Mit den Kurden, gegen die Kurden
Erdoğans Kurdenpolitik schwankt seit Jahren zwischen den Extremen. In der Türkei werden nach einer Phase der Verständigung heute wieder tausende Kurden verfolgt. Die Kooperation mit Irakisch-Kurdistan ist vorbei. Und in Syrien rächt sich jetzt die Ächtung der PKK-nahen kurdischen Milizen.
von Günter Seufert
Am 13. Dezember 2017 machte das türkische Parlament deutlich, dass es sich fortan für die Lösung der Kurdenfrage nicht mehr zuständig fühlt. Die Abgeordneten der alleinregierenden Gerechtigkeits- und Entwicklungspartei (AKP) schlossen Osman Baydemir, den Exbürgermeister der türkisch-kurdischen Großstadt Diyarbakır, von zwei Sitzungen des Hohen Hauses aus. Zudem kassierten sie zwei Drittel seiner monatlichen Bezüge.
Der Grund: Der Repräsentant der prokurdischen Demokratischen Partei der Völker (HDP) hatte in seiner Rede vor der Großen Türkischen Nationalversammlung das Wort „Kurdistan“ benutzt und sich als „Abgeordneter aus Kurdistan“ bezeichnet. „Wo liegt Kurdistan?“, fragte ihn daraufhin ironisch die Parlamentspräsidentin und AKP-Abgeordnete Ayşe Nur Bahçekapılı.
Die Bestrafung Baydemirs wird durch eine Änderung der Parlamentsstatuten ermöglicht, die von der AKP im Juli 2017 mithilfe der Stimmen der rechtsextremen MHP (Partei der Nationalistischen Bewegung) durchgesetzt wurde. Der HDP-Abgeordnete ist ihr erstes Opfer. Fortan werden Wörter und Wendungen unter Strafe gestellt, die wie „Kurdistan“ dem „Verwaltungsaufbau der Republik“ und den „offiziellen Siedlungsnamen“ widersprechen. Bestraft wird aber auch, wer „die Geschichte der türkischen Nation verleumdet und beleidigt“, was auf den „Völkermord an den Armeniern“ abzielt.
So schafft das Parlament seine eigenen Tabus. Sei es, weil man glaubt, dass nicht existiert, was man nicht benennt; sei es, weil man der Meinung ist, solche Tabuthemen müssten der Regierung vorbehalten bleiben.
Bei der Kurdenfrage gelten beide Gründe gleichermaßen. Kritische Stimmen sollen selbst im Parlament mundtot gemacht werden. Die Kurdenfrage wird erneut verleugnet, mit Terrorismus gleichgesetzt und ausschließlich als Sicherheitsproblem definiert. Das gilt nicht nur für die Kurden in der Türkei, wo Erdoğan im April 2015 die Verhandlungen mit der verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) einseitig abgebrochen hat. Es gilt auch für die Kurden Syriens, deren Selbstverwaltung (Rojava) als „Terrorkorridor“ gebrandmarkt wird. Und es gilt abgeschwächt für die Kurden des Irak, die Ankara nach Jahren engster Kooperation erneut als Sicherheitsbedrohung einstuft.
