11.01.2018

Mit uns wird es nur langsam schlimmer

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Mit uns wird es nur langsam schlimmer

Kurzer Abriss der neueren SPD-Geschichte

von Mathias Greffrath

Rachel Whiteread, Holocaust Memorial, Installationsansicht Judenplatz, Wien 2000 © Rachel Whiteread und ­Gagosian Gallery, ­London ©Werner Kaligofsky
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Drei Monate sozialdemokratischer Selbstfindung im Zeitraffer: Sigmar Gabriel warnt vor einem linken Gerechtigkeitsdiskurs, Martin Schulz fordert mehr Antikapitalismus, Olaf Scholz mehr Realismus, Schulz will in die Opposition, Scholz will Neuwahlen. Der Vorsitzende fordert die Urwahl der Parteispitzen, der Generalsekretär warnt vor zu viel Basis. Andrea Nahles kritisiert die Sehnsucht nach der Nische, Michael Naumann empfiehlt der Partei „das Plumeau der großen Koalition“, Matthias Miersch erfindet die Kooperationskoalition, Gabriel dekonstruiert postmoderne Verirrungen und plädiert für Heimatgefühl, Scholz gibt zu Protokoll, dass man mit einem Mindestlohnversprechen von 12 Euro die Wahl hätte gewinnen können, und ist immer noch für Neuwahlen.

Seit ein paar Wochen hört man aus den Vorstandsetagen „Erst das Land, dann die Partei“, und die Strategen versuchen herauszufinden, ob Bürgerversicherung, weniger Bildungsföderalismus, Familiennachzug und ein wenig Reichensteuer die SPD wieder in Richtung 30 Prozent oder weiter in den Abgrund führen, aber noch will die Basis in die Opposition. Die Ex-Juso-Vorsitzende Uekermann stöhnt: „Wir müssen die Frage beantworten: Wofür braucht es die SPD heute noch?“

Die Frage steht seit 1983 im Raum, als der liberale Soziologe Ralf Dahrendorf der SPD schon einen schönen Grabstein setzte: „Wir sind (fast) alle Sozialdemokraten geworden, haben Vorstellungen zur Selbstverständlichkeit werden lassen, die das Thema des sozialdemokratischen Jahrhunderts definieren: Wachstum, Gleichheit, Arbeit, Vernunft, Staat, Internationalismus.“ Aber angesichts der Globalisierung sei der sozialdemokratische Fortschritt nun leider „ein Thema von gestern“.1

Das sozialdemokratische Jahrhundert? Eigentlich war es nur ein gutes Jahrzehnt gewesen. Nach drei krachenden Niederlagen hatte die SPD 1959 ihre Nachkriegsradikalität abgeworfen, die Vergesellschaftung der Montan-Monopole und Großbanken gegen die sichere Teilhabe am stetig wachsenden Wohlstand eingetauscht. Die Garantie für das Privateigentum an den Produktionsmitteln fiel im Godesberger Programm großzügiger aus als im Grundgesetz, die Begrifflichkeiten wurden auf Wählbarkeit durch die gesellschaftliche Mitte getrimmt. Nur 16 Unbeugsame stimmten gegen die Vorstandsvorlagen, und der linke Delegierte Peter von Oertzen warnte davor, die Allianz von Kapitalismus und Demokratie für das letzte Kapitel der Geschichte zu halten: Die Verfasser des Programms „glaubten im Grunde nicht an die Möglichkeit ernsthafter konjunktureller Rückschläge“ und hätten den Kampf gegen die Entfremdung im Kapitalismus aufgegeben. Derlei „philosophische Spekulationen“, so die Antwort vom Vorstandstisch, seien „kalter Kaffee“, denn „wir kennen unseren Weg“.2

Die Rechnung schien aufzugehen, die Stimmung der 1960er Jahre trug die SPD in die Regierung, in den 1970ern modernisierten Sozialdemokraten den Kapitalismus: Sie reformierten das Familienrecht, humanisierten die Psychiatrie, demokratisierten das Bildungswesen, setzten etwas mehr Mitbestimmung durch, bauten die sozialen Dienste aus. In der SPD trafen sich die Interessen der progressiven Mittelschicht und der Lohnabhängigen, das trug ihr 400 000 neue Mitglieder ein. Das Wort vom Rheinischen Kapitalismus ging um die Welt.

