituyi, Generalsekretär der Welthandels- und Entwicklungskonferenz der Vereinten Nationen (Unctad). Der frühere Handelsminister von Kenia findet die Haltung der Regierungen von Ruanda und Ostafrika richtig. Die Handelsbeziehungen zwischen den USA und Ostafrika sollten auf gegenseitigem Respekt beruhen und nicht auf die Methoden zurückgreifen, die das britische Empire im 19. Jahrhundert etwa beim berühmten Opiumkrieg einsetzte, um die Öffnung der chinesischen Märkte für britische Drogenexporte zu erzwingen.

Hinter der Reaktion der USA auf die geplanten Importverbote steht die Secondary Materials and Recycled Textiles Association (Smart), eine Gruppe von Firmen, die Secondhandkleidung aus den USA exportieren. Diese Lobby­organisation behauptete, 40 000 US-Jobs seien gefährdet. Und außerdem würden die von den US-Verbrauchern aussortierten Kleidungsstücke die Umwelt schädigen, wenn sie nicht ins Ausland verkauft werden können und stattdessen auf Mülldeponien landen.

Die Smart-Lobby meinte allen Ernstes, Ostafrika würde mit dem Aufbau von Zollschranken „die Großzügigkeit der USA missbrauchen“, und forderte eine harte Reaktion der USA. Schließlich würden diese Länder Vorschriften umgehen, die sie auf „Fortschritte“ bei der Beseitigung von Handelshindernissen für US-amerikanische Waren und Investitionen verpflichten. Ähnlich argumentierte Grant Harris, der wichtigste Afrika-Berater von Barack Obama: „Es ist schwer zu begründen, dass die USA Ländern weiterhin einen bevorzugten Marktzugang gewähren sollen, wenn diese mit ihrem Handeln US-Firmen Schaden zufügen.“

Washington nutzt Handelsvereinbarungen ziemlich oft als Hebel in Verhandlungen. 2015 wurde Südafrika angedroht, die Vorzugsbehandlung, die sich aus dem Agoa-Abkommen ergibt, zu verlieren, wenn das Land die Hüh­ner­fleisch­im­porte aus den USA nicht erleichtern würde. Die waren seit 2001 mit einem Schutzzoll belegt, um die südafrikanische Geflügelindustrie vor dem Ruin zu bewahren. Und 2016 drohten die USA dem winzigen Königreich Lesotho, es könnte von Agoa ausgeschlossen werden, wenn keine politischen Reformen umgesetzt würden.

Südafrika gab beim Hühnchenstreit am Ende nach und ließ bestimmte Importkontingente ins Land. Auch die Regierung von Kenia knickte ein und zog ihre Unterstützung für ein Importverbot für Secondhandkleidung doch wieder zurück, um ihre profitablen Textilexporte in die USA nicht zu gefährden. Weltweit beliefen sich die kenianischen Exporte 2015 auf 380 Millionen Dollar, ein Großteil davon wurde von US-Unternehmen gekauft. Mittlerweile hat der US-Handelsbeauftragte bekannt gegeben, Kenias Zugehörigkeit zu Agoa sei nicht gefährdet.

Die anderen ostafrikanischen Länder sind jedoch offenbar entschlossen, das Verbot durchzuziehen. Ihr Protek­tio­nismus ist auch eine Reaktion auf die negativen Folgen der Strukturanpassungsprogramme, die sie in den 1980er und 1990er Jahren von der Weltbank und dem Internationalen Währungsfonds (IWF) verordnet bekamen. Diese neoliberale Politik hat, in Verbindung mit der Schuldenkrise, fallenden Baumwollpreisen und chinesischen Billigimporten, die Textilindustrie auf dem ganzen Kontinent plattgemacht.

Während IWF und Weltbank von Afrikas Volkswirtschaften damals Haushaltsdisziplin, Subventionsabbau und radikale Marktöffnung verlangten, haben die entwickelten Länder die Importe von Garnen und Stoffen eingeschränkt, um ihre eigenen Textilindustrien zu schützen.

