11.01.2018

Schwarz und britisch

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Schwarz und britisch

von Sadiah Qureshi

„Taste in High Life“ (1746): satirische Radierung von William Hogarth
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Als die US-Historikerin Gretchen Gerzina Anfang der 1990er Jahre in einer Londoner Buchhandlung Peter Fryers „Staying Power: The History of Black People in Britain“ suchte, sagte ihr der Buchhändler, den sie um Hilfe bat: „Madam, vor 1945 gab es keine Schwarzen in England.“ Der britisch-nigerianische Historiker David Olusoga hingegen weist nach, dass es in Großbritannien seit mehr als 2000 Jahren Menschen gibt, die als Schwarze eingestuft wurden.1

Schon im dritten Jahrhundert gehörten Soldaten aus Nordafrika zur römischen Besatzungsarmee auf den Britischen Inseln: In Aballava am westlichen Ende des Hadrianswalls unweit des Solway Firth waren „aurelianische Mohren“ stationiert. Und im vierten Jahrhundert lebten offenbar in York etliche Menschen nordafrikanischer Herkunft wie die „Ivory Bangle Lady“, die mit Armreifen aus Whitby-Gagat und Elfenbein in einem Steinsarkophag bestattet worden war. Kürzlich erst identifizierte man ein fast vollständig erhaltenes Skelett, das in einer Kiste mit dem Etikett „Beachy Head“ im Eastbourner Museum gefunden wurde, als das einer Frau aus Subsahara-Afrika. Sie hat zwischen 125 und 245 n. Chr. gelebt und ist die erste bekannte schwarze Britin.

Im 16. Jahrhundert lebten mehr als 300 Schwarze auf der Insel. Viele kamen von iberischen Sklavenhändlerschiffen, die auf dem Weg zum amerikanischen Kontinent von englischen oder schottischen Freibeutern gekapert worden waren. Meist arbeiteten sie als Diener in London oder in Hafenstädten an der englischen Südküste. Einer von ihnen, John Blanke, wurde sogar Trompeter am englischen Hof. Er spielte sowohl 1509 beim Begräbnis Heinrichs II. als auch bei der Krönung Heinrichs VIII. 1512 heiratete Blanke, vermutlich eine weiße Engländerin. Er ist der erste schwarze Brite, von dem wir ein Konterfei haben, weil er in der Turnierrolle von Westminster aus dem Jahr 1511 abgebildet ist – auf den zahlreichen anderen Darstellungen des Hofs von Heinrich VIII. fehlt er bezeichnenderweise.

200 Jahre später bestand die schwarze Bevölkerung Großbritan­niens hauptsächlich aus Seeleuten, Straßenhändlern, Dienern und Sklaven. Während Zeitgenossen ihre Zahl auf 3000 bis 4000 schätzten, gehen Historiker von etwa 10 000 bis 15 000 aus. Die meisten wohnten weiterhin in London – und waren männlich, da im atlantischen Sklavenhandel Männer bevorzugt wurden. In Nelsons Flotte dienten 18 in Afrika und 123 in Westindien geborene Seeleute. In Zeitungsanzeigen wurden Sklaven zum Verkauf angeboten oder entlaufene Sklaven gesucht. Von Letzteren hatten manche Glück und fanden Arbeit, andere gerieten ins Elend und mussten immer damit rechnen, eingefangen und auf die Plantagen der Neuen Welt deportiert zu werden.

Es gab aber auch andere Lebensläufe, wie die der beiden ehemaligen Sklaven Ottobah Cugoano und Olaudah Equiano, die sich für die Abschaffung der Sklaverei einsetzten und erfolgreiche Bücher über ihre Erfahrungen schrieben. Ihren gesellschaftlichen Aufstieg verdankten sie dem seltenen Umstand, dass sie hochgebildet und frei waren.

Viele schwarze Männer heirateten weiße Engländerinnen, trotz der Hetze gegen diese gemischten Ehen. Die Kinder aus diesen Ehen heirateten ihrerseits auch oft Weiße, assimilierten sich, und ein paar Generationen später verstanden sich die meisten als weiß. Das erklärt zumindest teilweise die geringere Sichtbarkeit von Schwarzen in Großbritannien im 19. Jahrhundert und warum so mancher heutige Brite von seiner schwarzen Herkunft nichts weiß.

