11.01.2018

Dienende in einem patriarchalischen Land

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Dienende in einem patriarchalischen Land

Über die Lage der Frauen in Israel

von Laura Raim

Zwei Jahre Wehrpflicht ODED BALILTY/ap
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Sie fliegen Kampfjets und fahren bald auch Panzer, wenn die israelischen Streitkräfte (IDF) es nicht mehr verbieten, wie angekündigt. Schließlich sind die laut IDF-Website „unerschrockenen Kämpferinnen“ ein wichtiges Aushängeschild für die „einzige Demokratie im Nahen Osten“. Die jungen athletischen Soldatinnen, wie sie mit umgehängter Uzi und Tarnfarbe im Gesicht in den Schulbüchern abgebildet sind, erinnern in ihren Posen an die historischen Fotos von Israels Pionierinnen auf dem Feld, im Straßenbau oder bei der Kibbuz-Wache. Beide Darstellungen verbreiten den Mythos vom egalitären Zionismus.

Tatsächlich haben in den ersten Kibbuzim die weiblichen Mitglieder mehr in den Küchen, Gärten, Kindergärten und Waschhäusern gearbeitet als auf dem Feld und in der Fabrik, erzählt Sarai Aharoni vom Feministischen Zentrum in Haifa. Der neue Staat bekannte sich in seiner Unabhängigkeitserklärung von 1948 und im Gleichstellungsgesetz von 1951 zwar zur Gleichberechtigung der Frau, aber das heißt noch lange nicht, dass Israels Pioniere Feministen waren.

Die Gründungsväter fanden ganz im Gegenteil, dass die wichtigste Aufgabe der Frauen war, den Fortbestand des jüdischen Volks zu sichern. Welche nicht „mindestens vier Kinder“ zur Welt bringe, verrate die „jüdische Mission“, verkündete David Ben Gurion, der erste Ministerpräsident des neuen Staats. Ab 1949 gab es eine Auszeichnung für „Heldenhafte Mütter“ (mindestens zehn Kinder), und bis in die 1960er Jahre hinein wurde in Geburtsanzeigen die Ankunft eines „neuen Soldaten für Israels Armee“ gefeiert. Später erhöhte sich der Fortpflanzungsdruck durch den demografischen Wettlauf mit der palästinensischen Bevölkerung. Mit durchschnittlich 3,1 Kindern pro Frau erreichte Israel 2015 die höchste Geburtenrate innerhalb der OECD.

Die männlichen Autoritäten im Land haben seit jeher fast alle eine militärische Laufbahn absolviert. Pensionierte Offiziere leiten Ministerien, Unternehmen und Universitäten; selbst Scha­lom Achschaw (Peace Now), Israels bekannteste, 1978 gegründete Friedensbewegung, geht auf eine Initiative von über 300 Reserveoffizieren zurück. Dagegen gründeten Israelinnen und Palästinenserinnen oft gemeinsam Friedensorganisationen, wie „Frauen in Schwarz“, die seit Ende der 1980er Jahre jeden Freitag gegen die Besatzung der Palästinensergebiete demonstrieren, das Netzwerk Reshet (Israel Women’s Peace Net), „Jerusalem Link“ oder die Gruppe „Vier Mütter“, die ­Ende der 1990er Jahre für den Abzug aus dem Südlibanon auf die Straße ging.

Wissenschaftlerinnen um Galia Golan, Professorin für Internationale Beziehungen und Konfliktforscherin, die zudem 1981 an der Hebräischen Universität Jerusalem den ersten Fachbereich für Frauenstudien ins Leben rief, registrierten unmittelbar nach der ersten Intifada (1987–1993) eine Zunahme häuslicher Gewalt mit Todesfolge in jüdisch-israelischen Familien. Die Bekämpfung häuslicher Gewalt war dann auch das erste Anliegen der israelischen Frauenbewegung, erzählt Golan. „In den 1990er Jahren wurden die Frauenrechte revolutioniert. Damals saßen zwar zwei Drittel weniger Frauen in der Knesset als heute, aber die waren alle Feministinnen!“

