Schnee von gestern
In den Alpen sagen sie Nein zu Olympia
von François Carrel
Tirol wird sich nicht für die Olympischen Winterspiele 2026 bewerben. Bei einer Volksbefragung am 15. Oktober 2017 stimmten 53 Prozent der Wahlberechtigten mit Nein. In der Landeshauptstadt Innsbruck, die 1964 und 1976 Gastgeberin der Winterspiele war, sprachen sich sogar 67 Prozent gegen eine Bewerbung aus. Acht Monate zuvor hatte sich auch das Schweizer Kanton Graubünden gegen eine Bewerbung entschieden. Dort stimmten 60 Prozent gegen die Austragung in Davos und St. Moritz.
Die Olympischen Winterspiele werden zwar als ein globales Volksfest vermarktet, doch wenn die Bürgerinnen und Bürger potenzieller Austragungsorte gefragt werden, sagen sie fast immer Nein. Das war schon bei der Bewerbungsrunde für 2022 so: Weder die Krakauer noch die Bayern oder Graubündener wollten die Winterspiele ausrichten. Nach negativen Meinungsumfragen machte schließlich auch Oslo, der letzte verbliebene europäische Kandidat für 2022, einen Rückzieher. In den Protestbewegungen, wie etwa der bayerischen NOlympia, versammeln sich nicht nur Umweltschützer, sondern Bürger aus allen politischen Lagern, die vor allem die enormen Kosten der Austragung fürchten.
2006 fanden in Turin die letzten Winterspiele in Europa statt, gefolgt von Vancouver (2010) und Sotschi (2014). In diesem Jahr gastieren sie vom 9. bis 25. Februar im südkoreanischen Pyeongchang, 2022 dann in Peking. Seit Jahren haben die Spiele also nicht mehr in den Alpen stattgefunden. Dabei begann hier am Fuß des Mont Blanc einst die Geschichte der Winterolympiaden. Erster Austragungsort war 1924 das französische Chamonix.
Von 22 Spielen wurden bis heute 11 in den Alpen ausgetragen, die stets mit staatlich geförderten Großprojekten verbunden waren. Als Grenoble 1968 Gastgeber der Winterolympiade wurde, bekam die Stadt im Südwesten Frankreichs Autobahnen, einen Flughafen und einen Bahnhof. Das Olympische Dorf von damals ist heute eine Sozialbausiedlung. Doch die Sportstätten – Bobbahn, Skischanze und Eisstadion – wurden schon kurz nach den Spielen kaum noch genutzt. In diesem Jahr, so hat es der rot-grüne Gemeinderat beschlossen, soll ganz Grenoble in die Feiern zum 50-jährigen Jubiläum der Winterspiele einbezogen werden und sich deren „kulturelles, städtebauliches und soziales Erbe wieder aneignen“.
In seinem Büro im Grenobler Rathaus, einem ebenfalls 1968 entstandenen festungsähnlichen Bau, räumt der für Tourismus und Alpinismus zuständige grüne Stadtrat Pierre Mériaux ein, dass dieses Erbe auch eine Last ist: „Das gilt vor allem für den Sportpalast. Den können wir kaum mit Leben füllen. Und wenn, dann gelingt es nur mit Veranstaltungen, für die der Bau ursprünglich gar nicht gedacht war.“
Könnte Grenoble noch einmal Olympische Spiele ausrichten? „Das ist weder wünschenswert noch möglich“, antwortet der Grünen-Politiker. Denn dem Internationalen Olympischen Komitee (IOC) mangele es an Transparenz bei den Finanzen, internen demokratischen Strukturen und Umweltbewusstsein.
Grenobles vorherige Stadtregierung hatte für 2018 mit den Spielen zwar geliebäugelt, schreckte dann aber vor den Anforderungen des IOC zurück. Ein Verantwortlicher für die damalige Bewerbung, der anonym bleiben will, sagt heute: „Eine Stadt wie Grenoble (450 000 Einwohner) war schon damals zu klein. Die Anforderungen des IOC
an Infrastruktur und Unterbringung waren völlig verrückt. Das ist nur etwas für Regionen, die volle staatliche Unterstützung bekommen. Oder für sehr große Metropolregionen.“ Tatsächlich sind die Winterspiele immer größer geworden: 1968 nahmen 1158 Sportlerinnen und Sportler an 35 Wettbewerben teil. Dieses Jahr werden in Pyeongchang über 3000 Athleten in 102 Wettbewerben antreten.