Doch mitten im Sozialdemokratischen Jahrzehnt begann die Konjunktur zu kippen, der Ölpreis stieg, weltweit wurden die Banker von der Leine gelassen, und die Grenzen des Wachstums tauchten am Horizont auf. Die Zeit des sozialdemokratischen Schönwetterkonsenses war vorbei. In Deutschland stürzte die FDP den Kanzler Schmidt, nachdem der wirtschaftsliberale Graf Lambsdorff einen Leitfaden zur nationalkapitalistischen Aufrüstung der sozialen Marktwirtschaft für die anstehenden Schlachten auf den Weltmärkten geschrieben hatte: Zähmung der Gewerkschaften, Lohnzurückhaltung, Steuersenkungen und „Selbstverantwortung“ – ein Katalog, den die Kohl-Kabinette in den folgenden Jahrzehnten diskret abarbeiteten.

In den Oppositionsjahren kämpften sich ein paar demokratische Sozialisten in der Partei nach oben. Das Berliner Programm von 1989 befand: „Reparaturen am Kapitalismus genügen nicht“, „eine neue Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft“ sei nötig. Einen Monat nach dem Fall der Mauer war das ein Anachronismus, es folgte ein weiteres Jahrzehnt Deregulierung und Verschlankung des Sozialstaats.

1998 ging eine gespaltene Partei in den Wahlkampf, und das nicht nur wegen der Grünen. Die Parteilinke um Oskar Lafontaine forderte eine Wiederherstellung des Sozialstaats, eine ökologische Modernisierung und eine neue, gerechte Weltwirtschaftsordnung. Alles intellektuell konsensfähig, aber selbst die Theoretiker hatten kein Konzept, wie das in einer globalisierten Weltwirtschaft umgesetzt werden könnte, und mit einer stärkeren Belastung der wohlhabenden Mittelschichten ließen sich keine Wahlen gewinnen. „Sie werden bluten müssen“, hatte der Grünen-Chef Joschka Fischer noch 1997 gesagt – der Satz wurde schnell vergessen.

Erst Hartz IV und dann die große Koalition der Alternativlosigkeit

So gab es zwei Wahlkampfarenen: Der Autokanzler Schröder versprach, „nicht alles anders, aber vieles besser zu machen“, und richtete seinen Wahlkampf auf die neue Mitte aus. Lafontaine band die ewigen Sozialisten und die Modernisierungsverlierer. Die Wahl wurde gewonnen, aber das Bündnis hielt keine vier Monate. Lafontaine wollte die internationalen Finanzmärkte zügeln, ohne deren Umbau soziale Gerechtigkeit nicht herzustellen ist – aber verpatzte es durch Ungeduld. Nachdem Gerhard Schröder ihn öffentlich desavouiert hatte, trat er zurück.

Von da an war die Parteilinke ohne Kopf, und die Parlamentsfraktion übte sich angesichts der knappen Mehrheitsverhältnisse in Loyalität zum Kanzler. Die „gewaltige Umverteilung von oben nach unten“, verkündete Schröders Generalsekretär Olaf Scholz, sei nun abgeschlossen, „demokratischer Sozialismus“ ein Anachronismus. Wirtschaftsminister Wolfgang Clement befand, wachsende Ungleichheit sei ein „Katalysator für individuelle und gesellschaftliche Entfaltungsmöglichkeiten“. Mit Hartz IV und dem „größten Steuersenkungsprogramm der Nachkriegsgeschichte“ stagnierten die Löhne und stiegen die Gewinne; in zehn Jahren verlor die SPD die Hälfte ihrer Wähler und 250 000 Mitglieder, stieg ab zum Juniorpartner in der großen Koalition der Alternativlosigkeit, und links von der SPD entstand die dritte sozialdemokratische Partei.