Damals wurden mehr als 100 Gesetze zur Gleichberechtigung der Frauen verabschiedet. Doch das Lohngefälle ist heute immer noch groß. In Israel bekommen Frauen in einer Vollzeitbeschäftigung durchschnittlich 22 Prozent weniger Gehalt als ihre männlichen Kollegen. Im OECD-Ranking steht das Land damit an viertletzter Stelle. „Insgesamt hat sich aber die Lage von Frauen verbessert“, behauptet Rachel Azaria, Abgeordnete der 2014 gegründeten Mitte-rechts-Partei Kulanu. „Zum ersten Mal sind mehr als ein Viertel der Knesset-Abgeordneten Frauen. Karnit Flug leitet die Zentralbank und Rakefet Russak-Aminoach die Bank Leumi. Die wenigen Parteien, die nur aus Männern bestehen, werden öffentlich geächtet“, erklärt die frühere stellvertretende Bürgermeisterin von Jerusalem, die 2008 für Aufsehen sorgte, als sie die Verkehrsbetriebe verklagte: Die hatten Wahlplakate mit Azarias Gesicht von Bussen in den ultraorthodoxen Vierteln entfernt.

Rachel Azaria bezeichnet sich als moderne Orthodoxe im Gegensatz zu den Ultraorthodoxen (Haredim), die den Kontakt mit allem Weltlichen meiden und zu denen sich mittlerweile eine Million der 8,5 Millionen Einwohnern Israels zählen. „Seit der Staatsgründung folgt das Oberrabbinat von Israel einer orthodoxen, um nicht zu sagen ultraorthodoxen Auslegung der Halacha, des jüdischen Gesetzes, nach dem die Geschlechter sehr ungleich behandelt werden“, erklärt Azaria. „Seit einigen Jahren aber gelingt es feministisch-orthodoxen Organisationen wie Kolech, einige dieser Regeln aufzuweichen.“

Ein Vergewaltiger wie König David

In den Bet Midrasch (Zentren für höhere Tora-Studien) und in den Synagogen legen Kolech-Frauen den Talmud aus und singen Gebete vor, erzählt sie. Eine dieser Frauen setzte die Jerusalem Post vor zwei Jahren sogar auf ihre jährliche Liste der 50 einflussreichsten Persönlichkeiten: Rachelle Fraenkel hatte 2014 bei der Beerdigung ihres 16-jährigen Sohns Naftali, der von Hamas-Anhängern entführt und umgebracht worden war, vor laufender Kamera das Kaddisch gesprochen, was traditionell nur den Männern vorbehalten ist.

Die orthodoxe Feministin Tehila Na­ha­lon will das Staatsmonopol des Oberrabbinats gleich ganz abschaffen und die Gottesdienste für Reformgemeinden öffnen, so dass sich „jeder seinen Rabbiner selbst aussuchen kann, wie in den USA“. Sogar unter den Haredim entsteht eine Strömung, die sich als feministisch bezeichnet. „Wir kommen von sehr viel weiter her als die orthodoxen Feministinnen“, erklärt die 30-jährige Racheli Ibenboim, die wir in der Deutschen Kolonie treffen, einem der wenigen Viertel Jerusalems, in dem sich noch säkulare und religiöse Juden über den Weg laufen. Ibenboim, die in dem ultraorthodoxen Viertel Mea Schea­rim wohnt, wurde als 18-Jährige mit einem Mann verlobt, den sie vorher gerade mal 20 Minuten gesehen hatte. Sie kämpft aber nicht für reli­giö­se Gleichberechtigung, sondern für gleiche Löhne und politische Teilhabe. 2013 wollte sie bei den Jerusalemer Kommunalwahlen antreten. Doch als sie bedroht wurde, zog sie ihre Kandidatur wieder zurück.