Dabei hatte sich vor 2015 kein anderer türkischer Politiker für eine friedliche Lösung der Kurdenfrage so weit aus dem Fenster gelehnt wie Erdoğan. Als Bürgermeister von Istanbul befürwortete er 1991 einen Bericht seiner damaligen Partei (RP), der aufzeigte, dass die östlichen und südöstlichen Provinzen der Türkei im Osmanischen Reich wie in den ersten Jahren der Republik als „Kurdistan“ bezeichnet wurden. In dem RP-Dokument wurde eine eigene „nationale Identität“ und Sprache der Kurden anerkannt und beklagt, dass die Kurden jahrzehntelang unter „Ausnahmezustandsrecht“ leben und „Staatsterror“ erdulden mussten. Um den Konflikt zu lösen, wurde unter anderem die Einführung von Schulunterricht auf Kurdisch und die Gründung „lokaler Parlamente“ vorgeschlagen.1
In seiner Amtszeit als Ministerpräsident (2003–2014) hat Erdoğan gleich mehrmals Verhandlungen mit der PKK angestoßen. Seit 1984, dem Beginn der PKK-Anschläge, hat der Konflikt nach amtlichen Angaben mehr als 40 000 Todesopfer – in der Mehrzahl Kurden – gefordert.2 2005 räumte Erdoğan in einer historischen Rede in Diyarbakir ein, dass der Staat in seiner Kurdenpolitik Fehler gemacht habe. 2009 begannen die ersten verdeckten Gespräche mit der PKK. 2012 kam es in Oslo zu mehreren Treffen mit dem türkischen Geheimdienst und 2013 begann schließlich die offizielle Verhandlungsrunde, die rund zwei Jahre andauerte.
Parallel zur innenpolitischen Liberalisierung vollzog sich seit 2003 – also seit dem Sturz Saddam Husseins – eine zunächst wirtschaftliche und später auch politische Annäherung der Türkei an die Kurdische Regionalregierung im Nordirak (KRG). Im Bereich der KRG hatte sich das Pro-Kopf-Einkommen zwischen 2004 und 2011 von etwa 300 auf 4500 US-Dollar erhöht. Die traditionelle türkische Politik, jede Form kurdischer Staatlichkeit im Nahen Osten als Casus Belli zu betrachten, hatte sich angesichts des Interesses der USA an Kurdistan-Irak als wirkungslos erwiesen. Zudem verhinderte sie ein ökonomisches Engagement der Türkei in einer vielversprechenden Nachbarregion.
Im März 2009 nahm Staatspräsident Abdullah Gül erstmals offiziell das Wort Irakisch-Kurdistan in den Mund. Bald darauf kamen Nahrungsmittel und Bekleidung zu 80 Prozent aus der Türkei, und schon 2011 stammten 60 Prozent aller ausländischen Firmen, die sich im kurdischen Nordirak registrieren ließen, aus dem Nachbarstaat. Türkische Hoch- und Tiefbauunternehmen stampften in der Hauptstadt Erbil ganze Stadtteile aus dem Boden.3 2014 war die Türkei nach den Vereinigten Arabischen Emiraten zweitgrößter Investor in Irakisch-Kurdistan.
Gute Geschäfte mit Irakisch-Kurdistan
Von der ökonomischen Verflechtung profitierten vor allem die schwachen Regionen im Osten und Südosten der Türkei. Der Irak wurde drittgrößter Außenhandelspartner der Türkei, wobei 70 Prozent des Warenaustauschs für Kurdistan bestimmt waren. In Ankara und Erbil begann man bereits von einer Komplementarität beider Volkswirtschaften zu sprechen: Kurdistan war in der Lage, die türkischen Industriegüter mit Erdöllieferungen zu bezahlen, die die rohstoffarme Türkei dringend brauchte. Den Höhepunkt der energiepolitischen Zusammenarbeit bildete 2013 die Unterzeichnung eines Pakets von Vereinbarungen, das unter anderem den Bau einer Öl- und einer Erdgaspipeline aus Irakisch-Kurdistan in die Türkei vorsah.4
Im Januar 2014 floss das erste kurdische Erdöl durch die neue Pipeline von Kirkuk zum türkischen Mittelmeerhafen Ceyhan, und zwar zunächst in Übereinstimmung mit dem irakischen Erdölministerium. Doch nachdem kurdische Peschmerga am 12. Juni 2014 Kirkuk vom IS befreit und eingenommen hatten, exportierte die KRG auf eigene Rechnung. Die Zentralregierung in Bagdad protestierte vergeblich gegen diesen Schritt, der erstmals die Perspektive eröffnete, dass Irakisch-Kurdistan auch ohne Bagdad wirtschaftlich überleben könnte, was in Erbil die Diskussion über die Unabhängigkeit befeuerte.