Im Bundestag sitzen nun vier miteinander koalitionsfähige Parteien, die für soziale Sicherheit, ökologische Nachhaltigkeit, Lebensqualität und europäische Integration eintreten – aber im Kleingedruckten ihrer Programmschriften steht: alles in den Grenzen der Wachstumserfordernisse, der Förderung der Exportindustrie, der Schonung der Mittelschicht – eine „90-prozentige gesellschaftliche Großmitte“ (Wolfgang Streeck). Heute sind wir alle Sozialdemokraten? War’s das endgültig?

Haben wir wirklich gewählt – oder gewürfelt? So fragte Niklas Luhmann schon 1994, nach der letzten Kohl-Wahl, und entwarf im Gedankenspiel eine Parteienordnung für die Zeit nach dem Ende des Traums von der immerwährenden Pros­pe­rität.3 Eigentlich müsste sich einerseits „eine Partei für Industrie und Arbeit bilden“, deren Aufgabe es sei, die Wettbewerbsfähigkeit auf dem globalen Markt zu sichern. Eine solche Partei sei nur „als große Koalition denkbar – ob nun in der Form einer gemeinsamen Regierung oder in der Form von aufgezwungenen Verständigungen“. Also das, was wir seit der Jahrhundertwende haben.

Daraus folge, so Luhmann, die Frage nach den „Möglichkeiten einer politischen Opposition gegen ein solches Regime“. Die nämlich sei nötig, denn es gebe Sorgen genug, „solche, die in den neuen sozialen Bewegungen zum Ausdruck kommen, Sorgen um Technikfolgen oder ökologische Probleme oder Sorgen, die mit Migrationsproblemen, mit zunehmender Gewaltbereitschaft, mit Ghettobildung in den Städten zu tun haben“. Es gehöre nicht viel Fantasie dazu, sich vorzustellen, „dass diese Probleme in absehbarer Zukunft an Dringlichkeit zunehmen werden“, und zwar in einer Größenordnung, gegen die alle Interessenkonflikte der bürgerlichen Epoche trivial seien, und mit der uns „fundamentalistische Strömungen verschiedenster Herkunft ins Haus stehen“.4

Luhmann sah die Notwendigkeit einer „organisatorisch gefestigten Mitgliederpartei“, die ihre Politik an der Blaupause einer, wenn schon nicht postkapitalistischen, so doch zukunftsfähigen Gesellschaft ausrichtet. Er war pessimistisch, was ihre Entstehung angeht: „Wenn es uns weiterhin so gut gehen wird wie bisher“, werde aus diesem Ansatz wohl kaum eine Oppositionspartei entstehen, „die in der Lage wäre, ein Alternativprogramm zu entwickeln, das das gesamte Spektrum der jeweils notwendigen politischen Entscheidungen abdecken könnte“. Die Polarisierung zwischen einer großen Koalition der Weitermacher und Wachstumsfetischisten und einer Partei der die Zukunft gestaltenden Vernunft ist sicher eines von Luhmanns einleuchtenden, dabei abstrakten Gedankenspiele, aber es verweist auch auf das Integrationsproblem der SPD, in der sich Peter Glotz lange Jahre beim Versuch aufrieb, die Partei für die neuen sozialen Bewegungen zu öffnen und die sozialen Aktivisten von der Notwendigkeit parlamentarischer Politik zu überzeugen.5

Die demoskopische SPD-Euphorie zum Jahresbeginn 2017 war ein Symptom für den Wunsch nach einer solchen Partei. Die großkoalitionären Aktivitäten von Schulz in Straßburg, seine Unterstützung des Schäuble’schen Austeritätsdiktats gegen Griechenland dürften nicht der Grund gewesen sein. Eher schon sein dröhnendes Gerechtigkeitspathos und die Ansage, es gehe nun um „eine grundsätzliche Entscheidung darüber, in welcher Gesellschaft wir leben wollen“.