1807 wurde der britische Sklavenhandel verboten. Vom Besitz von Sklaven profitierten einige Briten aber noch, bis die Sklaverei in der Karibik, auf Mauritius und am südafrikanischen Kap 1833 abgeschafft wurde. Die Freigelassenen erhielten keinerlei Entschädigung, während den rund 46 000 Sklavenhaltern „für den Verlust ihres rechtmäßigen Eigentums“ insgesamt 20 Millionen Pfund gezahlt wurden, in heutigem Geld circa 17 Milliarden.

John Gladstone, der Vater des Premierministers, bekam die größte Summe: 105 769 Pfund für den Verlust von 2508 Sklaven. Wer wissen möchte, ob die eigenen Vorfahren auch einen Anteil ergattert haben, kann das bei „Legacies of British Slave-Ownership“ mit einem Mausklick herausfinden. Diese Onlinedatenbank des University College London stützt sich auf die neuesten Forschungen, die immer wieder die These bestätigen, dass der durch die Sklaverei generierte Reichtum wesentlich zur Industrialisierung im 19. Jahrhundert und damit zur Umgestaltung der britischen Kultur und Gesellschaft beigetragen hat.

Im viktorianischen Zeitalter waren schwarze Menschen kein unüblicher Anblick in London. Gelegentlich wurden sie von Fremden angehalten und nach ihrer Geschichte gefragt. In Theatern, Museen, auf Ausstellungen und überhaupt bei den internationalen Schauen, die auf die Weltausstellung von 1851 folgten, führten afrikanische Männer, Frauen und Kinder vorgeblich authentische Lieder, Tänze und Zeremonien vor. Viele Zuschauer betrachteten die Darsteller, die sie für „unzivilisiert“ hielten, mit einer Mischung aus Abscheu und Faszination; andere waren überrascht von deren geistigen und körperlichen Fähigkeiten. Kritiker verurteilten die Veranstaltungen als legale Sklaverei – wodurch sich die schaulustigen Massen jedoch nicht abhalten ließen.

In „Savage South Africa“ im Earl’s Court Theatre spielten 1899 mehr als 200 Afrikaner Szenen aus den Matabelekriegen 1893 und 1896 nach. Die Ankunft der Schauspieler im Hafen von Southampton sowie eine Schlachtszene sind in Filmen festgehalten, die zu den ersten gehören, auf denen Schwarze zu sehen sind. Der berühmteste Darsteller, Peter Lobengula, angeblich der Sohn König Lobengulas von Matabeleland (heute ein Teil Simbabwes), erregte durch seine Heirat mit einer Weißen namens Kitty Jewell große Aufmerksamkeit. Die Minstrel Shows, die das stereotype Bild des naiven, immerzu singenden, fröhlichen Schwarzen zeichneten, tourten durch Großbritannien und schufen ein Genre, das sogar noch britischen Fernsehzuschauern bis 1978 als leichte Unterhaltung geboten wurde.

Am 12. August 1914 feuerte der ghanaische Obergefreite Alhaji Grunshi der britischen West African Frontier Force in Togo den ersten Schuss des Ersten Weltkriegs ab. Viele tausend afrikanische und westindische Männer kämpften wie er aufseiten der Alliierten.2 Als deren Verluste immer größer wurden, wurde der Beitrag der Kolonien immer wichtiger. Major Darnley Stuart-Stephens rief nach einer „schwarzen Millionenarmee“ und fand die Unterstützung Churchills, der das Urteil künftiger Historiker fürchtete, „Großbritannien sei zu einem unfertigen Frieden gezwungen worden, weil es Afrika vergessen“ hätte.

Im weiteren Kriegsverlauf wurden schwarze Freiwillige in die zwölf Bataillone des Britisch-Westindien-Regiments aufgenommen, das bis zum Schluss 397 Offiziere und 15 204 Soldaten hatte. 1916 wurden das dritte und vierte Bataillon nach Frankreich entsandt und vor allem für die Logistik eingesetzt; andere Bataillone kämpften in Afrika. Als aber am 19. Juli 1919 zum Gedenken an das Kriegsende 15 000 Soldaten durch London paradierten, durften die westindischen und schwarzen afrikanischen Kriegsteilnehmer – alles Freiwillige, nicht Mobilisierte wie viele der weißen britischen Soldaten –nicht mitmarschieren. Damals lebten ungefähr 20 000 Schwarze in Großbritannien, oft in Hafenstädten. Einige waren gerade erst angekommen, andere die Nachkommen schwarzer Briten.