„Mehr als die Hälfte der ultraorthodoxen Männer arbeitet nicht, damit sie sich ganz dem Bibelstudium widmen können“, erklärt Ibenboim. „Seit die Familien aber weniger staatliche Unterstützung bekommen, müssen die Ehefrauen das Geld nach Hause bringen.“ Bei den Ultraorthodoxen seien inzwischen 80 Prozent der Frauen berufstätig. Sie verdienen zwar durchschnittlich 40 Prozent weniger als andere Frauen, weil sie meist als Ungelernte schlecht bezahlte Jobs annehmen, aber allein die Möglichkeit, aus dem Haus zu kommen und sich beruflich entfalten zu können, sei schon ein enormer Fortschritt. Die Frauen der Haredim wurden zwar angehalten, in den Vor- und Grundschulen zu unterrichten, damit sie innerhalb ihrer Gemeinschaft bleiben und sich nicht der Welt aussetzen, doch da gibt es nicht genügend Stellen, so viele Frauen sich mittlerweile für andere Berufe qualifizieren, vor allem in der Spitzentechnologie.

Abgesehen von der Blase Tel Aviv setzt sich in manchen Jerusalemer Vierteln und im Rest des Landes die Geschlechtertrennung immer mehr durch. „Es ist kein Kunststück, multikulti und tolerant zu sein, wenn man in Tel Aviv lebt, wo Ultraorthodoxe etwas Exotisches sind“, spottet Rachel Azaria. Alle würden den Haredim deren patriarchalische Vorschriften vorwerfen, aber das eigentliche Problem sei ein anderes: dass keine Regierung, sei sie links oder rechts, jemals eine klare Trennung zwischen Religion und Staat in Erwägung gezogen hat. Auch die Zionisten hätten das Recht auf die Rückkehr nach Palästina aus der Bibel abgeleitet.

Die Gründungsväter Israels, die gar nicht religiös waren, haben stets darauf geachtet, die Verbindung zur Tradition aufrechtzuerhalten, und der kleinen ultraorthodoxen Gemeinschaft eine relative Autonomie zugebilligt. Die kleinen religiösen Parteien waren stets das Zünglein an der Waage. Das war schon bei den Vorbereitungen zur Staatsgründung so, als David Ben Gurion den Führern der ultraorthodoxen Partei Agudat Jisrael 1947 unter anderem versprechen musste, das gesamte Familienrecht dem Oberrabbinat zu unterstellen.1

Heute können die ultraorthodoxen Parteien als Teil der Regierungskoalition von Netanjahu immer wieder Zugeständnisse erzwingen, sei es die Verschärfung der Sabbatruhe oder die Befreiung von der Wehrpflicht für Ultra­orthodoxe – das Gesetz, das alle Israelis unabhängig von ihrem religiösen Stand zum dreijährigen beziehungsweise für Frauen zweijährigen Militärdienst verpflichtet, wurde 2015 auf unbestimmte Zeit ausgesetzt.

Seit 2001 können Streitigkeiten um Kinderbetreuung und Unterhalt zwar auch vor zivilen Gerichten verhandelt werden, aber für Heirat und Scheidung sind nach wie vor allein die von ultraorthodoxen Männern beherrschten Rabbinate zuständig. In Israel gibt es keine Rabbinerinnen. Frauen dürfen kein rabbinisches Recht sprechen, sie dürfen noch nicht einmal in den Zeugenstand treten. Auch Scheidungen können nur mit dem Einverständnis des Ehemanns vollzogen werden. Wenn die Frau sich trotzdem trennt und mit einem neuen Partner zusammenzieht, gelten die gemeinsamen Kinder als Mamzer (Bastarde). Die Juraprofessorin Ruth Halperin-Kaddari schätzt, dass in Israel hunderttausend Frauen davon betroffen sind. Man nennt sie Agunot („Angekettete“).