Was dann im „Regierungsprogramm 2017“ folgte, war allerdings keine große Antwort auf die großen Herausforderungen Erderwärmung, Automatisierung, Internetmonopole, Digitalisierung, Migration, Pflegenotstand, Europazerfall, Verteilungsunrecht, sondern ein Gemischtwarenangebot, von allen nur denkbaren Interessengruppen und Arbeitsgemeinschaften zusammengeklebt: noch bessere Schulen, noch bessere Pflege, bezahlbare Mieten, Zahnersatz für alle. Und weiter und widersprüchlich: Ausbau der Fernbusnetze, aber auch der Bahn und der Radwege, konventionelle und biologische Landwirtschaft, tierfreundliche Massentierhaltung. Bizarr auch das vollmundige Bekenntnis zum Asylrecht auf europäischem Boden – bei gleichzeitiger Einrichtung von Beratungsstellen entlang der Fluchtrouten, um den Flüchtenden „Alternativen aufzuzeigen“. Alles kam vor, aber kein zündendes Bild des Ganzen stellte sich ein. Dafür 20 Prozent – fast schon erstaunlich.

Selten in ihrer 150-jährigen Geschichte war die SPD so weit entfernt vom Zeitgeist wie in den letzten 15 Jahren. Während in Davos der Kapitalismus infrage gestellt wurde und die CDU nach links rückte, während mehr als die Hälfte der unter 30-Jährigen glaubt, dass der Kapitalismus die Welt zugrunde richtet, während Sahra Wagenknecht und Heiner Geißler die Gemeinsamkeiten von christlicher Soziallehre und Sozialismus beschworen und die Krisenbotschaften sich überschlugen, lautete die implizite Botschaft der Partei: Mit uns wird es nur langsam schlimmer.

Sicher, 3 Prozent mehr Spitzensteuersatz, zwei Jahre weniger arbeiten, 2 Euro mehr Mindestlohn: weiter unten spürt man das. Aber das Schicksal der holländischen und französischen Genossen zeigt, wohin das führt. Denn wenn nicht alles trügt, haben die meisten Bürger zumindest eine Ahnung davon, dass wir am Beginn einer neuen Epoche leben, dass die alten Strukturen nicht mehr tragen, die fetten Jahre vorbei sind. Dieser Ahnung Wort zu geben, wäre der erste Schritt aus der angstbesetzten Erstarrung und der gedankendürren Alternativlosigkeit.

„In der Wahrheit leben“, so nannte der Dissident Václav Havel im verrottenden Sowjetsystem die Verpflichtung von Politikern. In der Wahrheit leben, das heißt heute: die Erkenntnis aussprechen, dass alle Dopingspritzen (weltweit inzwischen 12 Billionen Dollar) keine neue Wachstumswelle zurückbringen, dass es ebenso teuer wird, die „Fluchtursachen an ihrem Ursprung“ zu bekämpfen wie das Mittelmeer militärisch dicht zu machen, dass „grüner Kapitalismus“ ein Widerspruch in sich ist, die Klimakatastrophe nicht mit Verschmutzungszertifikaten verhindert wird und dass einschneidende Veränderungen unserer Lebensweise und unserer Wohlstandserwartungen anstehen – und das nicht nur bei dem einen Prozent.

In der Wahrheit leben: eine Partei, die sich solchermaßen intellektuell ehrlich machte, hätte wohl nicht erst auf mittlere Sicht Erfolg. Denn unsere Gesellschaft ist an humanitären, ökologischen, sozialen Initiativen, an genossenschaftlichen Experimenten und postkapitalistischen Enklaven ebenso reich wie an innovativen Energieingenieuren, erfolgreichen Ökobauern, Bildungsreformern und konzeptioneller Intelligenz. Aber all diesen Aufbrüchen fehlt eine politische Speerspitze. Genau das wäre die Aufgabe einer wirklich modernen Sozialdemokratie: diese Aufbruchsenergien zu bündeln und politisch zuzuspitzen. Ziele zu definieren, die allen einleuchten, die auch nur einen Funken Interesse an Zukunft haben. Die „unten“ erkämpften Freiräume durch Gesetze und Institutionen abzusichern und so die Grundlagen für eine postkapitalistische Gesellschaft zu legen.