1944 war ein Jahr, in dem sich wegen der 150 000 afroamerikanischen GIs besonders viele Schwarze in Großbritannien aufhielten. Die weißen US-Soldaten taten sich schwer damit, dass die Briten die Rassentrennung nicht sehr ernst nahmen. In Bristol brachte eine Gastwirtin weiße US-Amerikaner gegen sich auf, weil sie Afroamerikaner von gleich zu gleich behandelte. „Ihr Geld ist genauso gut wie eures“, konterte sie, als ein weißer GI sich beschwerte. „Und wir finden es einfach netter mit ihnen als mit euch.“ Vielleicht spricht das für die Toleranz der weißen Briten – aber die tadellosen Manieren der Afroamerikaner, die ihnen so gefielen, waren oft Teil einer Überlebensstrategie.

Im Juni 1948 brachte die „Empire Windrush“ 492 Westinder aus Kingston auf Jamaika nach Tilbury in Essex. Viele der Passagiere, britische Staatsbürger mit britischen Pässen, hatten im Zweiten Weltkrieg gedient und kamen nach Großbritannien, weil sie Arbeit suchten. Die Zahl dieser Migranten blieb relativ konstant bei 1000 bis 2000 im Jahr, bis die USA 1952 die Immigration aus Westindien rigoros begrenzten. Zwischen 1953 und 1959 kamen dann insgesamt 159 000 Migranten nach Großbritannien und 1960/61 weitere 194 000. Viele fanden Arbeit in der Industrie, den Streitkräften und im Gesundheitswesen.

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts waren die Einwanderungsgesetze restriktiver und die Grenzen undurchlässiger geworden. Angesichts der Ankunft tausender Juden, die vor den Pogromen im zaristischen Russland flüchteten, regelte Großbritannien die Zuwanderung erstmals im Jahr 1905 durch ein Ausländergesetz.

Der British Nationality and Status of Aliens Act legte 1914 dann genauer fest, wer erwünscht war und wer nicht. Von nun an galt der Status eines „von Geburt britischen Staatsbürgers“ für all jene, die „innerhalb der Dominions Seiner Majestät“ zur Welt gekommen und „Ihm zur Treue verpflichtet“ waren, sowie für Personen, die zwar außerhalb der Dominions geboren waren, deren Väter aber zum Zeitpunkt der Geburt britische Untertanen waren.

Damit war Großbritannien im Prinzip offen für alle Bewohner des Empire. Das waren nach offiziellen Angaben 354 Millionen im Jahr 1901 und zehn Jahre später 383 Millionen. Nachdem Dominions wie Kanada ihre eigene Staatsbürgerschaft eingeführt hatten, machte der British Nationality Act von 1948 alle, die als britische Staatsangehörige galten, zu Bürgern des Commonwealth und der Kolonien mit dem Recht, nach Großbritannien einzureisen und sich dort niederzulassen. Hauptzweck war, weißen Bürgern Freizügigkeit zwischen Großbritannien und den „alten Dominions“ Australien, Kanada, Neuseeland und Südafrika zu gewähren. Die Hoffnungen, dass viele Siedler ins „Mutterland“ zurückkehren würden, erfüllten sich allerdings nicht.

Bald stellte sich nämlich heraus, dass vor allem Migranten von den Westindischen Inseln und aus Südasien ihr Einwanderungsrecht in Anspruch nahmen. Ihre Ankunft löste Verwunderung und Angst aus, während weiße europäische Immigranten willkommen geheißen wurden, weil Arbeitskräftemangel herrschte. Aus Furcht vor möglichen Spannungen durch den Zustrom „farbiger Arbeiter“ erwog Premierminister Winston Churchill 1954 ein Gesetz, das die Ausweisung britischer Staatsangehörige aus Übersee erleichtern würde, sofern diese wegen schwerer Straftaten verurteilt oder abhängig von staatlichen Leistungen waren. 1955 erklärte er dem Kabinett, „Haltet England weiß“ sei ein guter Slogan.

Zur selben Zeit beschrieb der Soziologe Anthony H. Richmond drei Einstellungen der Briten gegenüber Schwarzen: extrem vorurteilsbeladen, leicht vorurteilsbeladen und tolerant. Die meisten Menschen hielten, so sein Fazit, andere für vorurteilsbeladener als sich selbst und schrieben diskriminierendes, auf Vorurteilen beruhendes Verhalten dem Bedürfnis zu, Rücksicht auf die Meinung anderer zu nehmen.3 Diese seltsame weiße Rücksichtnahme führte dazu, dass die Verantwortung geleugnet wurde und der Rassismus fortbestehen konnte – da mochten noch so sehr beteuert werden, dass Einwanderung kein Problem für sie sei. Viele Politiker verlangten Gesetze zur Handhabung des „Rassenproblems“ und redeten davon, dass Großbritannien „überschwemmt“ werde.

