Die Wut der chilenischen Rentner
Eine radikal neoliberale Politik und ihre Folgen
von Sandra Weiss
Es war ein etwas ungewöhnlicher Ort für einen Protest. Mitten im Einkaufszentrum Costanera, einem Luxuskonsumtempel in der chilenischen Hauptstadt Santiago, enthüllten Rentner und Studenten ein Transparent: „Schluss mit rechts, Schluss mit den privaten Renten!“ Vom Beifall der Umstehenden ermuntert, skandierten sie: „Piñera – korrupter Krimineller!“
Die Renten waren – zusammen mit der Bildung – ein heißes Eisen im chilenischen Wahlkampf. Sebastián Piñera, Präsidentschaftskandidat für das Mitte-rechts-Bündnis „Chile Vamos“, gilt als glühender Verfechter des privatisierten Bildungs- und Rentensystems.1 „Bildung ist ein Konsumgut“, erklärte er. Im Dezember wurde der 68-jährige Milliardär mit 54 Prozent der Stimmen in der Stichwahl zum zweiten Mal Präsident von Chile. Er gilt als wirtschaftsliberal, wertkonservativ und unternehmerfreundlich. Die Börse Santiagos reagierte mit einem Höhenflug. Konservative in ganz Lateinamerika feierten seinen Sieg als Bestätigung für den „kontinentalen Rechtsruck“. Chiles zukünftiger Weg scheint damit entschieden. Was wird nun aus den von Michelle Bachelet eingeleiteten sozialdemokratischen Reformen?
Das Bild ist komplizierter, als es auf den ersten Blick erscheint, meint der Soziologie- und Politikprofessor Esteban Valenzuela von der Universität Alberto Hurtado. „Chile ist im ersten Wahlgang nach links gerückt.“ Er meint damit die Parlamentswahlen vom November 2017 und den Wahlerfolg der „Frente Amplio“, eines von der Journalistin Beatriz Sánchez angeführten Bündnisses, dem junge Leute aus der Studentenbewegung ebenso angehören wie Bürgeraktivisten und Politiker aus den stark vernachlässigten Provinzen. Frente Amplio, die im Wahlkampf gegen Korruption und die „alte Elite“ Stimmung machte und eine „neue Form der Politik“ forderte, kam auf über 12 Prozent. Ihre Abgeordneten könnten in dem zersplitterten Zweikammern-Kongress künftig die Rolle des Züngleins an der Waage spielen.
Zwar stellt Piñeras Mitte-rechts-Koalition Chile Vamos mit 73 Abgeordneten die stärkste Fraktion, aber sie verfügt nicht über qualifizierte Mehrheiten, um grundlegende neue Reformen durchzusetzen oder die bereits vorgenommenen rückgängig zu machen. Und der Rest der Abgeordneten steht links von Chile Vamos: Linke, sozialdemokratische und progressive Parteien stellen 82 der 155 Abgeordneten und 24 der 42 Senatoren.2
„Das Land und alle Parteien müssen sich modernisieren, und die Richtung ist von den Bürgern vorgegeben worden: Dezentralisierung, mehr Öffnung und Dialog, mehr Sozialdemokratie, weniger Autoritarismus, weniger staatliche Bevormundung in moralischen Fragen wie Homosexualität und Abtreibung“, deutet Valenzuela das Wahlergebnis.
Chile wurde in den 1980er Jahren von der Militärdiktatur mit harter Hand in einen gesellschaftlich konservativen und wirtschaftlich neoliberalen Vorzeigestaat umgemodelt. Die Gewerkschaften wurden zerschlagen, Oppositionelle verfolgt, Mitbestimmungsrechte auf ein Minimum reduziert, Renten und Bildung privatisiert. Die ganze Gesellschaft wurde stromlinienförmig auf Individualismus und Konsum getrimmt.
Dieses Modell, das von seinen Befürwortern als wirtschaftliches Erfolgsrezept verkauft wurde, hatte auch unter den demokratischen Regierungen ab 1990 Bestand. Für die Unternehmer erwies es sich als Segen: niedrige Löhne und Sozialabgaben, niedrige Steuern, kaum staatliche Regulierungen des Verbraucherschutzes und des Arbeitsmarkts. Dennoch lag das durchschnittliche Wachstum zwischen 1973 und 1990 mit 2,9 Prozent nicht höher als der weltweite Durchschnitt. Der Anteil der Bevölkerung unter der Armutsgrenze stieg unter Pinochet dramatisch von 20 auf 44 Prozent. Laut OECD weist Chile die größte soziale Spreizung ihrer Mitgliedstaaten (nach dem Gini-Index) auf.3
Die Einnahmen aus dem Export von Kupfer, später auch von Lithium und Lachs, Wein und Holz, flossen in den Aufbau von Einzelhandels- und Finanzimperien. Die Unternehmer finanzierten Wahlkämpfe und nahmen Einfluss auf die Gesetzgebung. Doch die Verquickung von privaten und öffentlichen Interessen war lange kein Thema in der Öffentlichkeit: Die Medien gehören ebenfalls den großen Imperien.