Vincent Neirinck von der Naturschutzorganisation Mountain Wilderness kritisiert, dass die Winterspiele von den natürlichen Gegebenheiten der Bergwelt völlig losgelöst werden. „Winterspiele geben den Veranstaltern die Gelegenheit, viel Geld in Anlagen zu stecken, die danach niemand mehr braucht.“ So sei es auch 2006 in Turin gelaufen. „Möglichst gigantisch und künstlich soll es sein. Heute gibt es nur noch normierte Pisten und Kunstschnee, damit sämtliche Bedingungen für alle Skifahrer gleich sind“, sagt Neirinck.
In Sotschi erreichte der unrentable und umweltschädliche Olympiawahn 2014 seinen vorläufigen Höhepunkt.1 Mit 36 Milliarden Euro waren es die bislang teuersten Olympischen Spiele überhaupt, 4,6 Milliarden Euro kostete allein die Organisation.2 Zudem wurden sie vom Verdacht auf Korruption und Dopingfälle überschattet. Vincent Neirinck träumt von Alpen ohne Olympische Spiele, „damit die Berge ihre natürlichen, aber auch kulturell und historisch gewachsenen Eigenheiten bewahren“.
Albertville liegt im Département Savoyen am Eingang des Tarentaise-Tals, das Europas größtes Skigebiet beherbergt. 350 000 Gästebetten, 53 500 Einwohner. Ende 2017 feierte die Stadt das 25. Jubiläum der Olympischen Winterspiele von 1992. Claire Grangé, damals Mitglied im Organisationskomitee, leitet heute das „Haus der Olympischen Spiele von Albertville“ und schwelgt in Erinnerungen: „Unseren Erfolg verdankten wir drei Ideen, die damals innovativ waren und heute selbstverständlich sind: Erstens Aufbau temporärer Sportanlagen und Wiederinbetriebnahme stillgelegter Sportstätten; zweitens soll der Sportler im Mittelpunkt stehen, und drittens muss die gesamte Region davon profitieren, damit sich die Bevölkerung mit den Spielen identifizieren kann.“
Tatsächlich werden die Eisbahn in Pralognan, die Skischanzen von Courchevel und die Bobbahn von La Plagne heute noch genutzt, allerdings muss das Département jährlich 110 000 Euro für die Bobbahn und 150 000 Euro für die Skischanzen zuschießen.
Ohne die Olympischen Spiele wäre die Region Savoyen längst nicht so bekannt und hätte 15 Jahre länger gebraucht, um eine vergleichbare touristische Infrastruktur aufzubauen, behauptet Grangé, die ebenfalls der Meinung ist, dass die Alpen heute keine Olympischen Spiele mehr brauchen – im Gegensatz zu den „Schwellenländern, die mittlerweile die Spiele ausrichten“. Tatsächlich hegt die Wintersportindustrie in diesen Ländern und insbesondere in Asien große Wachstumshoffnungen. In den Alpen dagegen ist der Wintersportmarkt gesättigt; in den vergangenen zehn Jahren stagnierte der Verkauf von Skipässen und nahm teilweise sogar ab.3
In Lausanne thront die IOC-Zentrale über dem Genfer See. Das Wasser ist grau, der See rau an diesem Dezembertag, die nahen Alpen bleiben hinter dicken Wolken verborgen. Die Korruptionsermittlungen auch gegen IOC-Funktionäre im Zusammenhang mit den Sommerspielen von Rio 2016 und Tokio 2020, der Dopingskandal um russische Sportler und das Chaos um europäische Olympiakandidaturen haben die Organisation erschüttert. Nach Widerständen aus der Bevölkerung haben auch Hamburg und Budapest darauf verzichtet, sich für die Sommerspiele 2024 zu bewerben.