Der Commonwealth Immigrants Act von 1962 verpflichtete Bürger des Commonwealth, die keinen vom Vereinigten Königreich ausgestellten Pass besaßen, eine unbefristete Arbeitserlaubnis zu beantragen, aber die gab es nur nach bestimmten Quoten. Bis dahin hatte ein britischer Pass, ob von der Regierung im Mutterland oder in einer Kolonie ausgestellt, ausgereicht. Die neuen Regeln diskriminierten implizit auf rassischer Grundlage. Vor dem Inkrafttreten des neuen Gesetzes schoss 1961 die Zahl der Einwanderer noch einmal in die Höhe.

1968 wurden die Einschränkungen noch einmal verschärft. Nun mussten auch Migranten, deren Eltern oder Großeltern nicht in Großbritannien geboren oder keine britischen Staatsangehörigen waren, eine Arbeitserlaubnis beantragen. Diese „Großvaterklausel“ stellte die weiße Blutsverwandtschaft über die mit der Staatsbürgerschaft verbundenen Rechte. Mit dem Einwanderungsgesetz von 1971 wurde generell nur noch befristet eine Arbeitserlaubnis erteilt und das automatische Recht von Commonwealth-Bürgern, im Vereinigten Königreich zu leben, ganz aufgehoben.

Politiker behaupten oft, es sei nicht per se rassistisch, Einwanderung für ein Problem zu halten. Mag sein. Doch schon ein kurzer Blick auf die Geschichte zeigt, dass die Einwanderungsgesetze, mit denen die Freiheiten der Commonwealth-Bürger aus der Karibik, Afrika und Südasien mehr und mehr eingeschränkt wurden, in Reak­tion auf rassistische Ängste und Vorbehalte entstanden, die so alt sind wie die Einwanderung selbst.

Die Lebensberichte und Erinnerungen von Migranten sind gezeichnet von Enttäuschung und Frustration: Wohnung und Arbeit zu finden war oft schwierig. Immerhin verbot 1965 der Race Relations Act jede Diskriminierung „aufgrund von Hautfarbe, Rasse, ethnischer oder nationaler Herkunft“ und stellte die Anstiftung zu Rassenhass unter Strafe. Ab 1968 durften niemandem aufgrund seiner Rasse oder Hautfarbe Wohnung und Arbeit verwehrt werden.

Gesetze gegen Einwanderung, Gesetze gegen Diskriminierung

Im selben Jahr hielt der umstrittene konservative Parlamentarier Enoch Powell seine berüchtigte und von vielen bejubelte „Ströme von Blut“-Rede, in der er seine Zuhörerschaft vor den Folgen ungebremster Zuwanderung aus den Commonwealth-Ländern nach Großbritannien warnte. Sein flammendes Plädoyer für strengere Einwanderungsregelungen einschließlich Rückführung in die Herkunftsländer – angeblich zur Verhinderung von Gewaltverbrechen – führte allerdings mitnichten zu einer Anklage wegen Anstiftung zum Rassenhass. 1976 untersagte ein neues Gesetz jegliche rassistisch motivierte Diskriminierung.

Seit Jahrzehnten entdecken Historiker, Archivare, Archäologen und Aktivisten in Kirchenbüchern, Gerichtsakten, privaten Aufzeichnungen, Kunstwerken und andernorts Einzelheiten über das Leben von Schwarzen in Großbritannien. Und doch bleiben diese Entdeckungen oft eine Sache für Experten. Da Schwarze in den historischen Texten und Theaterstücken der Tudor-, der georgianischen, viktorianischen und edwardianischen Zeit praktisch nicht vorkommen, also vom späten 15. bis zum frühen 20. Jahrhundert, ist die in den historischen Debatten verbreitete Ignoranz kaum verwunderlich.

Der Konservative Michael Gove wollte in seiner Zeit als Bildungsminister (2010–2014) die Lehrpläne für den Geschichtsunterricht umkrempeln, mit mehr Betonung auf Fortschritt und britischer Größe. In seiner elitären Vorstellung von der britischen Geschichte spielten Frauen, die Arbeiterklasse und Nichtweiße keine nennenswerte Rolle. Als von allen möglichen Seiten empörte Reaktionen kamen, wurden die Pläne schnell revidiert.