Die Ersten, die gegen dieses Modell rebellierten, waren die Schüler und Studenten der Nach-Diktatur-Generation. Sie hatten unter einem Bildungssystem zu leiden, das kaum eine Möglichkeit zum gesellschaftlichen Aufstieg bot. Studenten mussten nach dem Abschluss noch jahrzehntelang hohe Studienkredite abzahlen – was sie zu Sklaven eines hart umkämpften Arbeitsmarkts machte. Zehntausende gingen 2011 auf die Straße. Auch damals regierte Piñera (2010–2014), der immer neue Vorschläge für eine Bildungsreform vorlegte. Die sahen zwar strengere Auflagen und Kontrollen für Schulen und Universitäten vor sowie günstige Kredite und mehr Stipendien, aber am Grundsatz des privatisierten Bildungssystems hielt der Präsident fest.
Der rechte Oligarch Piñera wurde wieder gewählt
Giorgio Jackson, einer der jungen Wilden von damals, zog danach für die Frente Amplio ins Parlament ein. „Wir brauchen weitgehendere Reformen und ein neues Paradigma in der Politik“, sagt er. „Der Staat muss seinen Bürgern Rechte garantieren, und nicht Konsumgüter, für die sie sich verschulden.“ Die Straße und das Parlament müssten wieder zusammenkommen – über Bürgerversammlungen, Demonstrationen und durch eine neue Verfassung, die die alte, die noch aus den Zeiten der Diktatur stammt, ablösen soll.
Auf die Proteste der Studenten folgten 2016 die der Rentner. Hunderttausende demonstrierten überall im Land, von der Atacama-Wüste bis Patagonien. Die Bewegung zur Abschaffung der privaten Rentenfonds (AFP) „No+AFP“ strengte ein Plebiszit an, bei dem sich Ende September eine dreiviertel Million Chilenen (90 Prozent der Teilnehmer) für die Rückkehr zum umlagefinanzierten Rentensystem aussprachen.
Eine davon ist Victoria Baeza aus La Reina, einem Mittelschichtsviertel von Santiago. „Ich habe seit 1974 in die Rentenkassen einbezahlt“, sagt die 65-jährige ehemalige Angestellte. Sie erhält umgerechnet 800 Euro. „Das ist ein Drittel meines früheren Gehalts und reicht hinten und vorne nicht. Zum Glück arbeitet mein Lebenspartner noch.“ Baeza gehört zu den Privilegierten. Die meisten Chilenen bekommen nur Brosamen.4
María Angélica Cáceres begann mit zwölf Jahren zu arbeiten, bei einer Familie in Constitución. Ihre Mutter hatte sie dort hingeschickt, damit sie auf eine weiterführende Schule gehen konnte. Natürlich war das Schwarzarbeit, verbotene Kinderarbeit. Mit 21 heiratete sie, bekam zwei Kinder, begann dann als Küchenhilfe in einer Schule. „Mein letztes Gehalt waren umgerechnet 450 Euro. Meine Rente liegt bei 156 Euro“, erzählt die 62-Jährige. Das ist weniger als die Hälfte des chilenischen Mindestlohns, der seit Juli 2017 bei rund 386 Euro liegt. Ihr Mann, früher Angestellter in einem Holzbetrieb, bekommt knapp 200 Euro. „Zusammen haben wir weniger als ein Gehalt. Das reicht hinten und vorne nicht, weil mein Mann Bluthochdruck und Diabetes hat.“ Hätte Cáceres nicht dem Druck ihres Arbeitgebers nachgegeben, als sie die Wahl hatte, auf das private System umzustellen, wäre ihre Pension heute doppelt so hoch.
Wer nach 1981 ins Arbeitsleben trat, hatte keine Wahl mehr: Arbeitnehmer zahlten fortan 10 Prozent ihres Lohns in private Fonds ein, die Arbeitgeber und der Staat trugen nichts mehr zur Altersvorsorge bei. Es war ein großer Sieg für die neoliberalen „Chicago Boys“, die Chile unter Pinochet zu ihrem Labor auserkoren hatten. Ihre Schlüsselfigur war Arbeitsminister José Piñera, der ältere Bruder des gegenwärtigen Präsidenten.