Es müsste eine konservative Sozialdemokratie sein – konservativ im Sinne des sizilianischen Grafen Tommaso di Lampedusa: Man muss sehr viele Regeln und Institutionen ändern, wenn das europäische Zivilisationsmodell – nach Bourdieu so unwahrscheinlich und kostbar wie Kant, Mozart oder Beethoven – noch eine Zukunft haben soll. Sozialdemokratie im 21. Jahrhundert: Das hieße, langfristige gesellschaftliche Projekte zu propagieren, die auf absehbare Notlagen nicht mit kleinen Korrekturen reagieren und damit die alten Strukturen am Leben erhalten, sondern neue Institutionen zu entwerfen, die das gesellschaftliche Gewebe verändern – im Interesse der vielen, wenn nicht der meisten Bürger.

Studien schätzen, dass in den nächsten Jahrzehnten zwischen 30 und 50 Prozent der Arbeitsplätze wegautomatisierbar werden. Der kapitalistischen Logik überlassen, wird das die Gesellschaften immer weiter in Höchstleister und Überflüssige polarisieren. Aber eine radikale Verkürzung der Normalarbeitszeit und eine Bildungsrevolution, die für die notwendigen Qualifikationen sorgt, könnte eine der ältesten ­Forderungen der Arbeiterbewegung und des ­aufgeklärten Liberalismus möglich machen: eine Dreizeitgesellschaft, mit guter Arbeit für alle und mehr Zeit für Familie und soziales Engagement. Fortschritt besteht schließlich nicht nur darin, falsche Ideen vom Sockel zu stoßen, sondern auch, zu Unrecht gestürzte wieder draufzustellen.

Die Versorgung einer steigenden Zahl von Pflegebedürftigen, Dementen und Psychotikern kollidiert mit der Menschenwürde, wenn Krankenhäuser und Pflegeheime rentabel sein müssen. Die Pflege muss der Gewinnorientierung entzogen und zur öffentlichen Aufgabe werden. Dezentrale kommunale Einrichtungen in den Wohnvierteln wären nicht nur menschlicher, sondern wahrscheinlich sogar billiger als die Pflegesilos am Stadtrand. Und warum sollte eine Gesellschaft, deren Zusammenhalt schwindet, nicht über ein anständig bezahltes allgemeines Sozialjahr für Jugendliche nachdenken – nicht nur für die Pflege, sondern für alle sozialen, kulturellen und pädagogischen Gemeinschaftsaufgaben, als letztes Schuljahr gleichsam, Praktikum zur Berufsfindung und Einübung in Gesellschaftlichkeit – auch wenn das gegen alle liberalen Impfungen verstößt.

Das Privateigentum am (nach Kant) öffentlichen Gut Boden hat zu Spekulation, unbezahlbaren Mieten und sozialen Wüsten in den Städten und zur Zerstörung bäuerlicher Existenzen auf dem Land geführt. Die Privatisierung von So­zial­woh­nungen wie die von Elektrizität und Wasser muss schnell verboten, Bodenpreise, Pachtzins und Mieten gedeckelt werden. Eine angstfreie Renaissance des Wörtchens Volkseigentum könnte solche, vermeintlich radikalen Forderungen begleiten.

Die neofeudale Zuteilung von Chancen wird zunehmend über die Privatisierung des Bildungswesens angebahnt. Die Spaltung in verwahrlosende öffentliche Schulen für die vielen und staatlich subventionierte, aber privat betriebene Bildungsoasen für die wenigen muss gestoppt werden. Der diskriminierende, mobilitätsfeindliche Bildungsföderalismus muss aufhören. Kleiner Hinweis auf die Größenordnungen: Mit einer 0,5-prozentigen Steuer auf Vermögen könnte die Zahl der Lehrer auf das Niveau von Finnland oder Luxemburg gebracht werden.