Der Historiker David Olusoga ist britisch-nigerianisch. Er ist im Nordosten Englands während der Rassenspannungen der 1970er und 1980er Jahre aufgewachsen und hat ebenso wie seine Angehörigen und andere ­People of Color viele Beleidigungen und Belästigungen erlebt. Er berichtet, wie ein Ziegelstein mit einem Zettel mit der Aufforderung „zurückzugehen“, durchs Wohnzimmerfenster seiner Familie flog. Sie wurden in eine Notunterkunft ausquartiert, und ihr leerstehendes Haus wurde mit einem Hakenkreuz und dem Schriftzug „Hier herrscht die National Front“ beschmiert.

Auch heute werden wieder Forderungen laut wie „Geht nach Hause“. Vor über vier Jahren, als Theresa May Innenministerin war, führte ihr Ministerium eine Kampagne durch, die Menschen, die illegal in Groß­bri­tan­nien lebten, Angst machen und sie zum Verlassen des Landes bewegen sollte. Große weiße Lieferwagen fuhren Plakate durchs Land mit der Aufschrift: „Illegal hier? Dann geh nach Hause oder ins Gefängnis.“

Bei vielen Nichtweißen schwand seit den 1990ern anscheinend langsam das Gefühl, nicht dazuzugehören. Heute bezeichnen sich viele von ihnen selbstbewusst als schwarze Briten. Und doch müssen sie sich immer wieder die Frage gefallen lassen: „Wo kommst du her?“ Ein einfaches „von hier“ als Antwort akzeptieren die Fragenden oft nicht, sondern wollen als Nächstes wissen: „Nein, wo kommst du wirklich her?“

Im Januar 2017 beschrieb Theresa May in einer Rede, in der sie ihren Plan für den Brexit darlegte, die Geschichte und Kultur Großbritanniens als „zutiefst internationalistisch“. Um den Schaden zu begrenzen, der mit dem Austritt ihres Landes aus der EU entsteht, hofft sie, neue Handelsabkommen mit den Commonwealth-Staaten zu schließen, ein Vorhaben, das schon spöttisch „Empire 2.0“ genannt wird. Fast sechzig Jahre nach dem ersten Commonwealth Immigration Act überlegt die Regierung wieder, wem man jetzt, da Artikel 50 des Lissaboner Vertrags, der den Austritt eines Mitglieds regelt, wirksam wird, das Aufenthaltsrecht entziehen könnte.

Letztes Jahr fuhr eine stille, freundliche südasiatische Frau mittleren Alters wie stets seit mehr als zwanzig Jahren mit dem Bus nach Hause. Plötzlich schrie eine ältere weiße Frau sie an, sie solle sich nach Hause scheren, und zeterte, wie sehr sich ihr Land verändert habe. Niemand griff ein, kein Mensch berichtete darüber, auch nicht online. Die beschimpfte Frau saß da und schwieg. Zu Hause erzählte sie tagelang nichts davon. Irgendwann erwähnte sie den Vorfall doch – bei einem Gespräch über schlechte Manieren in Bussen und Straßenbahnen. Ich bin ihre älteste Tochter, und ich mache mir Sorgen darüber, wann ihr wieder so etwas passiert. Wir leben in Brexit-Großbritan­nien, Politiker jeglicher Couleur biedern sich bei den Leuten an, die Stimmung gegen Einwanderer machen, und es wird wieder passieren.

1 David Olusoga, „Black and British: A Forgotten History“, London (Macmillan) 2016.

2 Das Kriegsministerium hatte die Schaffung eines westindischen Regiments zunächst abgelehnt, weil es befürchtete, die Rassentrennung in den Kolonien könne unterminiert werden, wenn schwarze und weiße Truppen nebeneinander kämpfen. Auf eine Interven­tion George V. hin gab das Ministerium schließlich nach.

3 Anthony H. Richmond, „The Colour Problem: A Study of Racial Relations“, London (Penguin Books) 1955.

Aus dem Englischen von Sigrid Ruschmeier

Sadiah Qureshi lehrt Geschichte in Birmingham und schrieb unter anderem „Exhibitions, Empire, and Anthropology in Nineteenth-Century Britain“, Chicago (The University of Chicago Press) 2011.

© London Review of Books; für die deutsche Übersetzung Le Monde diplomatique, Berlin

Le Monde diplomatique vom 11.01.2018, von Sadiah Qureshi