Ankara reagierte auf diese Entwicklung so gelassen, dass sich die Iraker wie die Iraner stark beunruhigt zeigten. Im Juni 2014 äußerte der türkische Regierungssprecher Hüseyin Çelik, im Falle eines Scheiterns des Irak als Staat könne die Türkei die Unabhängigkeit Kurdistans anerkennen. Und ein Jahr später erklärte Erdoğan den Fall zur ausschließlich inneren Angelegenheit des Nachbarlands.
Erdoğan betrachtete Masud Barzani, den damaligen Präsidenten der Autonomen Region Irakisch-Kurdistan, als Gegengewicht zur PKK, weshalb er ihn entsprechend hofierte. 2013 legalisierte die Türkei die jahrzehntelang verbotene Demokratische Partei Kurdistans – Türkei, einen Ableger von Barzanis Demokratischer Partei Kurdistans (KDP), und Barzani wurde von Erdoğan nach Diyarbakır eingeladen. Dies war ein wahltaktischer Schachzug des türkischen Regierungschefs, der kurdische Stimmen für die AKP gewinnen wollte.
Die Kooperation von Barzani und Erdoğan war auch auf Syrien gerichtet, und zwar nicht nur gegen Assad, sondern auch gegen die Partei der Demokratischen Union (PYD), die unter den Kurden Syriens militärisch dominant, aber auch eng mit der PKK verbunden ist. Im Oktober 2011 war in Erbil mit türkischer Unterstützung der Kurdische Nationalrat (KNK) gegründet worden, ein Bündnis von 14 syrisch-kurdischen Parteien, das als Gegenspieler zur PYD fungieren sollte.
Zudem sperrte Barzani, um die von der PYD getragene Selbstverwaltung in Syrien zu schwächen, immer wieder die Grenzen zwischen der Autonomen Region Kurdistan und den von den syrischen Kurden gehaltenen Gebieten. Ankara zeigte sich mit einer Gegenleistung erkenntlich: Zwischen 2013 und 2017 bildete die türkische Armee Peschmerga-Einheiten aus, die der KDP unterstehen (viele der kurdischen Kämpfer hören auf das Kommando einer politischen Partei).
Ende Februar 2017 besuchte Barzani die Türkei und wurde dort mit allen Ehren empfangen. Als die türkischen Nationalisten kritisierten, dass bei diesem Staatsbesuch neben der irakischen auch die kurdische Fahne gehisst wurde, antwortete Ministerpräsident Binali Yıldırım, die Autonome Region Kurdistan werde nicht nur vom irakischen Zentralstaat sowie auf internationaler Ebene anerkannt, sondern sei zurzeit auch „unser wichtigster Verbündeter gegen die PKK im Irak“.
Am 7. Juni 2017 verkündeten dann Barzanis KDP und andere kurdische Parteien, man werde am 25. September ein Referendum über die Unabhängigkeit der Autonomen Region von Bagdad durchführen. Schlagartig kamen aus der Türkei andere Töne. Die extremen Nationalisten der MHP, inzwischen Anhängsel und Mehrheitsbeschaffer der AKP, degradierten Barzani zu einem „Stammeshäuptling“, dem man seine Grenzen aufzeigen müsse. MHP-Chef Bahçeli riet dem KDP-Führer, sich an das Schicksal seines Großvaters Muhammad Barzani zu erinnern, den die osmanische Obrigkeit 1917 nach einem Aufstand hingerichtet hatte. 5000 Mitglieder der MHP-Jugendorganisation seien bereit, nach Kirkuk zu ziehen und die Stadt mit Waffengewalt von den Kurden zu säubern, und wenn die Zeit reif sei, könne niemand die Türkei daran hindern, Kirkuk und Mossul zu ihrer 82. und 83. Provinz zu machen.