Mietbremse, Konzentrationskontrolle, kommunaler Wohnungsbau, Bodenrechtsreform, Agrarwende, Bildungsexpansion – es wären systemüberwindende Reformen, die den Raum der öffentlichen Güter und der Daseinsfürsorge erweitern und alles, was ein gutes Leben sichert, dem Markt entziehen würden. Ein investierender, aktiver Staat wäre die epochale Antwort auf eine Wirtschaft, deren Dynamik das Leben der Einzelnen zunehmend unsicher macht und die Grundlagen des Wohlstands zerstört.

Den Zukunftsstaat schaffen, so hieß die Parole der alten Sozialdemokratie zu Beginn des 20. Jahrhunderts, und nicht irgendwelche Spinner, sondern Parlamentarier wie August Bebel haben diese Vision sehr konkret ausgepinselt, als motivierenden Horizont ihres täglichen Handelns und Hinweis auf ein Ziel, das nicht in soundso vielen Legislaturperioden erreicht werden kann, aber den Polarstern der sozialistischen Politik abgibt. Zukunftsstaat – das ist ein Wort, das auch heute wieder verheißungsvoll klingen könnte, denn wenn nicht alles täuscht, hat die „Verunglimpfung des öffentlichen Sektors“ (Paul Krugman) an Popularität verloren, und die Idee, dass „Staat eine Kraft des Guten“ sei (Thomas Friedman), gewinnt an Boden.

Aber ein Bebel des 21. Jahrhunderts wird noch gesucht.

Zukunftsstaat – das heißt heute natürlich: mehr Europa. Ohne europäische Steuergesetze werden Google, Amazon, Facebook und Apple weiterhin von Steuerdumping profitieren. Ohne europäische Beschäftigungsinitiativen wird die Jugendarbeitslosigkeit auf Dauer gestellt. Ohne eine Europäisierung von Arbeitsrecht und Sozialpolitik werden alle nationalen Reformen an Grenzen stoßen.

Für die SPD hieße das: alles unterstützen, was die demokratischen Mechanismen der Union und der Eurozone vertieft, und gleichzeitig mit allen noch vitalen Sozialdemokratien kooperieren, als da sind: Podemos, Syriza, die portugiesischen Sozialisten – und die erneuerte Labour Party. Den wirtschaftsliberalen Impuls Emmanuel Macrons aufnehmend, müsste eine europäische Sozialdemokratie große, transnationale Investitionsprogramme fordern – für erneuerbare Energien oder transnationale Verkehrsnetze. Die Chancen für diese Vision eines „Grand European Left Designs“ sind derzeit hoch unwahrscheinlich. Im nächsten Schritt geht es darum (vor allem in Deutschland, Italien, Frankreich), regierungstaugliche linke Koalitionen zu schmieden, die diese Perspektive nicht ausschließen.

Bleibt die Frage nach dem Personal. Die SPD hat nur noch 400 000 eingetragene Mitglieder. Ihr Kern sind nur rund 80 000 ämterorientierte Aktive: Funktionäre von Partei, Gewerkschaften, Verbänden; Kommunalbeamte, Sparkassendirektoren, Landräte, Schulräte, Bauamtsabteilungsleiter – kurz und nicht ganz gerecht gesagt: akademisch gebildete Mittelschichtler, die auf allen Ebenen das Rückgrat des Staates bilden, ohne die nichts läuft, die von ihm leben, eine Schicht, aus der sich fast die Hälfte der Bundestagsabgeordneten rekrutiert.

Grundsätzliche Richtungsänderungen sind von ihnen nicht zu erwarten, solange die Generation Schröder nicht in Rente geht. Das heißt aber auch: 80 000 Bürger, denen es nicht mehr reicht, ab und zu ein mit ein paar Klicks bei Campact wirksam zu sein, könnten sehr schnell für eine Erneuerung des Personals sorgen – wie in den 1970er Jahren schon einmal. Irreal? In England hat die Bewegung Momentum es geschafft, innerhalb eines Jahres die Mitgliedschaft von Labour auf 600 000 zu verdreifachen. For the many, not the few – so lautet das neue Mantra der Labour Partei. Das klingt auf Deutsch nicht ganz so knackig; aber die SPD könnte es ja vorerst mal mit ­T-Shirts versuchen, auf denen vorne 14,2 GG steht und hinten „Eigentum verpflichtet“.