Nili Philipp lebt in Bet Schemesch bei Jerusalem, wo Ende der 1990er Jahre eine große Gemeinschaft von Haredim hinzog. Die fünffache Mutter, die in Kanada aufgewachsen ist, erzählt, wie sie beim Joggen und Fahrradfahren mit Steinen beworfen und bespuckt wurde. „Ich bin selbst modern orthodox, war also nicht aufreizend gekleidet: Ich hatte meinen Kopf bedeckt und trug keine Shorts.“ 2011 griffen dort Extremisten ein achtjähriges Mädchen auf dem Schulweg an.

In ihrem Geländewagen kurven wir durch die Viertel, in denen die Männer in Schwarz das Sagen haben. An den Häusern hängen lauter Frauen-Verbotsschilder. Sie dürfen keine Hosen tragen und sich nicht auf der Straße „herumtreiben“. Nili Philipp, die sich inzwischen nicht mehr den Kopf bedeckt, prozessiert gegen die Stadt, die nichts gegen die Schilder unternimmt, die ein Richter bereits vor zwei Jahren verboten hat. „Als ich angegriffen wurde, hat mir kein Einziger der Haredim geholfen. Da hab ich begriffen, dass ich mich selbst verteidigen muss. Wenn sie patriarchalisch sein wollen, dann müssen sie uns auch beschützen. Wenn sie dazu nicht in der Lage sind, sollen sie auch nicht von mir verlangen, dass ich ein passives Frauchen bleibe.“

Aber nicht nur die Ultraorthodoxen sind für den wachsenden Einfluss der Religion im Alltag verantwortlich. Die religiösen Nationalisten sind zwar besser integriert; sie lesen nicht den ganzen Tag in der Bibel, sind berufstätig und leisten auch Militärdienst. Aber ihre Töchter sollen genauso lange Röcke tragen wie die der Haredim. Und sie würden am liebsten überall die Geschlechtertrennung einführen, von den Schulen über Supermarktkassen, Gesundheitszentren und Bussen bis zur Armee. Das Militär, einst Hort der Gleichberechtigung, ist neuerdings in die Schusslinie des orthodoxen Rabbinats geraten. Das hat durchgesetzt, dass religiöse Soldaten nicht mehr allein mit einer Frau Wache schieben oder in einem Auto sitzen und dass sie nur von männlichen Lehrkräften ausgebildet werden und in rein männlichen Kampfeinheiten dienen.

Es ist nicht nur der wachsende Einfluss der Orthodoxen, der es einem schwer macht zu glauben, dass sich die Lage der Frauen stark verbessert hat. In der israelischen Gesellschaft gibt es eine enorme soziale Kluft, erklärt die Soziologin Orly Benjamin: „Die vor allem in den Stadtzentren lebenden europäischen Aschkenasim waren schon immer bessergestellt als die aus dem Nahen Osten und Asien eingewanderten Mizrachim. Die schlechtesten Ausgangsbedingungen haben natürlich die Palästinenserinnen.“

Die Privatisierungen und Sparmaßnahmen, die der konservative Likud-Block unter Ministerpräsident Menachem Begin in seiner ersten Legislaturperiode 1977 eingeleitet hatte, wurden in den 1980er Jahren im Kampf gegen die Inflation ausgerechnet in dem Moment verschärft, als der Bedarf an Sozialleistungen nach der großen Zuwanderung aus Russland und Äthiopien rapide zunahm.

Der Friedensprozess von Oslo führte ab Mitte der 1990er Jahre zwar zu einer Periode starken Wirtschaftswachstums – aber nicht unbedingt zum Vorteil der Frauen. Im Zuge des di­plo­ma­tischen Tauwetters wurden die Produktionsstätten in Galiläa, wo vor allem Palästinenserinnen beschäftigt waren, und im Negev, wo viele Mizrachi-Frauen arbeiteten, nach Jordanien und Ägypten verlegt. Außerdem hatten bereits viele israelische Palästinenserinnen während der Intifada ihre Jobs als Putzfrauen, Pflegerinnen oder Landarbeiterinnen in den Kibbuzim an philippinische oder thailändische Migrantinnen verloren, die als politisch zuverlässiger galten. Inzwischen ist die Beschäftigungsquote von Palästinenserinnen mit israelischer Staatsbürgerschaft (20 Prozent der weiblichen Bevölkerung) eine der niedrigsten weltweit: Nur 31 Prozent haben eine Arbeit, gegenüber 79 Prozent der jüdischen Frauen.