Auch Erdoğan hatte wenige Tage zuvor ein Recht der Türkei auf die Annexion der beiden irakischen Provinzen reklamiert, indem er auf „historische Dokumente“ verwies, die man „jederzeit hervorholen könnte“. Er drohte Barzani mit der Schließung der Ölexport-Pipeline, ja sogar mit militärischem Eingreifen und einer Einstellung des Handelsverkehrs, der die Kurden aushungern würde.
Der mehrheitlich säkulare Verband der türkischen Anwaltskammern erklärte, das Referendum entbehre jeder rechtlichen Grundlage, keine Regierung dürfe die traditionell antikurdische Politik der Republik missachten. Die Istanbuler Rechtsanwaltskammer stieß ins selbe Horn und bezeichnete das Referendum als Teil imperialistischer Machenschaften, die unter Führung der USA auf die Untergrabung der Nationalstaaten zielten.
Neben der Türkei waren auch Iran und natürlich die irakische Zentralregierung entschieden gegen das Referendum. Für Iran hätte ein unabhängiges Kurdistan drei Nachteile: Die wirtschaftliche und politische Ausrichtung der irakischen Kurden auf die Türkei wäre ebenso zementiert worden wie der Einfluss der USA im Nordirak. Zudem hätte sich dort Israels Präsenz noch verstärkt, also des Staats, der als Einziger das Referendum und die daraus entspringende Unabhängigkeit von Irakisch-Kurdistan begrüßt hatte.5
Gegen die Wand in Syrien
Die Türkei hat sich dagegen mit der bedingungslosen Ablehnung des Referendums ins eigene Fleisch geschnitten. Zwar hat die internationale Front gegen das Referendum verhindert, dass die Zustimmung von 93 Prozent der irakischen Kurden die gewünschten praktischen Folgen hatte. Ganz im Gegenteil: Mitte Oktober besetzte die irakische Zentralregierung fast alle Gebiete, die seit Gründung der Autonomen Region Kurdistan zwischen Erbil und Bagdad umstritten waren und der Verwaltung von Erbil unterstanden. Seitdem tut die Bagdader Regierung alles, um die Autonomie der Region zu untergraben und die Kurden finanziell zu strangulieren.
Doch diese Entwicklung geht auch zu Lasten der Türkei: Am 17. Oktober besetzten irakische Truppen die erdölreiche Region Kirkuk, die materielle Basis der Energiesymbiose zwischen Erbil und Ankara. Und am 9. Dezember gab der irakische Ölminister Jabbar al-Luaibi bekannt, dass bis zu 45 Prozent des bislang von Kirkuk aus in die Türkei gepumpten Öls künftig ins iranische Kermanschah fließen wird. Das Nachsehen hat die Türkei.6
Der türkische Einfluss im irakischen Kurdistan ist ebenfalls drastisch zurückgegangen. Ankara hatte dank des strategischen Bündnisses mit Barzanis KDP und dessen weitverzweigtem und reichen Clan die dominierende politische Kraft Kurdistans als Partner gewonnen. Jetzt ist die KDP geschwächt, und davon profitieren ihre innenpolitischen Konkurrenten: die Patriotische Union Kurdistans (PUK), die sich an Iran anlehnt, und die Reformbewegung Gorran, die die Abstimmung boykottiert hatte.
Auch im pankurdischen Wettbewerb um die Meinungsführerschaft hat die KDP seit dem Scheitern von Barzanis Strategie an Boden verloren. Dagegen hat eine Gruppierung an Prestige gewonnen, die dem Referendum von Anfang an skeptisch gegenüberstand – die „türkische“ PKK. Gestiegen ist auch der iranische Einfluss in Kurdistan, nachdem Teheran bereits in Bagdad tonangebend ist. All dies steht quer zu den Interessen Ankaras und Erdoğans.