Der britische Geograf Andrew Brooks beschreibt im Einzelnen, wie die Beseitigung der Handelsschranken die afrikanischen Volkswirtschaften dem Druck von Importwaren ausgeliefert hat, mit der Folge, dass „insbesondere die Fertigungsindustrien nicht mehr konkurrenzfähig waren“. Die aktuelle Debatte über Agoa mache nur „die Schattenseiten der Globalisierung“ sichtbar.4

In Kenia zum Beispiel arbeiteten vor ein paar Jahrzehnten noch eine halbe Million Menschen in der Bekleidungsindustrie; heute sind es nur noch 20 000. Und die produzieren vorwiegend Kleidung für den Export, die für die Menschen in Kenia zu teuer ist.

In Ghana ist die Zahl der Arbeitsplätze in der Textilbranche zwischen 1975 und 2000 um 80 Prozent zurückgegangen. In Sambia, wo vor 30 Jahren Kleidung produziert wurde, können sich die meisten Menschen inzwischen nur noch importierte Secondhandklamotten leisten. Viele finden es richtig, dass die Regierung eine nationale Textilindustrie aufbauen will, meinen aber zugleich, dass die Einfuhr gebrauchter Kleidung nur schrittweise verboten werden sollte.

Auch in Ruanda, wo das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf bei 700 Dollar im Jahr liegt, sind viele gegen den Importstopp, weil er tausende Jobs kostet – etwa bei Vertriebsfirmen und Secondhandläden – und vor allem junge Leute trifft. Ruanda hat die Zölle für Altkleiderimporte schon zwölfmal angehoben, woraufhin die Umsätze der Secondhandläden eingebrochen sind. Die Entscheidung der Regierung halten viele für übereilt, weil das Land noch nicht so weit ist, bezahlbare Kleidung selbst produzieren zu können. Im Übrigen hätten die Zölle zwar den Import von Second­hand­waren verhindert, nicht aber den Zufluss teurerer Neuwaren aus China.

Ob Ruanda, Tansania und Uganda tatsächlich in der Lage sind, eine eigene Textilindustrie aufzubauen, ist völlig offen. Noch fehlen wesentliche Voraussetzungen. Die Drosselung der Gebrauchtwarenimporte allein wird das Problem wohl nicht lösen, sagen Vertreter der Textilbranche. In Ruanda sind die Energie- und Transportkosten so hoch wie in kaum einem anderen afrikanischen Land, es fehlt an qualifizierten Arbeitskräften, und hochwertige Stoffe und Garne, die importiert werden müssten, sind zu teuer.

Ein weiteres Problem ist der vergleichsweise kleine heimische Markt und die geringe Kaufkraft. „Gibt es hier überhaupt einen richtigen Markt, den wir mit ‚Made in Ruanda‘-Kleidung beliefern können?“, fragt sich Johannes Otieno. Der Geschäftsführer der Firma Utexrwa, die Armee- und Polizeiuniformen sowie Kleidung für Krankenhauspersonal produziert, ist gegen das Importverbot für Secondhandkleidung. Er fragt sich, was Ruanda tun wird, falls die USA das Land aus der Agoa-Handelsvereinbarung ausschließen. „Ein Land kann nicht allein überleben“, meint der Manager, „wir sind bei vielen Dingen von den USA abhängig. Wir sind noch nicht so weit, dass wir sagen könnten: ‚Wir brauchen euch nicht mehr.‘ “

1 Der United States Trade Representative ist ein Posten mit Ministerrang, der unmittelbar dem Weißen Haus zugeordnet ist.

2 Aus dem Agoa-Vertrag (Africa Growth and Opportunity Act, im Mai 2000 vom US-Kongress beschlossen) waren zuvor schon Burundi und der Südsudan ausgeschlossen worden, deren Regierungen politische ­Repression und schwere Gewalttaten vorgeworfen werden.

3 So in seiner Rede vom 27. Juni 2017, mit der er die Kandidatur für seine dritte Präsidentschaftsperiode ankündigte, siehe: www.africanews.com/2017/06/27/rwanda-s-kagame-sticks-to-used-clothes-ban-de­spite-us-threats/.

4 Andrew Brooks, „Clothing Poverty – The Hidden World of Fast Fashion and Second-Hand Clothes”, Chicago (University of Chicago Press) 2015.

Aus dem Englischen von Niels Kadritzke

Kimiko de Freytas-Tamura ist Korrespondentin der New York Times in London.

© The New York Times; für die deutsche Übersetzung Le Monde diplomatique, Berlin.

Le Monde diplomatique vom 08.02.2018, von Kimiko de Freytas-Tamura