Im September 2017 wurden auf dem IOC-Kongress in Lima die Sommerspiele an Paris (2024) und Los Angeles (2028) vergeben – beide waren die jeweils einzig verbliebenen Bewerber –, und IOC-Präsident Thomas Bach verkündete in demonstrativer Demut, dass sich die olympische Bewegung keinesfalls auf ihren Lorbeeren ausruhen werde.
Mit der sogenannten Agenda 2020 werde man sich vielmehr für einen „positiven Wandel“ einsetzen. Zu den 40 Empfehlungen der Agenda zählen eine „neue Philosophie“ bei der Kandidatenkür, eine „Kostensenkung“ – insbesondere mithilfe eines „beträchtlichen finanziellen IOC-Beitrags“ – sowie die „Konsolidierung und Anwendung ethischer Good-Governance-Prinzipien“. Dabei ist allgemein bekannt, dass das IOC gegen diese schönen Prinzipien regelmäßig selbst verstößt.4
Im Oktober 2017 wurden die Agendaregeln für die Kandidatenkür zu den Winterspielen 2026 im Schnellverfahren festgelegt.5 „Das Produkt Olympische Spiele musste flexibilisiert werden, damit es einfacher und überall möglich wird, Spiele auszurichten“, erklärt IOC-Exekutivdirektor Christophe Dubi: „Wir haben den Vergabeprozess und den Anforderungskatalog reformiert. Das ist ein echter Wandel. Es gibt nun nicht mehr nur eine einzige Version der Spiele.“
Auf der einen Seite habe man es mit Regionen zu tun, in denen zuerst einmal eine Infrastruktur geschaffen werden müsse, erklärt Dubi. „Und dann gibt es Orte, wie zum Beispiel die Alpen, die diese Infrastruktur bereits besitzen und deshalb Großveranstaltungen zu geringeren Kosten ausrichten können. Wir wollen, dass eine Stadt die Spiele nutzt – nicht dass die Spiele eine Stadt benutzen.“ Außerdem wolle man zukünftig nur noch Orte mit einer gewissen Sporttradition in Betracht ziehen und gemeinsam mit den Bewerbern an einer „Kokonstruktion“ feilen, um Umfang und Kosten der Spiele zu reduzieren, kündigt Dubi an. So soll etwa die Zahl der Zuschauer und Fernsehleute begrenzt werden, ebenso wie die Größe des Organisationskomitees.
Das weiße Gold glänzt nicht mehr
Bei den anstehenden Winterspielen von Pyeongchang ist man allerdings noch weit entfernt von diesem „neuen Modell“. Das operationelle Budget, das zunächst auf 1,5 Milliarden Euro veranschlagt worden war, wird letztlich bei über 2 Milliarden Euro liegen. Pyeongchan liefert damit ein weiteres Beispiel für ein Phänomen, das der Wirtschaftswissenschaftler Wladimir Andreff als „Fluch des Gewinners“ beim olympischen Überbietungswettkampf bezeichnet.6
Im Fall von Pyeongchan musste die Stadt noch einmal 8 Milliarden Euro in die Infrastruktur, vor allem in das Eisenbahnnetz, investieren. Die Winterspiele in Südkorea könnten nach Sotschi die zweitteuersten der Geschichte werden.
Die Südkoreaner hätten die Empfehlungen des IOC ignoriert, meint Dubi: „Das ist nicht das, was wir in Zukunft anstreben. Sie wollten unbedingt neue Stadien und Eissportanlagen bauen.“ Er gehe fest davon aus, dass die nächsten Winterspiele nicht so teuer werden, sagt der IOC-Funktionär. Doch ist es wirklich vorstellbar, dass sich Peking an sein offiziell veranschlagtes Olympia-Budget von 3 Milliarden Euro (davon 1,5 Milliarden operationelles Budget) halten wird?
Allein die Tatsache, dass zum ersten Mal ein früherer Sommerspiele-Ort nur ein paar Jahre später Winterspiele ausrichten kann, zeigt, dass man sich längst von der natürlichen Berglandschaft verabschiedet hat. Einige Wettbewerbe sollen direkt in der Megacity Peking ausgetragen werden, und die Skiwettkämpfe in relativ niedrigen Regionen mit wenig Schneefall. Die Pisten, die noch planiert werden müssen, laufen teilweise quer durch gefährdete Naturräume. Außerdem kann man diese Rennstrecken nur künstlich beschneien, was riesige Mengen Wasser und Energie verschlingen wird.