Der Entscheidung war eine lange Debatte vorausgegangen. Die Journalistin Alejandra Matus schreibt,5 besonders das Militär habe große Bedenken gehabt, eine derart geballte Kapitalkraft vom Staat an Private zu übertragen. „Hier werden fünf oder sechs Finanzimperien entstehen, die den Staat erpressen können. Das ist gefährlich“, zitiert Matus den Polizeichef César Mendoza. Letztlich setzte sich José Piñera nur durch, weil die Pensionen der Sicherheitskräfte ausgenommen wurden: Heute sind die Altersbezüge von Polizisten und Soldaten mehr als sechsmal so hoch wie im Durchschnitt.6 Piñeras Argumente von damals werden heute noch immer kolportiert: Das System sei effizienter, diene der Ankurbelung der Wirtschaft und entlaste den Staatshaushalt, während die staatlichen Kassen geplündert werden oder wegen der demografischen Entwicklung kollabieren könnten.7
30 Jahre später haben sich diese Argumente als Illusion erwiesen. „Es ist falsch und rein ideologisch, dass der Staat das Umlagesystem nicht finanzieren oder das Geld klauen kann“, sagt der Sprecher von No+AFP, Luis Mesina. Es gebe etwa in Schweden und in Kanada hervorragend funktionierende staatliche Rentensysteme, während es in der Privatwirtschaft, gerade bei Banken und Finanzinstitutionen, haufenweise Korruptionsskandale gebe. „Vor der Umstellung gab es 34 Pensionskassen, die das Geld im Land investierten. So sind zum Beispiel Wohn- und Ferienanlagen für Arbeiter entstanden.“ Nach der Umstellung wurden die Anlagen verschachert – an Geschäftsleute, die der Diktatur nahestanden, wie Matus recherchiert hat. Die privaten Fonds kassieren Matus zufolge viel zu hohe Gebühren.8 Zudem seien ihre Berechnungstabellen intransparent. Von den angesammelten 175 Milliarden Euro Kapital (circa 70 Prozent des chilenischen BIPs 2016), das sich auf sechs Finanzimperien verteilt, seien 2016 nur 5,6 Prozent an Pensionäre ausgezahlt worden. Mesina hat noch grundlegendere Einwände: „Die Hälfte der Fonds sind in ausländischer Hand. 80 Milliarden Dollar sind im Ausland angelegt, wo sie nichts zur Entwicklung Chiles beitragen.“ An chilenischen Rentenfonds sind mittlerweile auch die größten Lebensversicherer der USA beteiligt.
Von einer umfassenden Altersvorsorge kann nicht die Rede sein. 35 Prozent aller Chilenen, die selbstständig arbeiten, sind überhaupt nicht abgesichert. 50 Prozent aller Bezieher von Renten bekommen weniger als den halben Mindestlohn. Das liegt zum einen an einer deutlich niedrigeren Rentabilität der Anlagen als die 5 Prozent, von denen Piñera damals ausgegangen war. Zum anderen liegt es an den Fehlzeiten, die besonders Frauen benachteiligen. Zum Dritten seien die 10 Prozent des Lohns, die an die Rentenkassen abgeführt werden, zu wenig, meint der Rentenexperte Eduardo Fajnzylber. Angesichts der Unzulänglichkeiten des Systems führte die Regierung unter Bachelet 2008 einen solidarischen Pfeiler ein, der besonders geringe Renten mit staatlichen Zuschüssen aufstockte. Davon profitieren Fajnzylber zufolge rund 60 Prozent der Rentenempfänger.
Der Druck war aber weiterhin enorm, 2017 musste Bachelet nachbessern. Doch auch die neue Reform findet Mesina unzureichend. „Sie ändert nichts an der Logik, dass wir weiterhin Aktiengesellschaften unser Geld in den Rachen werfen.“ Zu den 10 Prozent Lohnabzug kommen zusätzliche 5 Prozent, die künftig der Arbeitgeber entrichten muss, aber davon fließen 3 Prozent in die AFP und nur 2 Prozent in ein Umlagesystem. „Das bedeutet letztlich nichts anderes, als dass das Umverteilungssystem die Defizite der Kapitalisierung ausgleichen soll.“ Damit fiel ein weiteres Argument zugunsten der AFP weg: dass sie dem Fiskus keine Kosten verursachen. Fajnzylber hält aber die Kombination für vielversprechend. „Reine Umlagesysteme erwirtschaften keine so hohen Renditen.“
Nun erbt in einem ironischen Winkelzug der Geschichte Sebastián Piñera den Schlamassel, den ihm sein älterer Bruder hinterlassen hat. Und für die unumgängliche Reform braucht er eine parlamentarische Mehrheit, die er nur von der linken Mitte bekommen kann.
3 www.oecd.org/chile/OECD2015-In-It-Together-Highlights-Chile.pdf.
5 In ihrem Buch „Mitos y verdades de las AFP“, Aguilar 2017.
7 In Chile sind die Geburtenzahlen seit 20 Jahren rückläufig, die Bevölkerung schrumpft.
Sandra Weiss ist Journalistin und Politologin in Puebla, Mexiko.
© Le Monde diplomatique, Berlin