Bleibt noch die Frage am Ende aller Küchengespräche: Warum sind wir so resigniert und politikmüde? Warum erobern nicht die 18- bis 35-Jährigen diesen immer noch intakten Apparat? Dafür gibt es viele Gründe und alle paar Monate eine neue soziologische Deutung: Der Wohlstand hat uns mit Konsumindividualismus imprägniert; die Singularitätsgesellschaft verhindert Solidarität; die Abstiegsgesellschaft zerreibt die Motiva­tion; Institutionen mit Mitgliedschaft und Verbindlichkeit sind den Kindern der Erlebnisgesellschaft nicht cool genug; die Gier der Mittelschicht ist märchenhaft; die Medien der Aufmerksamkeitsgesellschaft zerstreuen die Wut. Außerdem geht es den meisten immer noch besser als anderswo, und wenn es bei den Jungen finanziell klemmt, helfen die Eltern mit dem Erbe der fetten Jahre.

So viel zum subjektiven Faktor. All das spielt eine Rolle. Aber darunter liegt ein harter Grund für das anhaltende Einverständnis mit unhaltbaren und unmoralischen Zuständen. Insgeheim wissen doch alle: Die Herstellung von mehr Gerechtigkeit in unserer Gesellschaft wäre eine Herkulesaufgabe, aber eine lächerlich kleine Anstrengung verglichen mit einer Bearbeitung der globalen Probleme. Die anbrechende Warmzeit, die Armutsvölkerwanderungen, die Verwüstung der Restnatur, die Gewalt, die aus Armut und Unterdrückung kommt – all das wäre nur zu verhindern oder auch nur zu lindern, wenn wir im Westen unsere „imperiale Lebensweise“ radikal ändern, und das heißt, trotz aller Beschönigungen über „grünes Wachstum“: Verzicht. Offenbar aber hält die parlamentarische Klasse ein Leben ohne easy­jet, Nackensteaks für 2,99, Verbrauchstextilien, frisches Obst im Winter und alle Jahre neue Smartphones nicht für mehrheitsfähig. Das ist nichts anderes als Elitenversagen: eine zynische Unterschätzung der intellektuellen und der moralischen Ressourcen derjenigen, die hart arbeiten und wissen, dass wir neue Regeln brauchen.

Sozialdemokratie im 21. Jahrhundert: Das wäre der Versuch, die Erfahrung zu widerlegen, dass Institutionen und Mentalitäten sich nur nach Katastrophen oder Kriegen umbauen lassen. Dagegen allerdings steht Bertolt Brechts fatalistische Einsicht, dass Umwälzungen nur in Sackgassen stattfinden.

1 „Die Chancen der Krise. Über die Zukunft des Liberalismus“, Stuttgart (Deutsche Verlagsanstalt) 1983.

2 Protokoll des Godesberger Parteitags, S. 309; das Oertzen-Zitat siehe: „Geschichte der sozialen Ideen in Deutschland“, herausgegeben von Helga Grebing, Essen (Klartext Verlagsgesellschaft) 2000, S. 450.

3 Burkart Lutz, „Der kurze Traum immerwährender Prosperität“, Frankfurt/New York (Campus Verlag) 1989.

4 „Wie haben wir gewählt“, FAZ, 22. Oktober 1994.

5 Zuerst in: „Die Beweglichkeit des Tankers“, München (Bertelsmann) 1982 – ein Jahr vor Dahrendorfs Nachruf auf die SPD.

Mathias Greffrath ist Soziologe und Journalist.

© Le Monde diplomatique, Berlin

Le Monde diplomatique vom 11.01.2018, von Mathias Greffrath