Wenn die Türken im Irak zu den Verlierern gehören, könnten sie sich zumindest damit trösten, dass sie nicht die Einzigen sind. Auch die USA und europäische Staaten wie Großbritannien und Deutschland haben das Unabhängigkeitsreferendum abgelehnt und ebenfalls darauf verzichtet, von Bagdad die logische Gegenleistung zu verlangen, nämlich Garantien für die Stabilität der Kurdenregion und den Erhalt ihrer Autonomie. Deshalb müssen jetzt auch diese westlichen Akteure mitansehen, wie Kurdistan, die bislang sicherste Region im Irak, im Chaos zu versinken droht und der Einfluss Teherans weiter anwächst.
Noch problematischer sieht es für die Türkei in Syrien aus. Dort konnte Ankara nicht verhindern, dass die PKK-nahe Kurdenpartei PYD den Norden Syriens beherrscht. Das liegt vor allem daran, dass sich die Türkei mit ihrer Haltung zur PYD isoliert hat. Die USA, ihr traditioneller Verbündeter, haben die PYD-Milizen für ihren Kampf gegen den IS zu einer schlagkräftigen Armee geformt. Aus der Guerillatruppe, die unter Anleitung der PKK in Syrien entstand, ist eine quasireguläre Streitmacht erwachsen, die in der Lage ist, Fronten aufzubauen und zu halten, mit den Luftwaffen anderer Länder zu kooperieren, komplexe Logistik zu bewältigen und modernste Kommunikations- und Waffentechnik zu nutzen.7
Die türkische Führung hat die USA vergeblich gebeten, sie sollten statt auf die kurdischen Milizen auf die Freie Syrische Armee (FSA) setzen. Dieses arabische Milizenbündnis wurde einst vom türkischen Militär aufgebaut, ist heute jedoch ausgedünnt, weil viele seiner Einheiten zu den Dschihadisten übergelaufen sind. Die Hoffnung Ankaras, Donald Trump werde – anders als Barack Obama – die Kurden fallen lassen, wurde enttäuscht. Und auch die bis vor Kurzem gehegte Erwartung, die USA würden Syrien nach der endgültigen Niederlage des IS vollständig verlassen, wird sich nicht erfüllen.8 Die US-Truppen werden sich dort einrichten, wo sie schon jetzt 11 ihrer 12 Stützpunkte in Syrien haben: in den von Kurden gehaltenen Territorien im Norden.9
Auch auf Erdoğans neuen Partner Russland ist in der Kurdenfrage kein Verlass. Zwar hat sich die Türkei in ihrer Syrienpolitik weitgehend Moskau angenähert, indem sie das Assad-Regime anerkennt und bereit ist, mit ihm zu verhandeln. Das bedeutet aber nicht, dass Moskau in der Kurdenfrage die Position Ankaras übernehmen würde. Russland betrachtet weder die PKK noch ihren Ableger, die syrische PYD, als Terrororganisationen.10 Im Januar 2017 legte Moskau den Entwurf einer Verfassung für das künftige Syrien vor, der eine weitgehende Autonomie für die kurdischen Regionen vorsah. Und im letzten Oktober lud Russland die PYD zu einem Kongress der Völker Syriens ein, der allerdings aufgrund türkischer Proteste verschoben werden musste. Der Kongress soll jetzt am 29. und 30. Januar 2018 stattfinden, und die PYD geht fest davon aus, dass sie zu den Teilnehmern gehören wird.
Gegenüber der PYD hat die Türkei bisher nur einen einzigen Erfolg zu verzeichnen: Sie konnte verhindern, dass der gesamte Norden Syriens von Kurden kontrolliert wird. Am 24. August 2016 war türkisches Militär zusammen mit arabischen Milizen der FSA im Norden von Aleppo auf einer circa 100 Kilometer langen Linie in Syrien eingerückt und hatte die Region zwischen den Städten Dscharabulus im Osten und Azaz im Norden von IS-Truppen befreit. Damit war Ankara der PYD zuvorgekommen, die eine Verbindung zwischen ihren Kantonen Afrin und Kobani herstellen wollte.