Als die Wirtschaft 2003 in eine beispiellose Rezession geriet, griff Netanjahu, der damals Finanzminister war, zu harten Strukturreformen. Während der Staat für Verteidigung, den Bau von Siedlungen und der Grenzmauern Unsummen ausgab, wurden die Sozialausgaben drastisch gesenkt. Jede fünfte Familie lebt heute unterhalb der Armutsgrenze; Frauen und Kinder leiden am meisten unter der Demontage des Sozialstaats: Nur noch 20 Prozent der 500 000 Kleinkinder unter drei Jahren besuchen eine öffentliche Kindertagesstätte. Die Familienbeihilfen wurden stark gekürzt, vor allem für Alleinerziehende zur Aufstockung von Einkünften aus Teilzeitarbeit: 81 Prozent von ihnen gehen arbeiten, ein Viertel lebt unterhalb der Armutsgrenze. Und im öffentlichen Dienst wurden so viele Stellen gestrichen, dass 2013 nur noch 17 Prozent der berufstätigen Frauen beim Staat angestellt waren (Anfang der 1980er Jahre waren es 70 Prozent).

Warum hat die starke israelische Frauenbewegung nicht auch dagegen protestiert? „Die ersten Frauenrechtlerinnen waren vor allem Aschkenasim aus der Mittel- und Oberschicht“, erklärt Henriette Dahan-Kalev, Professorin für Gender Studies an der Ben-Gurion-Universität in Beer-Scheva. „Ihre großen Protagonistinnen waren Frauen und Töchter der militärischen und politischen Elite, wie Yael Dajan, die Tochter von Mosche Dajan. Sie waren oft in der Friedensbewegung aktiv und interessierten sich eher für die Palästinenserinnen als für die sozialen Probleme der Mizrachim, die immerhin die Hälfte der Bevölkerung ausmachen und immer unter dem Rassismus und Paternalismus der aschkenasischen Elite gelitten haben“, erzählt Dahan-Kalev. Sie ist Mitglied der 1999 von Mizrachi-Feministinnen gegründeten Frauenrechtsorganisation Achoti („Meine Schwester“), die sich für die Rechte der Palästinenserinnen, Beduininnen, Äthiopierinnen und anderer afrikanischer Migrantinnen einsetzt.

Vicki Knafo, eine alleinerziehende Mizrachi aus der Arbeiterstadt Mitzpe Ramon, führte 2003 die Proteste gegen die Kürzungen an. Als Knafo erfuhr, dass die Beihilfe zu ihrem Teilzeitgehalt als Köchin praktisch halbiert werden sollte, machte sie sich auf einen 200-Kilometer-Marsch nach Jerusalem, um bei Benjamin Netanjahu höchstpersönlich zu intervenieren. „Die aschkenasischen Frauen haben Zeit, sich um Gleichberechtigung in der Religion zu kümmern, dass sie Rabbinerinnen werden können und so etwas. Aber wir kämpfen immer noch um Ausbildungsmöglichkeiten, Jobs, Wohnungen und korrekte Unterstützung.“