Für die übernächsten Winterspiele im Jahr 2026 ist als letzter Bewerber aus den Alpen nur noch die Schweizer Kleinstadt Sitten übrig geblieben. Sie liegt im Kanton Wallis etwa 500 Meter über dem Meeresspiegel zwischen den Wintersportorten Verbier und Crans Montana. In Sittens Olympiabewerbung sind bereits existierende Sportstätten anderer Kantone integriert. Das Nationale Olympische Komitee der Schweiz hat die Bewerbung in die Hand genommen. Das operationelle Budget wird auf 1,7 Milliarden Euro geschätzt, hinzu kommen 85 Millionen für die Infrastruktur und 255 Millionen für die Sicherheit.
Wenn Sitten den Zuschlag bekommt, hieße das, dass das Budget seit 2002 (Salt Lake City) zum ersten Mal nicht steigen würde. Frédéric Favre, in der Kantonsregierung Wallis zuständig für Sicherheit, Institutionen und Sport, ist sich da ganz sicher. Die Schweiz sei der glaubwürdigste Kandidat, um die IOC-Agenda 2020 umzusetzen. „Wir wollen die Spiele der Zukunft. Wir werden fast keine spezielle neue Infrastruktur und überhaupt keine Gästehäuser bauen.“ Doch in der Stadt gibt es viele, die von der Bewerbungsidee weniger begeistert sind.
Dionys Fumeaux zum Beispiel, Abgeordneter der Demokratischen Zentrumspartei im Sittener Stadtrat. Er ist zwar nicht prinzipiell gegen die Winterspiele, aber nur „zu unseren Bedingungen, und ohne das ganze Tal völlig umzukrempeln. Und die Leute, die sich darum kümmern, dürfen sich nicht nur von Geld und Glamour leiten lassen.“ Auch Philippe Varone, der Bürgermeister, spricht sich für die Spiele aus, aber nur wenn „wir dadurch mit unseren Vorhaben schneller vorankommen. Das IOC sieht das genauso und sagt uns: ‚Fasst zusammen, vereinfacht, spart.‘ Sollte das IOC von diesem Kurs abweichen, steigen wir wieder aus.“
Die Schweizer Bundesregierung in Bern ist bereit, 850 Millionen Euro beizusteuern, sollten die Spiele in Sitten stattfinden. Das IOC will 770 Millionen Euro investieren. Christophe Clivaz, Grünen-Stadtrat in Sitten und Professor am Institut für Geografie und Nachhaltigkeit in Lausanne7 , ist der Meinung, dass die Kandidatur seiner Heimatstadt „das falsche Signal zum falschen Zeitpunkt ist“. Die Olympiabewerbung bedeute, dass man weiterhin nur auf Ski und Wintersport setze, kritisiert Clivaz. „Dabei muss man jetzt anfangen zu diversifizieren.“
In den Alpen werde immer weniger Ski gefahren, hinzu kämen die in dieser Region besonders spürbaren Folgen der Erderwärmung. Beides sollte nach Meinung Clivaz’ doch eher dazu führen, das Verhältnis zu den Bergen zu überdenken und „das Modell zu wechseln“. Olympische Winterspiele stünden für das alte Modell des weißen Goldes – allerdings zu einem hohen Preis und zulasten eines bereits stark erschlossenen Gebirges. „Der Vertrauensverlust des IOC ist riesig. Den Traum von Olympia gibt es nicht mehr. Er droht vielmehr zum Albtraum zu werden“, sagt der Stadtrat. Im kommenden Juni werden die Walliser über ihre Olympiabewerbung für 2026 abstimmen.
1 Siehe auch Guillaume Pitron, „Der olympische Fluch“, Le Monde diplomatique, Februar 2014.
3 Quelle: Domaines skiables de France.
Aus dem Französischen von Christian Siepmann
François Carrel ist Journalist.