Häuserkampf in der Türkei
Dieser „Terrorkorridor“, wie Ankara ihn nannte, konnte jedoch nur in Absprache mit Moskau verhindert werden. So sorgten die Russen dafür, dass kein syrisches Kampfflugzeug die türkischen Verbände attackierte. Allerdings musste die Türkei den Plan aufgeben, auch die Nachbarstadt Manbidsch einzunehmen, die bereits in der Hand von gemischt kurdisch-arabischen Milizen war. Hier zeigten die USA demonstrativ Flagge und verhinderten bewaffnete Zusammenstöße.
Am 17. Dezember 2017 hat Erdoğan jedoch erneut damit gedroht, in die nordsyrische Stadt Tall Abyad einzumarschieren. In der regierungsnahen Presse wurde schon früher argumentiert, der Einmarsch könne notfalls auch gegen den Widerstand der USA erfolgen, wie 1974 die türkische Invasion auf Zypern.11
Dabei handelt es sich offenbar aber nur um Säbelrasseln. Die für Ankara überaus bittere Wirklichkeit sieht anders aus. Die syrischen Kurden unter Führung der PYD unterhalten mit den meisten der Kriegsparteien in Syrien möglichst pragmatische Beziehungen: mit Washington und Moskau, mit Damaskus und Teheran und selbst mit Tel Aviv. Für die Türkei würde sich die Lage in Syrien heute völlig anders darstellen, wenn Ankara es vermocht hätte, die eigene Kurdenfrage auf einer Verhandlungsbasis zu lösen und gemeinsame Interessen zu formulieren, wie zu Beginn der Gespräche 2013 vom türkischen Außenminister Ahmet Davutoğlu und PKK-Chef Abdullah Öcalan vorgeschlagen.12
Doch für den türkischen Präsidenten ist der eigene Machterhalt wichtiger als eine Beendigung des Konflikts. Als der AKP im Vorfeld der Wahlen vom Juni 2015 der Verlust der absoluten Mehrheit drohte, beendete Erdoğan die Verhandlungen, um die Stimmen extrem rechtsnationaler Kreise zurückzugewinnen. Die Rechnung ging auf. Bei der Wiederholung der Wahl erreichte die AKP im November 2015 erneut die absolute Mehrheit. Ein zweiter Grund war der kurdische Machtzuwachs in Syrien. Die Kontrolle des syrischen Nordens durch die mit der PKK verbundene PYD bietet der PKK ein Ausweichfeld und macht die Möglichkeit zunichte, sie jemals vollständig zu entwaffnen.
Als die türkische Regierung eine Verhaftungswelle anordnete, beschloss die PKK am 11. Juli 2015 wieder zu den Waffen zu greifen. Dahinter stand offenbar das Kalkül, das türkische Militär nach Möglichkeit in der Türkei zu binden, um einen Angriff der Türkei auf die Kurden in Syrien auszuschließen. In der Folge trug die PKK den Krieg erstmals in die Städte des türkischen Südostens und mobilisierte ihre Jugendorganisationen, die sie im großen Stil mit Waffen ausgerüstet hatte.
Das Ergebnis war ein Häuserkampf, bei dem die türkische Seite neben Spezialeinheiten auch schwerste Waffen einsetzte. Das Altstadtviertel Sur von Diyarbakır und die Grenzstadt Nusaybin wurden nahezu dem Erdboden gleichgemacht.13 Auch in anderen kurdischen Städten war die Zerstörung so groß, dass man sich an Syrien erinnert fühlt. Etwa 300 000 Einwohner mussten ihre Heimatorte verlassen.