Wichtiger als alle sozialen und feministischen Anliegen ist in Israel das Thema Sicherheit. „Solange Israel eine militaristische, ethnizistische und koloniale Macht ist, die sich in einem semipermanenten Kriegszustand befindet, wird die Sicherheit immer zuerst kommen“, befindet Revital Madar, eine Doktorandin in Cultural Studies. Diese Bunkermentalität wird offensichtlich, wenn es um das Wohl von Frauen und das Prestige der Armee geht. Sexuelle Gewalt in der Armee wird selten geahndet. Und wenn es doch dazu kommt, wie in dem Fall von Ofek Buchris, der 2016 von zwei Zeitsoldatinnen der Vergewaltigung beschuldigt worden war, hält sich die Strafe in Grenzen: Buchris wurde von einem Militärgericht vom Brigadegeneral zum Oberst degradiert und für sieben Monate suspendiert. Sein ehemaliger Vorgesetzter, Generalmajor a. D. Gershon Hacohen, entblödete sich nicht, ihn mit König David zu vergleichen: „Ich halte es mit der Bibel. Die Geschichte mit Bathseba hat David auch nicht geschadet.“2 Buchris, der sich 2002 bei der Operation „Schutzschild“ im Westjordanland hervorgetan hatte, gilt als Nationalheld.

Wegen der terroristischen Bedrohung besitzen viele Israelis eine Waffe. Zwischen 2002 und 2013 wurden 33 Menschen, davon 18 Frauen, von Familienangehörigen erschossen. Der feministischen Kampagne „waffenfreie Küchentische“ ist es zu verdanken, dass 2013 ein Gesetz erlassen wurde, das das Tragen von Waffen im häuslichen Bereich verbietet. Seither gab es keine Todesfälle mehr. Erst als bei der sogenannten Messerstecher-Intifada im Herbst 2015 über mehrere Wochen fast täglich meist minderjährige Palästinenser mitten auf der Straße mit Messern auf Passanten losgingen, riet die israelische Regierung zur privaten Bewaffnung, und im März 2016 wurde das Waffengesetz wieder gelockert.

Besonders gefährdet sind Israels Palästinenserinnen. Sie stellen 10 Prozent der Gesamtbevölkerung und ein Viertel der Frauen, die zwischen 2009 und 2013 von ihren Ehemännern umgebracht wurden. Die Palästinenserinnen, die 1994 die Frauenorganisa­tion al-Fanar („Leuchtturm“) ins Leben riefen, um das Tabu der Ehrenmorde zu brechen, wurden als Verräterinnen gebrandmarkt.

Unabhängig von ihrer Herkunft machen alle Frauen die Erfahrung, dass häusliche Gewalt, sexuelle Belästigung und soziale Nöte als sekundär abgehandelt werden. Die Medien berichteten nur so lange über den Protestmarsch von Vicki Knafo, bis ein palästinensisches Selbstmordattentat wieder die Schlagzeilen beherrschte. Letztlich blieb ihr Engagement für die Belange alleinerziehender Mütter erfolglos.

„Es ist kein Zufall, dass die rechtlichen Fortschritte für Frauen in die Zeit der Oslo-Friedensverhandlungen und einer gewissen Entmilitarisierung der Gesellschaft fielen. Da drehte sich noch nicht alles um das Thema Sicherheit“, meint die 67-jährige Friedensaktivistin Hannah Safran. Emanzipation und der Kampf gegen die Besatzung sind für viele israelische Feministinnen untrennbar. Als ihr Sohn seinen Militärdienst leisten wollte, kündigte Safran damals in einer Kolumne an, sie werde seine Uniform nicht waschen.

1 Siehe dazu Yael Ettinger, „Mehr als Religion“, in: Edition Le Monde diplomatique, Nr. 21, „Israel und Palästina“, Berlin (Taz Verlag) 2017.

2 Siehe Gili Cohen, „Retired IDF General cites bible in defense of Officer accused of Rape“, Haaretz, 23. Juli 2016. In der biblischen Erzählung macht David die verheiratete Batsheba zu seiner Geliebten und schickt ihren Mann an die vorderste Front.

Aus dem Französischen von Uta Rüenauver

Laura Raim ist Journalistin.

Le Monde diplomatique vom 11.01.2018, von Laura Raim