Nachdem das türkische Militär die PKK aus den Städten vertrieben hatte, startete es im September 2016 einen nie dagewesenen Drohnenkrieg gegen die PKK, bei dem innerhalb eines Jahres 600 kurdische Kämpfer getötet wurden.14 Bewaffnete Drohnen, die aus der Fabrik von Erdoğans Schwiegersohn Selçuk Bayraktar stammen, werden heute nicht nur vom Militär eingesetzt, sondern auch von Polizeieinheiten, die dem Innenministerium unterstehen. Dabei gibt es für ihren Einsatz keine für alle Einheiten verbindlichen Regelungen, und eine gesellschaftliche Diskussion über die völkerrechtliche Legitimität des neuen Kampfmittels findet nicht statt. Als Antwort auf den massenhaften Drohneneinsatz ließ die PKK ihre inoffizielle Stellvertretermiliz von der Leine. Mitglieder der „Freiheitsfalken Kurdistans“ begingen Selbstmordattentate im Stile des IS, zum Beispiel das Attentat vom 11. Dezember 2016 in Istanbul, bei dem 45 Personen getötet wurden.
Die ungehemmte staatliche Gewalt und die Gewalt der PKK schaukeln sich also gegenseitig hoch. Gleichzeitig sind alle Kanäle für eine friedliche Lösung des Kurdenproblems hoffnungslos blockiert. 5 der 59 Abgeordneten der prokurdischen Demokratischen Partei der Völker (HDP) wurde ihr Mandat aberkannt. 15 HDP-Parlamentarier wurden vorübergehend verhaftet, 9 von ihnen, darunter die beiden Parteivorsitzenden und die Fraktionsvorsitzende, sitzen in Untersuchungshaft. Die Staatsanwaltschaft fordert für sie Gefängnisstrafen von bis zu 486 Jahren. Das türkische Antiterrorstrafrecht erlaubt ein solches Strafmaß auch dann, wenn die Angeklagten weder Gewalt ausgeübt noch dazu aufgerufen haben.
In 94 der insgesamt 102 Kommunen und Landkreise wurden die Bürgermeister und Stadträte der prokurdischen Regionalpartei DBP ihrer Ämter enthoben und durch Zwangsverwalter ersetzt. 81 Bürgermeister und Stadträte befinden sich in Haft. Tausende Mitarbeiter wurden entlassen, rund 6000 sitzen im Gefängnis.
Das jüngste Verbot, im Parlament von „Kurdistan“ zu sprechen, ist die konsequente Fortsetzung dieser Linie. Doch Erdoğan steht vor einem Dilemma: Da seine Zustimmungsraten sinken, ist er erneut bemüht, Anhänger unter den türkischen Kurden zu gewinnen, und Außenminister Çavusoğlu sprach vor Kurzem gar von einer möglichen Wiederaufnahme der Verhandlungen mit der PKK. Doch die türkische Eskalationspolitik im eigenen Land, die Reaktion auf das Referendum im irakischen Kurdistan und das Bemühen, die Selbstverwaltung der syrischen Kurden zu untergraben, machen einen Neustart unwahrscheinlich.
2 So im April 2015 der damalige Finanzminister Mehmet Simsek, siehe Radikal, 1. April 2015.
3 Alle Angaben nach Nimep Insight 2011, Tufts University.
7 Metin Gurcan, „The Rojava Effect: the PKK before and after Rojava“, Jane’s, 7. September 2017.
8 Siehe Fehim Tastekin, „Syrian Kurds move closer to Russia“, Al Monitor, 7. Dezember 2017.
11 Zum Beispiel in Milliyet, 4. März 2017.
12 Dazu Günter Seufert, „Erdogan und Öcalan verhandeln“, SWP-Aktuell ,April 2013.
13 Siehe Laura-Maï Gaveriaux, „In den Ruinen von Cizre und Sûr“, Le Monde diplomatique, Juli 2016.
Günter Seufert ist Forscher bei der Stiftung Wissenschaft und Politik.
© Le Monde diplomatique, Berlin